"Ein Spaß zum / Todtlachen!"

Bemerkungen zu einer Neu-Edition von Kleists Erstling "Die Familie Schroffenstein" im Rahmen der Brandenburger Ausgabe seiner Texte

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dem Rezensent der von Friedrich Nicolai herausgegebenen, zur Berliner Spätaufklärung gehörenden 'Neuen Allgemeinen Deutschen Bibliothek', Ernst Theodor Langer, einstiger Studienfreund Goethes und Nachfolger Lessings als Bibliothekar in Wolfenbüttel, war offenkundig nicht zum Lachen zumute, als er im Dezember 1803 Heinrich von Kleists Erstling, "Die Familie Schroffenstein", zu besprechen hatte, hob er an dem "Versuchstück" doch primär die Jugendlichkeit hervor und entschuldigte mit ihr fast schon die "Überladungen, Exzentritäten und übrigen Fehler in Plan und Darstellung, woran es dem Stück [...] nicht mangelt". Der unbekannte Verfasser verdiene allerdings, trotz der inzwischen Mode gewordenen Verstöße gegen die in der aristotelischen Vor-Schrift festgesetzte Einheit der Zeit und des Ortes, in Hinsicht auf die Handlung "das nicht kleine Lob, nirgends seinen Hauptzweck aus dem Gesichte verloren zu haben". Als Advokat der poetischen Tradition brachte er seine Hoffnung zum Ausdruck, der Verfasser werde künftig die "Verstöße gegen Natur, Geschmack und Schicklichkeit" korrigieren und seine Phantasie zügeln: "Seine Einbildungskraft kann er unmöglich ein Haar breit den Zügel weiter schießen lassen, ohne ins Ungenießbare zu stürzen. Jeder Schritt also zurück, wird für die Kunst, und für ihn selbst Gewinn sein; da er denn wohl fühlen wird, daß auch im geregelten Raum sich noch frei genug atmen läßt".

Schon bei seinem ersten Auftritt auf der Bühne der Literaturgeschichte hat Kleists literarische Ex-zentrik die Grenzen der konventionellen Ästhetik gesprengt und die verständnislosen Kritiker auf den Plan gerufen, die dem namenlosen Anfänger zwar noch nachsehen, was sie dem eingeführten Dichter später nicht so leicht verzeihen konnten: die Bedingungslosigkeit, mit der Kleist gegen die Regeln der normativen Poetik, vor allem gegen die Einheiten von Raum und Zeit, verstößt und die stabile Repräsentationslogik aufbricht.

Doch nicht nur Struktur und Inhalt des Dramas schlugen Kapriolen, auch seine Genese verlief keineswegs linear. Von Kleist selbst sind keine eindeutigen Aussagen über die Entstehung der "Familie Schroffenstein" überliefert. Während der Erstdruck des Textes durch Heinrich Geßner in Bern und Zürich spätestens im Frühjahr 1803, womöglich aber auch schon im November 1802 erfolgte, wurde in der Forschung immer wieder spekuliert, die Anfänge der Arbeit könnten auf Kleists unter keinem guten Stern stehenden Paris-Aufenthalt von Juli bis November 1801 datiert werden. Sicher war man sich lediglich darin, dass vor seinem Aufbruch zur Reise nach Paris (am 15. April 1801) nach keine diesbezüglichen Pläne existierten. Sofern man bereit ist, eine ungenaue Andeutung Kleists schon auf den Komplex 'Thierrez-Ghonorez-Schroffenstein' zu beziehen, dann lag die in einem Brief vom 10. Oktober 1801 an seine Verlobte Wilhelmine von Zenge "Ideal" genannte Grundidee dazu bereits zu dieser Zeit vor. Auf der Suche nach Auswegen aus seiner endlosen Geldkrise spielt Kleist hier auf die Möglichkeit einträglichen Bücherschreibens an, um sie allerdings auch gleich wieder zu dementieren: "Aber Bücherschreiben für Geld - o nichts davon. Ich habe mir, da ich unter den Menschen in dieser Stadt so wenig für mein Bedürfnis finde, in einsamer Stunde (denn ich gehe wenig aus) ein Ideal ausgearbeitet; aber ich begreife nicht, wie ein Dichter das Kind seiner Liebe einem so rohen Haufen, wie die Menschern sind, übergeben kann. Bastarde nennen sie es. Doch wollte ich wohl in das Gewölbe führen, wo ich mein Kind, wie eine vestalische Priesterin das ihrige, heimlich aufbewahre bei dem Schein der Lampe". Ob unter "Ideal" ein konkreter Text oder nicht vielmehr die Beschäftigung mit einer Poetik zu verstehen ist, lässt sich nicht eindeutig klären.

Viel eher ist bei der Datierung der Arbeitsanfänge auf eine Aussage seiner Schwester Ulrike zu rekurrieren, die Kleist nach Paris begleitet und sich vor seiner Weiterreise in die Schweiz von ihm getrennt hatte. Ihr zufolge hat Kleist sein Trauerspiel während des Frühsommers 1802 in der Schweiz geschrieben, "wo er sich auf einer kleinen einsamen Insel bei Thun auf der Aar niederließ, seine Familie Schroffenstein auszurichten". Kleist war am 27. Dezember 1801 nach Bern gekommen, wo er mit dem schon anerkannten Schriftsteller Heinrich Zschokke, dem Sohn des gefeierten Dichters Christoph Martin Wieland, Ludwig Wieland, und dessen Schwager, dem Berner Buchhändler und Sohn des bekannten Idyllendichters Salomon Heinrich Geßner, einen literarischen Zirkel bildete, sich ab 1. April 1802 ein kleines Haus auf der so genannten Delosea-Insel in der Aare mietete und in dieser intellektuellen und ländlichen Idylle nicht nur die Anfänge des "Robert Guiskard" und des "Zerbrochnen Krugs" schrieb, sondern auch an der "Familie Schroffenstein" arbeitete, die zu dieser Zeit noch "Die Familie Ghonorez" hieß. Ulrike von Kleists Hinweis auf das "Ausrichten" des Dramas lässt aber durchaus vermuten, dass er eine (eventuell aus Thun im Februar 1802 mitgebrachte) Fassung erweiterte und verbesserte. Während eines Aufenthalts im Dezember 1802 bei Christoph Martin Wieland in Oßmannstedt, arbeitete Kleist unter Anleitung des berühmten Vaters seines Freundes an seinem dramatischen Erstling weiter, "ändert[e]", wie Wilhelm von Schütz in seinen "Biographischen Notizen über H. v. Kleist" (1817) mitgeteilt hat, "die Familie Schroffenstein, und versetzt[e] die Szenen". Durch diese Transposition der Szenen und Namen wurde aus der "Familie Ghonorez" schließlich die "Familie Schroffenstein".

Während es keinen überzeugenden Beleg für die Vermutung gibt, dass mit dem Szenar unter dem Titel "Die Familie Thierrez" die konzeptuelle Anlage für die "Familie Schroffenstein" bereits im Oktober 1801 vorlag, sprechen mehrere erhaltene (in der von Helmut Sembdner herausgegebenen Ausgabe der "Lebensspuren" nachzulesende) Dokumente dafür, dass Kleist den Entwurf im Sommer 1802 auf der Aare-Insel unter dem vorläufigen Titel "Die Familie Ghonorez" ausgearbeitet und im Januar/Februar 1802 in Oßmannstedt unter Mithilfe von Wieland in "Die Familie Schroffenstein" verwandelt hat, die dann im Frühjahr 1803 anonym im Druck erschien. Roland Reuß verweist in seinem editorischen Nachwort zu der von ihm in Zusammenarbeit mit Peter Staengle herausgegeben Ausgabe der "Familie Schroffenstein" im Rahmen der Brandenburger Kleist-Ausgabe darauf, dass eine Annonce im "Zürcherischen Intelligenz-Blatt" vom 30. November 1802, derzufolge die Züricher das Trauerspiel zum Preis von "8 a 16 Bazen" erwerben konnten, die Vermutung nahe legt, Kleists erste Buchpublikation habe bereits Ende November/Anfang Dezember 1802 vorgelegen. Geßners Druckerei in Bern war, wie aus dessen Brief an Zschokke vom 20. Oktober 1802 hervorgeht, während der politischen Wirren des Herbstes "[g]leich in den ersten Tagen" nach dem Einmarsch der föderalistischen Truppen (20. September 1802) versiegelt worden und erst nach Aufhebung dieser Maßnahmen einen Monat später wieder in der Lage, Bücher herzustellen. Angesichts der zahlreichen Druckfehler und sonstiger Ungenauigkeiten des Druckes, die durchaus auf eine rasche Herstellung des Satzes im November 1802 schließen lassen, ist davon auszugehen, dass Kleist an der uns vorliegenden endgültigen Gestalt des Erstdrucks nicht unmittelbar beteiligt war. Es dürfte jedoch als sicher gelten, dass es eine vom Dichter autorisierte (verloren gegangene) Fassung (Reinschrift) gab, die von seinen Freunden Wieland und Geßner für die Druckvorlage verwendet wurde.

Die gewohnt zuverlässige Edition von Kleists Trauerspiel im Rahmen der Brandenburger Kleist-Ausgabe zeichnet diesen verschlungenen und hochgradig spekulativen Entstehungsprozess der "Familie Schroffenstein" dadurch nach, dass sie den Text des Erstdrucks von 1802 (1803 auf dem Titelblatt) sowie ein Faksimile und die diplomatische Umschrift einer eigenhändigen Handschrift Kleists bietet. Diese Handschrift, die Reuß zu Recht als "das umfangreichste und, was die Aufschlüsse über Kleists Arbeitsweise anlangt, sicher interessanteste Arbeitsmanuskript, das von Kleist überliefert ist", wertet, befindet sich im Besitz der Staatsbibliothek zu Berlin. Als wichtigstes Ergebnis der an der Handschrift vorgenommenen Wasserzeichenanalyse hält Reuß fest, "daß Kleist ausschließlich Berner Papier verwendet hat, es mithin auszuschließen ist, daß das vorliegende Manuskript bereits in Paris begonnen wurde". Das Szenar "Die Familie Thierrez", die sich am Ende des Manuskripts befindet, liegt damit nicht so weit von der Aus- und Umarbeitung entfernt, wie dies noch Paul Hoffmann in seiner Edition der "Familie Ghonorez" (Berlin 1927) zu konstatieren glaubte. Als verschollen gelten muss jedoch ein weiteres Manuskript ("Kleists eigentliche Originalhandschrift von der Familie Schroffenstein"), von der Kleists Freund Rühle von Lilienstern gegenüber Karl Wilhelm Ferdinand Solger behauptete, dass es sich in seinem Besitz befände, wie Solger in einem Brief an Ludwig Tieck vom 6. Juli 1816 bemerkte.

In jedem Fall ist die holprige Entstehungsgeschichte immer wieder gerne auch auf den Inhalt des Trauerspiels appliziert worden. Der am 9. Januar 1804 in Graz uraufgeführten "Familie Schroffenstein" ist zunächst und reichlich Genialität bescheinigt worden. Erst als sich nach Kleists Selbstmord der Eindruck durchsetzte, dass der Dichter, wie Friedrich Schlegel an seinen Bruder August Wilhelm am 4. Januar 1812 schreibt, "nicht bloß in seinen Werken, sondern auch im Leben Tollheit für Genie genommen und beide verwechselt" hat, schien ein Paradigmenwechsel von "Genie" zur "Tollheit" stattgefunden zu haben. Angeregt durch Tiecks kühne Vermutung, die Widersprüche des Trauerspiels erlaubten, "eine seltsame Disharmonie, eine Krankheit vielleicht, im Geiste des Dichters anzunehmen", hat auch Friedrich Gottlob Zimmermann in den "Dramaturgischen Blättern für Hamburg" vom März 1822 in der "Familie Schroffenstein" ein Dokument geistiger Verwirrung gesehen: "Die klaren Kennzeichen dieser Geisteskrankheit, denn dafür wird sie mit Recht gehalten, sind schon in der Jugenddichtung, der Familie Schroffenstein, enthalten". Für den frühen Kleist-Herausgeber Julian Schmidt, der 1849 in den 'Grenzboten' Kleists Erstling "in einem wunderlichen Irrgarten der Mystik" sich verlaufen sieht, durchzieht "der latente Wahnsinn, der sein Leben vergiftete und ihn endlich zum Selbstmord trieb", das Gesamtwerk. Auch in den Folgejahren wurde die Rezeption der "Familie Schroffenstein" wiederholt unter den Aspekt geistiger Krankheit gestellt. Die Interpretation des Textes als pathologisches Dokument und seine konventionelle Zuordnung zur Gattung der Schicksalstragödie hat den Blick für das eigentliche Thema lange Zeit getrübt. Erst Hinrich C. Seebas ausführliche Analyse des Trauerspiels hat deutlich gemacht, dass es sich hierbei um eine psychologisch motivierte, aber sprach- und geschichtsphilosophisch ausgeführte Auseinandersetzung mit der Krise des Wahrheitsanspruchs von Sprache handelt, die von den Personen des Stücks als Identitätsverlust im Bild des Sünden-Falls erfahren und im Spiel des Rollentauschs für einen Moment aufgehoben wird: "Die Wiederherstellung der Natur in einem zweiten Paradies ist nur möglich in der äußersten, äußerst gefährdeten Künstlichkeit des Fiktionsspiels, nur im poetischen Mysterienspiel von der versöhnten Identität, nicht in der Wirklichkeit, die todbringend schon auf die Bühne der Minnegrotte dringt, um mit dem falschen Schein der Lüge den schönen Schein der Poesie zu zerstören".

Aber nicht nur im literaturwissenschaftlichen Diskurs konzentrierte man sich vornehmlich auf die Schlussszene und deutete diese als Kleists Modell der Identitätskrise und ihrer poetischen Aufhebung, sondern auch in der künstlerischen Bearbeitung. Dank der von Hans Neuenfels gestalteten Filmfassung der "Familie Schroffenstein" erreichte Kleists Trauerspiel erstmalig eine größere Öffentlichkeit. Neuenfels hat in einem - parallel dazu in dem von der 'edition theater' herausgegebenen Filmbuch (1984) - publizierten Aufsatz "Das Trauerspiel als existentieller Tatort" den Akut auf Probleme der Identität gelegt, der "Kleist in Die Familie Schroffenstein ein traumatisches Denkmal in der sensationellen Schlussszene [setzt], die Sigmund Freud das Wasser im Munde hätte zusammenlaufen lassen müssen. [...] Die Überprüfung der eigenen Fremdheit durch die andere Fremdheit, ist das möglich? [...] Kleist zeigt das Kennenlernen des eigenen wie des anderen Geschlechts nicht als homogenen, 'natürlichen' Prozeß, sondern als katastrophales Ende zweier zerrissener Menschen, atemlos, angstbesetzt, verzweifelt".

In dieser Paradoxie verzweifelter Wahrheitssuche, die an die Exzesse ungenügender Vernunft in der "Penthesilea" erinnert, liegt vermutlich auch ein Grund für das Unbehagen, das die "Familie Schroffenstein" so lange von größerer Aufmerksamkeit ausgeschlossen hat. Erst als das neue Interesse an der 'Dialektik der Aufklärung' die Nachtseiten der Vernunft und die verzweifelte Sinnlichkeit als Kehrseite der Ratio entdeckt hat, lag es nahe, in Kleists dramatischer Abrechnung mit den Schrecken der Fehlinterpretation das Dokument einer negativen Hermeneutik zu erkennen, in der so moderne Anliegen wie Identitätskrise und Sprachskepsis eine zentrale Rolle spielen. Wie in nahezu allen Texten Kleists thematisiert das Trauerspiel die alles überlagernde Erkenntniskrise als Problem der Benennung, da der Glaube an die Äquivalenz von Sprachzeichen und bezeichneter Wirklichkeit erschüttert ist. Unbegreiflich ist weniger die Wirklichkeit per se als der Wahrheitsanspruch der Aussage über sie, etwa wenn Sylvester insistiert: "so sag's mir einmal noch. Ist's wahr, / Ist's wirklich wahr?". Wenn man zu konstatieren hat, dass die Sprache zu den Sachen, von denen die Rede ist, in keinem stabilen Abbildungsverhältnis mehr steht, dann steht der fragwürdige Gebrauch der Rede bis hin zum "(Stillschweigen)" im Zentrum des Textes. In der "Familie Schroffenstein" führt der Text immer wieder vor, wie sich die Sprache des Misstrauens von der Wirklichkeit, auf die sie sich bezieht, so weit entfernt, dass sie eine imaginierte Gegenwelt, eine Par-Odie entwirft, in der die Logik der lückenlosen Entsprechung von Zeichen und Bezeichnetem noch zu stimmen scheint. Bereits in Kleists Erstling verweist die gewaltsame Aufkündigung des Repräsentations- und Wahrheitsaxioms, der spiegelbildlichen Entsprechung von Zeichen und Bezeichneten, die die Familie Schroffenstein als pervertiertes do, ut des-Prinzip in den Abgrund treibt, auf die Selbstzerstörung des mimetischen Prinzips in der Ästhetik. Die (Zeichen-)Gebilde der poetischen Fantasie sind ebenso wenig wie das "Gespenst des Mißtrauns" ein zuverlässiges Abbild der Wirklichkeit.

Roland Reuß hat in seinen im 15. Heft der "Brandenburger Kleist-Blätter" notierten "Aufzeichnungen zur Stellung der Rede in Kleists 'Die Familie Schroffenstein'" darauf hingewiesen, dass Kleist schon in seinem Erstling, "wie in der Konzentration eines Labors", "mit all jenen heillosen Problemen der Verständigung [experimentiert], deren Ausleuchtung die Produktion der folgenden Jahre bestimmen sollte - ohne daß es Kleist jemals eingefallen wäre, diese Problem 'lösen' zu wollen". Die "systematische Pathologie der Rede, die die Verlaufsform des Texts untergründig motiviert" ist auch nach Reuß als Par-Odie lesbar, und zwar sowohl auf den christlichen Kultus wie auch auf die Sprache der Tragödie bezogen. Demzufolge sind besonders die letzten Worte des irren Johann von entscheidendem Gewicht - die Absurdität der dramatischen Anlage ist in der Tat "ein Spaß zum / Todtlachen!". An verschiedenen Szenen des Trauerspiels erkennt Reuß zu Recht, dass Kommunikation "in ihrer äußersten Schwundstufe kritisch dar-, und d. h. bloßgestellt" wird: "Es ist, als wolle Kleists Text durch die absurde Redewendung mit allem Nachdruck die Abspaltung der Rede von der Intention des Handelnden exponieren und zugleich einen weiteren Einblick in das nur sich selbst (und ergo gar nichts) beglaubigende Spiel des dramatischen Dialogs geben". Im Zentrum von Kleists Text stehe daher das dreimal kurz hintereinander geäußerte "(Stillschweigen)", das jedoch nicht nur "ein 'defizienter Modus' der Rede" ist, sondern auch, "[i]n der Mitte stehend zwischen Abwesenheit und Äußerung und der potenziellen Fülle des Unausgesprochenen", "sowohl ein gemeinsames Wissen als auch ein Einverständnis mit quasi vertragsförmigem Charakter [umfasst]: Stillschweigen kann vereinbart, beobachtet und auch gebrochen werden. [...] Das Stillschweigen wird - lautlos - sprechend inmitten aller Räsonnements von Verdacht und Gegenverdacht". Als Problem entfaltet Kleists Trauerspiel die Möglichkeit, dass die teleologische Interpretation sich selbst immunisiert und damit unaufhebbar immanent bleibt: als Exempel eines in sich geschlossenen Verdachtssystems, das zum Wahnsystem mutiert und nur im "(Stillschweigen)" seine Mitte findet. Reuß' geäußerte Hoffnung, der Leser vermöge seine Gedankensplitter zur "Familie Schroffenstein" bitteschön mit Befremden zur Kenntnis nehmen, ist mutig und forsch formuliert, setzt sie doch immerhin voraus, dass Kleists Erstling aus seinem unverdienten Schattendasein qua lectio zunächst einmal befreit wird. Dann jedoch wäre Befremdung tatsächlich "nicht die schlechteste Wirkung".


Titelbild

Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe Bd. I/1: Die Familie Schroffenstein.
Herausgegeben von Roland Reuß in Zusammenarbeit mit Peter Staengle.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
558 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3878773307

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