Zwischen postcolonial studies und Universalgeschichte

Zwei neue Publikationen zum europäischen Frühkolonialismus

Von Mathis LeibetsederRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mathis Leibetseder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Geisteswissenschaften sind von der Globalisierung eingeholt worden. Seit einigen Jahren schon befinden sich wissenschaftliche Richtungen wie die Kulturtransfer-, Migrations- und Reise(literatur)forschung sowie die Geschichte der internationalen Beziehungen im Aufwind. Davon profitiert auch die Erforschung des europäischen Kolonialismus und Imperialismus. Eine neuere Publikation betrachtet "die Geschichte von Imperialismus und Kolonialismus" sogar als eine "besonders wichtige Grundlage für Globalisierungsgeschichte" (Jürgen Osterhammel und Niels P. Petersson, Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen, München 2003). Das Interesse an diesen Themen spiegeln auch entsprechende Forschungsgruppen und Fachtagungen wider, wie zwei Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt beweisen.

"Berichten, Erzählen, Beherrschen. Wahrnehmung und Repräsentation in der frühen Kolonialgeschichte Europas" zeigt sich sehr stark den postcolonial studies verpflichtet und ist an der Schnittstelle von Literaturwissenschaften, Kunstgeschichte und Ethnologie angesiedelt. Eine besondere Stärke des Bands liegt darin, dass neben Texten immer wieder auch bildliche Quellen interpretiert werden. So beschreibt etwa die Kunsthistorikerin Anna Greve pointiert, wie die Bildtafeln von de Brys Reisesammlung den Eindruck einer fortschreitenden Europäisierbarkeit der Neuen Welt erwecken und europäischem Superioritätsstreben Ausdruck verleihen. Aber nicht nur die Graphiken de Brys, sondern auch andere Bildzeugnisse werden herangezogen. Viktoria Schmidt-Linsenhoff führt beispielsweise vor, wie der niederländische Maler Albert Eckhout auf seinen Brasilien-Bildern gegen die Sklaverei gerichtete Argumente visualisiert und dadurch einen "kolonialen Gegendiskurs" führt.

Einen weiteren Schwerpunkt des Bands bildet die Untersuchung von Texten außereuropäischer Verfasser. Natalie Zemon Davies möchte mit ihrer Untersuchung von vier Texten, die Erfahrungen im Rahmen von Kulturkontakten beschreiben, das Interpretationsschema von Transparenz vs. Opazität durchbrechen. Michael Harbsmeier erkundet die Bedeutung des Begriffs "Europa" in europäischen Reiseberichten des 16. Jahrhunderts und geht auf die Repräsentation des Kontinents in Berichten außereuropäischer Reisender ein. Jonathan Elmer diskutiert dagegen die Authentizitätsproblematik solcher Texte anhand von Olaudah Equianos Interesting Narrative.

Die Herausgeberinnen möchten mit ihrem Band jedoch nicht nur Spezialabhandlungen bieten, sondern auch theoretische Impulse. Als kontrovers zu diskutieren dürfte sich insbesondere der Beitrag von Hartwig Isernhagen erweisen. Isernhagen erläutert das Konzept des "middle ground", mit dessen Hilfe das in der Begegnungsgeschichte zwischen Europäern und den Indianern Nordamerikas oft bemühte Täter/Opfer-Schema überwunden werde. Angesichts der in diesem Band versammelten Beiträge wird man fragen dürfen, inwiefern ein solches Konzept außerhalb dieses Forschungsgebiets überhaupt benötigt wird, zeigen sich die Autoren - wie in der internationalen Forschung derzeit üblich - doch ohnehin schon bestrebt, Vielstimmigkeiten, Gegenläufigem und Subversionen nachzuspüren, um auf diese Weise das Beziehungsgeflecht von 'Entdeckern' und 'Entdeckten' von falschen Dichotomien zu befreien.

Dieses Bestreben spiegelt sich nicht zuletzt in den Überschriften der einzelnen Sektionen wider, denen die zwölf Beiträge dieses Bandes zugeordnet sind. "Kontrastierende Stimmen", "Schillernde Markierungen", "Transformierungen und Projektionen" und "Formierung von Blicken" sind die vier Abschnitte überschrieben. Ob nicht Begriffe mit einer höheren Trennschärfe hätten gefunden werden können, mag dahin gestellt bleiben. Alles in allem wird man konstatieren können, dass der Band die in der internationalen Diskussion der letzten zwei Jahrzehnte entwickelten Ansätze und Konzepte überwiegend auf überzeugende Weise vertritt.

Der zweite Band betrachtet die Thematik nicht so sehr aus dem Blickwinkel der postcolonial studies, sondern nähert sich ihr aus 'universalgeschichtlicher' Perspektive. Schon sein Titel "Expansionen in der Frühen Neuzeit" deutet an, dass sich die Herausgeber dieses Bands viel weniger dem linguistic turn verpflichtet fühlen. Statt dessen greifen sie auf die "europäische Expansion" zurück, ein Konzept, das einmal eng mit der These von der "Europäisierung der Welt" verknüpft war und daher in den letzten Jahren etwas in den Hintergrund getreten ist. Gefragt wird nun, inwiefern "in der doppelten, sich gegenseitig verstärkenden Expansion in andere geographische Räume und neue Erkenntnishorizonte" ein Charakteristikum einer zumindest europäischen, vielleicht aber sogar weltumspannenden Frühmoderne gesehen werden kann. So verorten sich die Herausgeber im Vorwort dann auch explizit in der Epochendiskussion der letzten Jahre. Besonders hervorzuheben ist, dass in diesem Zusammenhang auch Beiträge zur Geschichte Chinas, Russlands und der islamischen Welt herangezogen werden.

Der erste Teil des Bands nähert sich dieser Frage von den zeitlichen und räumlichen Rändern dieser Epoche. So wird nicht nur von mediävistischer Seite gefragt, inwiefern die europäische Expansion bereits im Mittelalter vorbereitet worden sei, sondern auch nach Parallelentwicklungen außerhalb Europas gesucht. Der Sinologe Achim Mittag beschreibt, wie die Kartographie der Ming-Zeit als Teil der "inneren Kolonisation" die "offene Expansion" der Qing-Zeit vorbereiten half, ein Prozess, der durch einen Abgrenzungsdiskurs gegenüber den Ethnien der nördlichen und der Aneignung geographischen und ethnographischen Wissens über die Völker der südlichen Peripherie gekennzeichnet wurde.

Unter der Überschrift "Momente sich gegenseitig beeinflussender Expansionsbewegungen" wird die Wechselwirkung zwischen europäischer Expansion und frühneuzeitlicher Wissenschaftsgeschichte untersucht. Auch in diesem Zusammenhang wird die komparatistische Perspektive beibehalten. Die Wissenschaftshistorikerin Catherine Jami untersucht die Rezeption mathematisch-astronomischen Wissens europäischer Herkunft im gelehrten Milieu Chinas und am chinesischen Hof zwischen 1582 und 1722. Sie arbeitet heraus, dass von den jesuitischen Agenten dieses Wissen nicht selten als Mittel gesehen wurde, um die christliche Lehre zu verbreiten; dagegen rezipierten es chinesische Gelehrte vor dem Hintergrund konfuzianischer Lehren und der Kaiserhof baute es in die offizielle Gelehrsamkeit ein.

Die Beiträge des letzten Teils, der mit "Innereuropäische Konkurrenz: zwischen Expansionsbeschleunigung und Expansionskritik" betitelt ist, beziehen sich stärker als die ersten beiden auch auf postkoloniale Forschungsansätze. Die Historikerin Susanna Burghartz wendet sich in ihrem Aufsatz so beispielsweise der Frage zu, weshalb Reiseberichte, die von missglückten kolonialen Unternehmungen berichten, trotzdem relativ erfolgreich waren. Ihre These: Auch durch die Darstellung von Misserfolg und Konkurrenz konnten koloniale Aspirationen sowie das eigene Überlegenheitsgefühl artikuliert werden. Die Literaturwissenschaftlerin Kirsten Mahlke untersucht dagegen, wie französische Autoren, insbesondere Marc Lescarbot, sich bemüht zeigten, ihre Ansprüche auf die neue Welt durch Bibelauslegung zu rechtfertigen. Im Lichte dieser Exegese erscheinen Franzosen und Indianer gleichermaßen als Nachfahren der Gallier und Söhne Noahs, wodurch kulturelle und sprachliche Ähnlichkeiten zwischen diesen Gemeinschaften erklärt wurden.

Wohin steuert also die derzeitige Beschäftigung mit dem (europäischen) Frühkolonialismus? Die Antworten der beiden vorgestellten Bände weisen in unterschiedliche Richtungen. "Berichten, Erzählen, Beherrschen" beweist, dass durch die postcolonial studies weiterhin Impulse auf diesem Gebiet zu erwarten sind. Dagegen zeigt "Expansionen in der Frühen Neuzeit", dass es bei aller Skepsis gegenüber den 'Meistererzählungen' nach wie vor auch Ansätze zur Synthesenbildung gibt. Die Ansiedlung zwischen postcolonial studies und 'neuer Universalgeschichte' sorgt jedenfalls dafür, dass Phänomene des europäischen Frühkolonialismus weiterhin kontrovers zu diskutieren sein werden.


Titelbild

Susannna Burghartz / Maike Christadler / Dorothea Nolde (Hg.): Berichten, Erzählen, Beherrschen. Wahrnehmung und Repräsentation in der frühen Kolonialgeschichte Europas.
Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 2005.
322 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-10: 3465032764

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Renate von Dürr / Gisela Engel / Johannes Süssmann (Hg.): Expansionen in der Frühen Neuzeit.
Duncker & Humblot, Berlin 2005.
392 Seiten, 54,00 EUR.
ISBN-10: 3428117018

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