Die Feldtheorie als Provokation?

Markus Joch und Norbert Christian Wolf haben einen Sammelband über die literaturwissenschaftliche Praxis im Zeichen Bourdieus herausgegeben

Von Nina BirknerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nina Birkner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der vorliegende Sammelband vereint die Vorträge eines internationalen Symposiums von 2004 und hat den Anspruch, Pierre Bourdieus "Les règles de l''art" in der literaturwissenschaftlichen Praxis anzuwenden.

In den "Regeln der Kunst", der, so schreiben die Herausgeber Markus Joch und Norbert Christian Wolf, "folgenreichste[n] literatursoziologische[n] Neuerscheinung der letzten Jahre", konkretisiert Pierre Bourdieu die Genese des literarischen Felds in Frankreich. Die Literaturgeschichte beschreibt er als historischen Prozess zunehmender Autonomisierung gegenüber "literaturfremden Mächten und Einflüssen": Ende des 19. Jahrhunderts differenziert sich ein eigengesetzliches, künstlerisches Macht- und Kräftefeld mit einem heteronomen und einem autonomen Pol aus. Während im heteronomen 'Unterfeld der Großproduktion'' marktorientiert für ein breites Publikum produziert wird, herrscht am autonomen Pol, dem 'Unterfeld der eingeschränkten Produktion'', eine verkehrte ökonomische Welt, in der materielle Interessen verleugnet werden und stattdessen die kollegiale Anerkennung über Erfolg oder Misserfolg entscheidet. Die Struktur des literarischen Felds sieht Bourdieu durch die Dynamik von "sozialen Positionskämpfen zwischen den Bewahrern und den Umstürzlern in aesthetics" bestimmt. Die Produktion von Kunstwerken begreift er folglich nicht als hehren individuellen Schaffensprozess, sondern setzt voraus, dass sich der "Autor eines literarischen Textes, unbewusst oder bewusst, immer zu anderen Autoren verhält". Die Singularität eines Kunstwerks kann daher nicht textimmanent, sondern nur "in Differenz zu vergleichbaren Autoren, seien es vorangegangene oder zeitgenössische", erschlossen werden. Bourdieu plädiert für eine korrelierende Analyse interner und externer Faktoren. Dabei sollen "einerseits die konkreten Abgrenzungskämpfe der Literatur gegenüber den Zwängen des Marktes" und andererseits "die feldkonstitutiven internen Auseinandersetzungen" fokussiert werden.

Während sich zu Bourdieus Kultursoziologie im französischen Sprachraum "bereits ein systematischer Diskussionszusammenhang herausgebildet hat", verlief die Bourdieu-Rezeption in Deutschland schleppend. Symptomatisch dafür ist das späte Erscheinen der "Regeln der Kunst", dem kultursoziologischen Hauptwerk Bourdieus, das in Frankreich bereits 1992, in Deutschland aber erst 1999 publiziert wurde. Joch und Wolf weisen darauf hin, dass es trotz einschlägiger theoretischer Einführungen ins Thema, etwa von Andreas Dörner und Ludgera Vogt, nur "verstreut erschienene" Publikationen gibt, die Bourdieus methodologischen Ansatz im Rahmen literaturwissenschaftlicher Analysen anwenden. Diesem Defizit wollen die Herausgeber mit dem vorliegenden Band begegnen: alle 21 Beiträge zielen darauf ab, "den praktischen Nutzen dieser Theorie zu erproben und die Bandbreite ihrer Einsatzmöglichkeiten zu erkunden".

Dass Bourdieus "Feldtheorie als Provokation der Literaturwissenschaft" begriffen wird, führen die Herausgeber auf "hartnäckige 'Missverständnisse''" zurück, die die deutsche Bourdieu-Rezeption immer noch prägen. So steht man einem soziologischen Zugriff auf literarische Texte skeptisch gegenüber, weil man glaubt, dass eine solche Methode dem "inkommensurable[n] Kunstwerk" nicht gerecht werde. Für die Herausgeber stellt Bourdieus Sozioanalyse von Gustave Flauberts Roman "Éducation sentimentale" in den "Regeln der Kunst" hingegen unter Beweis, wie "analytische Instrumente und Erkenntnisse benachbarter Disziplinen sinnvoll miteinander zu verbinden sind". Die argumentative Entkräftung der dominierenden 'Vorurteile'' machen sich Joch und Wolf zur Aufgabe, aber sie stehen Bourdieu nicht unkritisch gegenüber. Sie sind sich einig, dass der "Soziologe nicht alle Potenzen seiner Theorie für die Literaturwissenschaft bzw. -geschichte ausschöpfen" konnte. Daher sollen die versammelten Beiträge eine "Ausweitung der Bourdieu''schen Analysen in geografischer, historischer, theoretischer und thematischer Hinsicht" darstellen und "wenn nötig auch eine Kritik/oder Weiterentwicklung" vorführen.

I. Historische und geografische Ausweitung der Feldtheorie

Auf eine 'geschichtliche Ausweitung'' der Feldtheorie zielt der Beitrag von Gisèle Sapiro, die einen "kursorischen Abriss" über die Konstituierung des autonomen literarischen Felds in Frankreich liefert: ein Prozess, für den die Voraussetzungen - ein Markt mit spezifischen Konsekrationsinstanzen und einer professionellen Produzentengruppe - offenkundig bereits im 17. Jahrhundert gegeben sind. Sie erhellt, wie die jeweiligen sozialen Bedingungen und strukturellen Zwänge mit dem Selbstverständnis und damit den künstlerischen Zielsetzungen der produzierenden Künstler korrelieren.

Auch Stefanie Stockhorst und Alain Viala nehmen mit ihren Beiträgen eine historische Ausweitung der Feldtheorie vor. Während Stockhorst barocke Gelegenheitsdichtung analysiert, macht Viala sichtbar, dass einige der von Bourdieu herausgearbeiteten zentralen Merkmale eines autonomen literarischen Felds bereits für die Kunstproduktion in der Französischen Klassik gelten. Er analysiert den 4. Gesang von Nicolas Boileaus "L''art poétique" (Die Dichtkunst) und legt dar, dass dieser bereits die dualistische Struktur des literarischen Felds, den Gegensatz zwischen 'reiner'' und 'kommerzieller'' Kunst kennt, parallel zur Vorstellung einer 'verkehrten Ökonomie''. Obwohl der Künstler in der Französischen Klassik nicht vom literarischen Markt, sondern vom Mäzen abhängig ist, scheint bereits "ein Bedürfnis nach Autonomie sowohl in materieller Hinsicht als auch auf dem Gebiet der ästhetischen Urteilskriterien im Namen einer 'Wahrheit der Kunst''" zu existieren.

Nicht nur eine diachrone, sondern auch eine synchrone Erweiterung leistet York-Gothart Mix, der in seinem Beitrag "Wahre Dichtung und Ware Literatur" die These aufstellt, dass sich in Deutschland bereits an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ein autonomes künstlerisches Produktionsfeld etabliert. Anhand verschiedener literaturtheoretischer Positionen illustriert er die "Genese und Akzeptanz dieses Autonomiepostulats", das mit der Entfaltung unterschiedlicher ästhetischer Prämissen und der Ausrichtung auf verschiedene Leserkreise korreliert. Mix erhellt jedoch nicht nur die Genese, sondern auch die Struktur des literarischen Felds und zeigt, dass das "Altern von Autoren, Werken und Dichterschulen [...] nicht nur ein Resultat kontinuierlicher Historisierung oder eines wie auch immer gearteten ästhetischen Fortschritts, sondern zunehmend Konsequenz von Konkurrenz[kämpfen]" ist.

Auch Heribert Tommek beschäftigt sich mit dem literarischen Feld in Deutschland um 1800, insbesondere mit den Positionskämpfen von Friedrich Gottlieb Klopstock und Johann Michael Reinhold Lenz mit Johann Wolfgang von Goethe. Obwohl alle drei Dichter am autonomen Pol des literarischen Felds situiert sind, können ihre Konflikte auf unterschiedliche Stellungen im Kräftefeld zurückgeführt werden. So profilieren Klopstock und Lenz "ihre dichterische Selbständigkeit besonders markant gegenüber der höfischen Sphäre", während "der politisch konziliantere Goethe seinen Anspruch auf künstlerische Autonomie in erster Linie gegenüber den Imperativen der Religion" behauptet. In diesem Kontext sollte allerdings nicht übersehen werden, dass Klopstock enge freundschaftliche Beziehungen zum nordelbischen Adel unterhielt und sich der großzügigen Förderung durch den Hof erfreute.

II. Theoretische Ausweitung der Feldtheorie

Auf eine theoretische Erweiterung der Feldtheorie zielt Jérôme Meizoz, der den von Bourdieu "beiläufig verwendeten" Begriff der posture konkretisiert. Die posture, definiert als "singuläre Weise, eine objektive Position innerhalb eines Felds zu besetzen, die selbst wiederum durch soziologische Parameter eingegrenzt wird", umfasst zwei Dimensionen: zum einen die Ebene der sozialen Selbstpräsentation, zum anderen die rhetorische und gattungstypologische Ebene des literarischen Textes. Meizoz veranschaulicht seine theoretischen Ausführungen am Beispiel Jean-Jaques Rousseaus, der sich sowohl in der Öffentlichkeit als auch in seinen Schriften als einfacher, modester und moralischer Charakter präsentiert. Rousseau macht aus der Not eine Tugend. Er stellt seinen niederen sozialen Rang als frei gewählte Lebensentscheidung dar. "Daraus bezieht er seinen Stolz als Autor". Mit der posture stellt Meizoz ein brauchbares Analyseinstrument vor, um die "kodierte Weise der diskursiven Selbstdarstellung und die individuellen Spiele eines jeden Autors mit der Position, die ihm das Feld zuweist, zu beschreiben".

III. Literaturwissenschaftliche Analysen mit dem feldtheoretischen Instrumentarium

Als zentraler Grundbegriff der "Regeln der Kunst" gilt der 'zweifache Bruch'', unter dem die Abgrenzung des l''art pour l''art von institutionalisierten Konsekrationsinstanzen und der etablierten Kunst, der 'sozialen'' sowie der 'bürgerlichen'', zu verstehen ist. Diese doppelte Opposition illustriert Thomas Becker am Beispiel von Charles Baudelaire, der sich mit seiner Lyrik sowohl vom heteronomen Pol des Massenmarkts als auch vom autonomen Pol des eingeschränkten Markts distanziert. Während Baudelaire seine Geringschätzung der Académie française als staatlicher Benennungsmacht in verschiedenen Schriften explizit thematisiert, bestätigt er seine Ablehnung der etablierten Kunstströmungen, der Romantik und des Klassizismus, implizit in seinem Werk. Vor dem Hintergrund des doppelten Bruchs entfaltet Baudelaire seine eigenen ästhetischen Prämissen: "Labile und multiple Subjektivität allein konnten dem Standpunkt des modernen Autors entsprechen, der sich sowohl von der Romantik als auch vom Klassizismus im Namen einer reinen Lyrik absetzen musste".

Auch Markus Joch widmet sich der Denkfigur der doppelten Opposition. Als Beispiel dient ihm Heinrich Heine, der nach seiner Übersiedlung nach Paris "das egalitäre Denken mit dem Hedonismus [zu] verschmelzen" versucht. Dieser Habitus provoziert Angriffe im literarischen Feld. Wenn Heine sich einerseits großbürgerliche Werte zu Eigen macht, sich aber andererseits als Gegner der Bourgeoisie präsentiert, evoziert er sowohl den Bruch mit "den zeitgenössischen 'Radikalen'', allen voran Börne und Gutzkow" als auch mit der Aristokratie und dem Geldadel. Aus den vehementen Attacken der literarischen Konkurrenz resultiert schließlich ein Positionswechsel von Heine im literarischen Feld: Er stilisiert sich zum 'Nachfolger Goethes'' und betont seine künstlerische Autonomie. "Wie, so die Grundhaltung Heines, soll ein Autor die kollektive Selbstbestimmung überzeugend propagieren, wenn er es nicht wagt, sich auf seinem eigenen Terrain, der Literatur, alle Freiheiten zu nehmen?"

IV. Literaturwissenschaftliche Analysen von Einzelwerken

Was Bourdieu mit seiner Sozioanalyse von Flauberts "Éducation sentimentale" in den "Regeln der Kunst" exemplarisch vorführt, versucht Ulrich Krellner in seinem Beitrag zu Uwe Johnsons "Jahrestagen" von der wechselnden Feldposition des Autors aus vorzuführen. Für Krellner markiert Johnsons Ausreise aus der DDR und sein Eintritt in das literarische Feld der Bundesrepublik eine Zäsur in seinem Werdegang als Schriftsteller, was zu einem "von Spannungen und Widersprüchen beherrschten Habitus" führt, "dessen literarischer Bewältigung insbesondere die Jahrestage" dienen sollen. Seine Krise gestaltet Johnson poetologisch als Objektivierung der eigenen Biografie, "indem er eine Protagonistin ins Zentrum stellt, deren Laufbahn von derselben Unvereinbarkeit der darin verbundenen Welten gezeichnet ist wie diejenige Johnsons selbst".

Auch Norbert Christian Wolf nutzt die Feldtheorie für die literaturwissenschaftliche Analyse eines Romans, er widmet sich Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften". Obwohl Musil nicht an der "mimetischen Wiedergabe der sozialen Wirklichkeit", sondern an der Darstellung psychischer Vorgänge interessiert ist, erweist sich Bourdieus sozioanalytische Methode als brauchbares Verfahren zur Analyse der Figurenkonzeptionen.

V. Breite Einsatzmöglichkeiten der Feldtheorie

Dass die Feldtheorie auch die Möglichkeit bietet, Rezeptionsphänomene transparent zu machen, führt Isabelle Kalinowski mit ihrem Beitrag zur Hölderlin-Rezeption in Frankreich vor. In ihrer Analyse verdeutlicht sie zum einen, dass Rezeptionsprozesse vom gerade dominanten nationalkulturellen Diskurs bestimmt sind und zum anderen, dass die unterschiedliche Aneignung von Lektüren weniger "auf rein intellektuelle[n] Divergenzen" beruht als vielmehr auf der Struktur der jeweiligen intellektuellen Felder. So wurde Hölderlin in Frankreich Mitte der 20er Jahre primär als 'wahnsinniger Dichter'' wahrgenommen, weil der erste Hölderlin-Vermittler in Frankreich, Bern(h)ard Groethehuysen, dem Lesepublikum diejenigen biografischen Aspekte und künstlerische Werke des Autors zugänglich machte, "die im zeitgenössischen literarischen Feld in Frankreich die besten Chancen hatten, eine Wirkung zu entfalten".

Auch Anne Saada sieht in der Feldtheorie ein probates Mittel, komplexe Rezeptionsprozesse zu erhellen. Sie beschäftigt sich mit der Diderot-Rezeption in Deutschland im 18. Jahrhundert und stellt fest, dass die Aneignung Diderots "in zwei verschiedenen Räumen - dem der Gelehrsamkeit und des Theaters" stattfindet, was Saada auf unterschiedliche Feld- bzw. Raumstrukturen zurückführt. Während Diderots philosophische Schriften in gelehrten Zeitschriften erscheinen und wiederholt Repliken produzieren, werden die dramentheoretischen Schriften in dem sich gerade konstituierenden Raum des Theaters rezipiert. Dabei verleiht die Konsekrationsmacht Gotthold Ephraim Lessings, der Diderot in seiner "Hamburgischen Dramaturgie" bespricht, dem französischen Dichter unangreifbare Autorität.

Neben den vorgestellten Aspekten bietet Bourdieus feldtheoretische Methode weitere Anwendungsmöglichkeiten. So zeigt Werner Michler in seinem Beitrag die Möglichkeiten auf, die Bourdieus Ansatz für die Gattungspoetik bietet, und Hervé Serry deckt die Mechanismen auf, die den Erfolg des französischen Verlags "Édition du Seuil" bedingen.

Mit ihrem Band "Text und Feld" lösen Joch und Wolf ihr Versprechen ein: Die umfassenden und präzisen literaturwissenschaftlichen Analysen lassen erkennen, dass Bourdieus Ansatz ein plausibles Verfahren darstellt, um literarästhetische Strukturen, personale Konstellationen oder den Erfolg oder Misserfolg einzelner Autoren zu untersuchen, Rezeptionsphänomene zu beleuchten oder Gattungsprobleme und Medialisierungsstrategien zu analysieren. Auch wenn nicht alle Beiträge den gleichen qualitativen Standard aufweisen, stellt der vorliegende Band durch seine theoretische, thematische, historische und geografische Ausweitung von Bourdieus kultursoziologischer Methode eine Bereicherung des feldtheoretischen Instrumentariums dar. Unter diesen Umständen mag man nicht mehr recht glauben, dass Bourdieus "Feldtheorie als Provokation der Literaturwissenschaft" aufgefasst werden kann.


Titelbild

Markus Joch / Norbert Christian Wolf (Hg.): Text und Feld. Literaturwissenschaftliche Praxis im Zeichen Bourdieus.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2005.
399 Seiten,
ISBN-10: 348435108X

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