Ein Kind kann sich nicht allein schützen

Waries Dirie über weibliche Genitalverstümmlung in Europa

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Prominent wurde Waries Dirie nicht nur als exotisches Model, das die Titelblätter der Hochglanzblätter der modernen Welt zierte, sondern auch als Autorin der Bestseller "Wüstenblume" (1998) und "Nomadentochter" (2001). Mit ihren Büchern bekannt wurde auch ihr Thema: die weibliche Genitalverstümmlung (FGM), unter der weltweit schätzungsweise 150 Millionen Frauen leiden. Täglich kommen etwa 6.000 weitere hinzu: Erwachsene Frauen, die vor der Heirat stehen ebenso wie junge Mädchen oder Säuglinge. Auch in Europa. Ihnen widmet sich Diries drittes Buch "Schmerzenskinder". Ebenso wie ihre früheren Bücher ist auch dieses sehr persönlich, sehr emotional. Immer bleibt Dirie nahe bei sich selbst und ihren eigenen Erfahrungen. So ist mit Hilfe der Co-Autorin Corinna Milborn ein lebendiges Buch entstanden, in das Informationen etwa über die Gesetzeslage und Rechtssprechung in den einzelnen europäischen Ländern oder über Opferzahlen von Genitalverstümmlungen fast unmerklich einfließen.

In Europa sind etwa 500.000 Frauen betroffen. Da bedarf es keiner weiteren Begründung mehr dafür, dass Genitalverstümmelung auch in der Alten Welt ein großes Problem ist, gegen das nachdrücklich vorgegangen werden muss. Nachdrücklich und vor allem dringlich! Denn auch in den EU-Staaten gehört die Genitalverstümmlung zum traurigen Alltag von Einwanderinnen aus patriarchalisch-archaischen Gesellschaften, die insbesondere deren bislang unversehrte Töchter bedroht. Und "[e]in Kind kann sich nicht allein schützen", wie die Autorin betont. Daher fordert Dirie von "alle[n] Frauen - nein, alle[n] Menschen", sich am "Kampf gegen diese frauenverachtende Praxis" zu beteiligen. Nicht nur AfrikanerInnen also, alle Menschen, auch EuropäerInnen, auch Deutsche! Es sei zwar "nicht verwunderlich, dass sich Afrikaner dagegen wehren, wenn Europäer für sie sprechen wollen, meint Dirie, doch sei die Verstümmelung weiblicher Genitalien "nicht das richtige Thema, um die Frage zu stellen, wer für wen sprechen kann".

Dirie berichtet nicht nur aus der Alpenrepublik Österreich, in deren Hauptstadt sie wohnt, sondern hat auch Frankreich, England, Holland und Deutschland bereist, wo sie zahllose Interviews mit Aktivistinnen gegen die Genitalverstümmelung, Angehörige von NGOs und Netzwerken, Rechtsanwältinnen und Ärztinnen führte. Nur zu oft bekam sie einander widerstreitende Ansichten darüber zu hören, wie am erfolgversprechendsten gegen die kulturelle Praxis der Verstümmelung vorgegangen werden kann, und wie Mädchen und Frauen am besten vor ihr bewahrt werden können. Sollen Eltern, welche die Genitalien ihrer Töchter verstümmeln ließen, mit Gefängnis bestraft werden? Beeinträchtigt die Strafandrohung die Aufklärungsarbeit? Wie ist am erfolgreichsten Überzeugungsarbeit zu leisten? Sollen Frauen nach der Geburt eines Kindes wieder zugenäht werden, wenn sie selbst es wünschen? Oft bezieht die Autorin selbst eindeutig Stellung, jedoch nicht immer. Jedenfalls aber wünscht sie sich, dass "alle FGM-Hilfsorganisationen endlich an einem Strang ziehen und sich auf gemeinsame Ziele einigen".

Bezieht Dirie Stellung, dann deutlich. So sind abwägende Urteile und Sichtweisen nicht immer ihre Sache. Manchmal bringt sie vielleicht gerade darum eine Problematik oder eine Erkenntnis auf den Punk. Etwa, wenn sie angesichts der vielfältigen und einander oft widersprechenden 'Argumente', die für die Genitalverstümmlung vorgebracht werden, konstatiert: "Egal, welche Gründe auch immer für FGM angeführt werden, im Grunde genommen geht es um Macht und Kontrolle."

Doch nicht in allen Fällen stößt Dirie so treffsicher zum Kern eines Problems vor. So reagiert sie etwa äußerst empört, als sie erfährt, dass berufsmäßigen Beschneiderinnen in einigen afrikanischen Gemeinden Geld und Arbeit angeboten werden, damit sie ihren bisherigen Broterwerb aufgeben. "Was für eine bodenlose Frechheit!" entrüstet sie sich. "Millionen Frauen in Afrika haben kein Einkommen, geschweige denn genug zu essen. Warum sollten gerade Beschneiderinnen belohnt werden, die so viele Mädchen umgebracht haben?" Natürlich kann man diese Empörung nachvollziehen. Eine akzeptable Antwort wäre vielleicht dennoch, dass dies die einzige Möglichkeit sein könnte zu verhindern, dass noch mehr Mädchen durch FGM verstümmelt oder gar getötet werden.

Bei aller Apodiktik sind Diries Urteile nicht immer frei von Widersprüchen. So konstatiert sie einmal, "dass es sich bei Genitalverstümmelung nicht um eine kulturelle Tradition, sondern um ein Verbrechen handelt"; erklärt aber an anderer Stelle, Genitalverstümmelung sei eine "tief verwurzelte Tradition". Auch legt sie ihre Worte nicht immer auf die Goldwaage, so dass ihr aufgrund einer schlechten Erfahrung auch schon mal eine rassisierende Verallgemeinerung entschlüpft: "Warum nur sind die Europäer so unsensibel und respektlos?"

Deutliche Worte findet Dirie nicht nur für die aus traditionelle Gründen durchgeführte Verstümmelung der Mädchen und Frauen aus ImmigrantInnen-Familien, sondern auch für die unter Europäerinnen um sich greifende Mode der "Designer-Vagina", die junge Frauen veranlasst, sich ihre Schamlippen 'korrigieren' und die Klitoris verkleinern zu lassen. "Afrikanische Frauen werden verstümmelt, europäische legen sich freiwillig unters Messer", bemerkt Dirie lapidar. In westlichen Ländern gäbe es offenbar ein Schönheitsideal für weibliche Genitalen, das dem afrikanischen gleicht: "Eine Frau soll optisch und anatomisch aussehen wie eine kleines Mädchen." Dahinter stecke die "Angst vor all dem, was eine reife Frau ausmacht". Darum solle ihre Sexualität eingeschränkt werden.

Wie in Diries Buch beschriebene Versuche mit 'Lockvögeln' zeigen, sind 'Schönheits'-Chirurgen im ach so zivilisierten Europa nicht nur zu Schamlippen-'Korrekturen' bereit, sondern selbst zu Klitorisentfernungen. Werden sie um diesen Eingriff gebeten, lehnen sie zwar zunächst ab. Jedoch zeigen sie sich kulturrelativistischen Argumenten gegenüber ebenso hilflos, wie dem Einwand einer Frau, sie könne schließlich selbst über ihren Körper bestimmen und sie wolle die Klitorisentfernung eben durchführen lassen. Diesem letzten Argument kann man - wenn alle medizinische und sonstige Aufklärung nichts fruchtet - zwar wirklich nichts mehr entgegenhalten. Dies heißt jedoch nicht, dass sich ein Arzt zum Erfüllungsgehilfen dieses fremd- oder vielleicht auch tatsächlich selbstbestimmten Wunsches machen muss.

Wie die chirurgischen Zurichtungen von Europäerinnen unter dem Zeichen der Mode zeigen, besteht für uns durchaus kein Anlass, dass wir uns wegen des grausamen Rituals der weiblichen Genitalverstümmelung über afrikanische Kulturen erheben. Dies kann allerdings nur ein Grund mehr sein, gemeinsam für das Ende beider einzutreten.


Titelbild

Waris Dirie: Schmerzenskinder.
Ullstein Verlag, Berlin 2005.
240 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3547710677

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