Kalte Unmittelbarkeit
Über Ian McEwans "Letzter Sommertag"
Von Maik Söhler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseViele Kritiker von Ian McEwans letztem Roman "Saturday", der im Sommer auf Deutsch erschien, waren sich einig: Ein großer Wurf. Bestaunt wurde, wie geschickt der britische Autor aktuelles politisches Geschehen in Literatur zu übersetzen weiß. Seine Hauptfigur, der in London lebende Hirnchirurg Henry Perowne, diskutiert mit seiner Familie über den Irakkrieg und die möglichen Folgen (islamistischer Terror, Militarisierung der Politik). Dabei tauchen alle nur denkbaren Argumente für und gegen den Krieg auf, fast so, wie sie von McEwan selbst zuvor in britischen Feuilletonartikeln platziert worden waren. Einig waren sich so manche Betrachter aber auch, dass "Saturday" Schwächen habe - zu gradlinig, zu konstruiert, zu wenig innovativ. Kurz: literarisch bleibe der Roman hinter dem bisherigen Werk des Autors zurück.
Wer will, kann diese Kritik jetzt überprüfen, ohne ins Antiquariat zu gehen. Mit "Letzter Sommertag" ist im Oktober ein Erzählungsband des Autors erschienen, der einige seiner schönsten Stories versammelt. Sie alle stammen aus den Jahren 1980 und 1982 und waren bisher nur in den Bänden "Zwischen den Laken" und "Erste Liebe, letzte Riten" zu finden. In der Tat offenbart sich hier ein anderer McEwan. Es ist einer, dem es der triste Mikrokosmos des Alltagslebens mit all seinen spinnerten Hoffnungen sowie den dazu gehörenden Enttäuschungen angetan hat. Manchmal ist es auch umgekehrt und aus der fast schon lieb gewonnenen Verzweiflung erwächst ein ungeahntes Fitzelchen Glück.
Seine Geschichten verbindet, dass sie persönliche Umwälzungen schildern, die formal mit dem Wechsel vom Spätsommer in den Herbst einhergehen und dass die meisten von ihnen in einem einzigen Satz kulminieren, der jedoch noch lange nicht das Ende der Erzählung bildet. In der Story "Psychopolis", die das enttäuschte Lebensgefühl eines Engländers in seiner Anfangszeit in Los Angeles entfaltet, heißt es zwischen Fesselspielen und einem privaten Flötenkonzert plötzlich: "Auf einem Rasen hob ein kleines Mädchen ein noch kleineres Mädchen hoch und taumelte mit ihm einige Schritte vorwärts. Noch mehr Vergeblichkeit." In "Erste Liebe, letzte Riten" wartet ein Junge vor dem Fabriktor auf seine Freundin, die seit kurzem einen Job hat und in einer rosa Arbeitsuniform Obst und Gemüse in Dosen füllen muss: "Ich dachte, wenn ich sie nicht aus diesem raschelnden Strom aus rosa Nylon ziehen konnte, war sie verloren, waren wir beide verloren, und unsere Zeit war wertlos geworden."
McEwans Erzählungen sind voller Unmittelbarkeit, Kälte und Härte. Es finden sich zahlreiche Brüche und Sprünge, doch bleiben die Stories auf eine angenehme Art hermetisch (selbst dort, wo sie als Fragmente ausgewiesen sind). Die Kälte ist in seinen Romanen nach und nach einer gelassenen Erzählweise gewichen, Härte und Brüche aber sind geblieben - nicht mehr so beherrschend wie einst, dafür aber pointierter.
Was den Schriftsteller von früher mit dem von heute verbindet, ist seine große Kunstfertigkeit beim Erschaffen von Figuren und ihrem Wirken im täglichen Leben, egal ob sie nun Henry Perowne heißen oder wie in den meisten Erzählungen keinen Namen haben. Außerdem hat McEwan den Alltag seiner Protagonisten mittlerweile philosophisch, politisch und anderweitig so grundiert, dass mehr Tiefe, Breite und Differenziertheit vorhanden sind. Man kann das als Abkehr von Prinzipien begreifen, auf "Letzter Sommertag" verweisen und "Früher war alles besser!" rufen. Und man kann auch diesmal wieder "zu gradlinig, zu konstruiert, zu wenig innovativ" ächzen. Ian McEwan scheint es niemandem Recht zu machen zu können, früher nicht, heute nicht. Auch das ist seine Stärke.
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