Literatur aus dem "Vierjahrzehnte-Land"

Ein Standardwerk in studentenfreundlicher Taschenbuchausgabe: Die "Kleine Literaturgeschichte der DDR" wurde für die Nachwendegeneration neu aufgelegt

Von Laura WilfingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laura Wilfinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Aus dem Giftschrank in den Handapparat - so instruiert kurz gefasst der Klappentext den jüngeren Leser über die wechselhafte Karriere dieses Buchs, das mit der Wende nicht nur gesamtdeutsch zu seinem Recht kam, sondern auch gleich um mehr als die Hälfte zugenommen hat. Als Wolfgang Emmerich, Bremer Literaturprofessor mit DDR-Jugend, seinen Beitrag über "Die Literatur der DDR" in der Metzler`schen Literaturgeschichte (1979) zum eigenständigen Handbuch ausarbeitet, nimmt diese als Lehrgegenstand an westdeutschen Universitäten, trotz zunehmendem Interesse, eine marginale, allerhöchstens etwas 'exotisch' anmutende Rolle ein: Wie sich im Land des Wirtschaftswunders jene volkspädagogische "Betriebsprosa" und prosaische "Traktorenlyrik" aus den DDR-Aufbaujahren eher belächeln lässt, so scheint der zunehmend zivilisationskritische Tenor der jüngeren Dissidentenliteratur ebenfalls noch leichtes Befremden zu erregen - wenngleich 1981 bereits ein beträchtlicher Teil der namhaften DDR-Literaten unter unterschiedlich schweren Bedingungen in die Bundesrepublik übergesiedelt ist, um dort (weitgehend) zensurfrei publizieren, aufführen, auch nur sprechen zu können. Emmerichs literarhistorisch motivierter Blick über die Mauer musste daher auch eine eminent politische Dimension erfüllen - mehr als jedes andere fungiert das Sujet DDR-Literatur, im Unterschied zu den Nationalliteraturen namentlich geprägt durch ein politisches Konstrukt, als (Zerr-)Spiegel realpolitischer "Sprüche und Widersprüche" zu den im doppelten Sinne beschriebenen gesellschaftlichen Verhältnissen und individuellen Verhaltensweisen. Wie diese Beschreibung literarischer, oder gemeinhin künstlerischer Äußerungen, ob nun in der Identifikation mit dem politischen System oder in der Dissidenz geschaffen, stets auch zur Charakterisierung des gesellschaftlichen Rahmens beiträgt - das ist nicht zuletzt Ziel und Zweck der Literargeschichtsschreibung -, so gilt das für die in der (internen) Auseinandersetzung mit der DDR entstandene Literatur in besonderem Maße.

Dass die mit der Wende zwangsläufig gewordene, grundlegende Überarbeitung des Buchs dem Autor "keine reine Freude" gewesen, wenn nicht gar zu einem "so quälenden wie befreienden Prozeß" geworden ist, hat zweifelsohne mit dem politischen, um nicht zu sagen: ideologischen Kern dieser Untersuchung und seines Gegenstands zu tun. In vielerlei Hinsicht hat der Wegfall der Mauer auch aus westlicher Sicht Perspektiven, zukünftige ohnehin, aber auch rückwärtige, verändert, verschoben, differenziert - ein Prozess, der noch immer nicht abgeschlossen ist und auf längere Sicht weniger ein herkunftsabhängiges als vielmehr ein generationenspezifisches Thema bleiben wird. Wo für den zeitgenössischen Chronisten der DDR (wie der BRD) - wie Emmerich - neben der wendebedingten Korrektur "seltener [...] meines ästhetischen als meines politischen Urteils" dennoch hauptsächlich chronologisch bedingte Ergänzungen und Erweiterungen nötig werden, die die "Kleine Literaturgeschichte" in fünf Ausgaben schließlich von 264 auf 640 Seiten anwachsen lassen, kommt der so dokumentierten Metamorphose für einen Teil der heutigen Leserschaft eine zusätzliche Bedeutung zu. Die sichtbare Historisierung erweist sich als aufschlussreich für eine interessierte Nach- wie auch für die (vor allem westliche) Mitwendegeneration: Jene, die - etwa gleichaltrig mit Emmerichs Buch -, jenen Umbruch in zu jugendlichem Alter erlebt haben, um seine volle Bedeutung erfassen zu können; oder auch jene etwas älteren, für die Marx immer nur "der vom Hundertmarkschein" und Engels "der vom Fünfzigmarkschein" (Thomas Brussig) war - und denen die vielbeschworene "Gnade der späten Geburt" kaum über die Konsequenzen dieses noch dazu stark emotionsgeladenen Komplexes eigener Geschichte hinwegzuhelfen vermag.

Das die neuerliche Überarbeitung abschließende Kapitel "Wendezeit (1989-95)" entlässt die Leser dann in eine nun auch schon zehn Jahre alte literarische Landschaft, die sich durch "eine Vielfalt der ästhetischen Konzepte und Schreibpraxen, der literarischen Regionen und gesellschaftlichen Funktionen, der Autorengenerationen und ihrer politischen Standorte" auszeichne und deklariert damit das natürliche Ende der DDR-Literatur: als ein mehr oder weniger zwangsläufiges Aufgehen in einer - zuallererst jedoch politisch definierten - gesamtdeutschen Zukunft. Davor liegen vier, jeweils etwa zehn Jahre umfassende Kapitel und Etappen Literaturproduktion im "Vierjahrzehnte-Land" und ein umfassender Blick auf die Gründungsmythen der DDR(-Literatur): in der Literatur gespiegelt als Ideale eines "Aufbaus", der um die Begriffe "Antifaschismus" und "Sozialismus" kreist und deren sukzessive Bedeutungsverschiebung bis hin zum -verlust die folgenden Kapitel anhand zahlreicher Einzelanalysen durchzieht. Eine "gelenkte Literatur", die aus dem Ruder läuft - so stellt sich hier in vielen, zuweilen sichtlich mehrdeutigen Facetten ein Phänomen dar, das sich seiner geografischen Grenzen wegen "DDR-Literatur" nennen lässt und dennoch von Beginn an bedeutungsvoll vielstimmig gewesen sein muss. Nach Jahren planmäßigen Rufens nach "sozialistischem Realismus" und kanonisierten (Ver-)Schweigens der Widersprüche meldet sich im Laufe des letzten Jahrzehnts der DDR eine langsam von innen her modernisierte Literatur wieder zu Wort: Die kritische DDR, notgedrungen oder von oben gedrängt, "schwappt über" in den Westen und versucht von dort dem Westkollegen anschaulich zu machen, wie das "Monster" - eine vom Emmerichs bevorzugten Metaphern - von innen aussieht, wie und wovon es, ganz planmäßig, lebt und wie es "die freie Entwicklung aller" von der "freien Entwicklung eines jeden" feinsäuberlich zu scheiden pflegt. Was ein Druckgenehmigungsverfahren ist und was es bedeutet, wenn einer wie Christoph Heins "Tangospieler" (noch Anfang 1989 erschienen) regelmäßig von den Herren Müller und Schulze besucht wird. Und vielleicht mag dieser Kollege nun, nach dem Zusammenbruch eines gleich der Mauer eine ganze Generation umfassend prägenden Konstrukts, dem Kritiker auch erklären, warum Christa Wolf ihre Existenz als IM "Margarete" tatsächlich vergessen haben kann.

Dass Wolfgang Emmerichs "Kleine Literaturgeschichte der DDR" in der erweiterten Ausgabe nach wie vor keine detaillierten Zitatangaben enthält, ist ob der ausgesprochen guten Lesequalität dieses Buches zu verschmerzen. Eine instruktive Zeittafel zu Autoren, Werken und ausgewähltem historischen Faktenmaterial sowie eine fünfzigseitige, bis ins Jahr 2000 ergänzte Bibliografie entschädigen dafür und erhalten den Status des Standardwerks, das dennoch rechtmäßigerweise und vielleicht gerade wegen des, wie das Vorwort bestätigt, nicht unpersönlichen Charakters dieses Buches, die Fortführung an die Nachgeborenen delegiert: "Natürlich hätte man es weiterschreiben können [...]. Doch das soll nun, was mich angeht, nicht mehr geschehen."


Titelbild

Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe.
Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 2005.
640 Seiten, 12,50 EUR.
ISBN-10: 3746680522

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