Das Leben, ein Roman

Am 8. März 1986 starb Hubert Fichte

Von Jan-Frederik BandelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan-Frederik Bandel

Hamburg, ABC-Straße 55, ein paar Schritte nur vom Gänsemarkt entfernt. Hier ging es einst vier Stufen hinab in die Palette: Das schmuddlige, rauchverhangene Kellerlokal, in dem Aschenbecher grundsätzlich unterm Tisch ausgeleert wurden (die Stammgäste wussten noch im volltrunkenen Zustand, wann sie die Füße wegzuziehen hatten), war in den Fünfzigern und frühen Sechzigern Hamburgs Treffpunkt für bohemeneugierige Oberschüler, Ausreißerinnen, Halbkriminelle und Halbkünstler, Hafenarbeiter, Seeleute, Springerredakteure - und eben Tramps und Gammler, wie sich die Voll-, Teilzeit- und Wochenenddropouts der Wirtschaftswunderjahre nannten, wild entschlossen, beharrlich nichts zu tun, auch mit Hilfe von Aufputschmitteln, Captagon und Pervitin, wenn Ausdauer und Bier allein nicht reichten.

Heut geht es dort vier Stufen hinauf zu den Schaufenstern des Marriotthotelkomplexes. Und von der geheimnisvollen Neustadt mit ihren engen Gassen, schäbigen Antiquitätenläden, Seemannskneipen und der alten Bordellstraße, von diesem Hamburger "Klein-Moskau", dem nicht erst 1933 der Krieg erklärt wurde, ist schon lang nichts mehr zu sehen. Längst vergessen wäre diese kleine, der Ideologie von Arbeit, Wohlstand und Altersvorsorge entzogene Welt, vergessen wären ihre bierseligen Nächte, ihre Ausflüge und Träume vom mythischen Paris und von den Touren der Beatniks, hätte nicht Hubert Fichte 1968 mit seinem Roman "Die Palette" dieser Kneipe, ihren Besuchern und Bewohnern - wie der harte Kern sich selbst titulierte - ein 365 Seiten starkes, golden eingeschlagenes Monument gesetzt - bis heute sein bekanntester Roman.

Deutscher Beatroman, überdrehte Hamburgensie, schwuler Popklassiker wurde das Buch genannt. Vor allem aber ist Fichtes zweiter Roman der Ausgangspunkt eines erfreulich vermessenen, labyrinthischen und doch umso freudiger zu ergehenden Riesenwerks, das mit dem Tod des Autors 1986 Fragment blieb - nur konsequent, hatte Fichte die Vorstellung, einmal damit zuende zu kommen, doch stets vehement zurückgewiesen. Die frühen Romane "Das Waisenhaus" von 1965, "Detlevs Imitationen 'Grünspan''" von 1971 und "Versuch über die Pubertät" von 1974, die ungezählten Radioarbeiten, die Interviewbücher der Siebziger, die ethnografischen Erkundungen, schließlich die nachgelassenen, seit 1987 erschienenen, nun in der Edition komplett vorliegenden Bände einer Romane, Interviews, Radiofeatures und Tagebücher umfassenden "Geschichte der Empfindlichkeit": Das alles sind Zeugnisse eines nicht zuletzt erotischen Entdeckungstriebs, des Versuchs, das eigene Leben zum Roman umzugestalten.

Die Bewegungen dieser Entdeckungsgeschichte reichen vom Schrobenhausener Waisenhaus bis zu den Voodootempeln Brasiliens, von Hans Henny Jahnns Blankeneser Hirschpark bis zu Allendes Chile, von Hamburgs schwuler Lederszene bis ins Haiti Papa Docs, von St. Paulis Eroszentren zu einem psychiatrischen Dorf im Senegal, vom Literarischen Colloquium Berlin ins Portugal Salazars und vom Hamburger Star-Club zur Uni Bremen.

Hubert Fichte zu lesen, ist eine Entdeckungsreise: Was wüsste man ohne ihn von Otto Habermann alias Cartacala, dem glatzköpfigen Transvestiten im Stellinger Schrebergärtlein, der sich auf St. Pauli von Trance zu Trance tanzte, von den eignen vier Wänden, einem schönen Garten und ein bisschen Harmonie träumte, Flüche schleudernd als Hexe im Baum hockte, einen nie enden wollenden Kleinkrieg mit dem Schrebergartenverein und den Nachbarn führte, dem Papst und Kiesinger sein Leid klagte und mit seinem Weihnachtsfluch von 1961 der Stadt so eindrucksvoll den Untergang androhte, dass wer ihn hörte und kurz darauf die Sturmflut erlebte, nur eine Erklärung kannte? Wem anders als Fichte hätte Hans-Peter Reichelt alias Hans Eppendorfer die Geschichte seines Mordes anvertraut, seine Erfahrungen in zehnjähriger Einzelhaft, seine Erkundungen der Sado-Maso-Szene? Wer sonst hätte Jean Genet im Interview zu einem solchen Gemisch aus intimen Bekenntnissen, Analysen und Bildungsparlando bewegen können? Wie hätte man ohne ihn Wolli Köhler kennen gelernt, den sächsischen Paulianer, marxistischen Bordellier, NVA-Offiziersanwärter, dichtenden Bergarbeiter und indienfahrenden Privatethnologen, den Fichte 1978 im Gesprächsband "Wolli Indienfahrer" portraitiert hat? Und wer dächte heute noch an die Palette zwischen hanseatischen Boutiquen und Armanishops?

Fichte zu lesen, bedeutet auch, sich mal lustvoll, mal widerstrebend der Monomanie zu überlassen, mit der die Geschichte seiner beiden Zentralgestalten Jäcki und Irma entwickelt wird, Samenfleck um Samenfleck auf den Bettlaken, Ritual um Ritual, Klatsch um Klatsch. Fichtes poetisches Double wächst auf, ohne den Vater - einen emigrierten Juden - jemals zu kennen, verbringt als hamburgisch-protestantisch erzogener, amtlich erklärter 'Halbjude'' ein Jahr im katholischen Waisenhaus, tief im Bayrischen. Er kehrt heim in die Bombardierungen Hamburgs, glaubt - zehnjährig - an den Neuanfang, der auf dem Theater stattfinden soll, lässt sich von Hans Henny Jahnn aus dem Urin die Bisexualität lesen. Er schmeißt die Schule, spielt Neben- und Hauptrollen, zieht mit Alexander Hunzinger, dem Enfant terrible der Hamburger Bühnen um die Häuser, kommt in den Stimmbruch, fällt durch die Schauspielprüfung und durchtrampt Frankreich, landet in den Obdachlosenlagern des Abbé Pierre, wird dort zum Lagerleiter, holt sich eine Hepatitis und muss zurück ins Wiederaufbaudeutschland. Er macht eine Landwirtschaftsausbildung bei einem ehemaligen SS-Mann, arbeitet in einem anthroposophischen Jugendheim in Schweden, lebt einige Zeit in der Provence, hütet halbtags Schafe und schreibt andernhalbtags ungelenke Theaterstücke.

Anfang der Sechziger landet er wieder in Hamburg, entdeckt die Palette, taucht ab in den schwulen Untergrund und in den Literaturbetrieb. Er bedichtet Willy Brandt, liest beatbegleitet im Star-Club, macht Interviews auf dem Kiez. Als die Studenten das Schauspielhaus besetzen, um dort die Weltrevolution zu beginnen, beargwöhnt er das enragierte Gerede und die Gewaltfantasien, träumt von einer "Verschwulung der Welt" und lobt den Tourismus. Er interviewt Salvador Allende und hofft - einen Moment lang - auf den demokratischen Sozialismus, besucht Juan Bosch, Echeverria und Senghor, erforscht die afroamerikanischen Religionen in Bahia, Haiti, Trinidad, Santo Domingo, Venezuela, Miami und Grenada. Wenn er wirklich konsequent wäre, findet er, müsste er mit allen Männern der Welt schlafen. Und mit einer Frau, Irma.

Dann kommt AIDS: Der Traum von der bisexuellen Welt ist vorbei, das Netzwerk schwuler Clubs und Saunen bricht zusammen. Depression, Paranoia, Wechseljahre, Schwächeanfälle. Ein 50. Geburtstag und viel Arbeit. Noch im Krankenhaus schreibt er verbissen an seinem letzten großen Roman über Brasilien, "Explosion".

Natürlich ist Jäckis Geschichte auch Fichtes eigene Geschichte. Denn Hubert Fichte zu lesen, das heißt nicht zuletzt: Einen prächtig gescheiterten Versuch der Verwandlung zu beobachten. Stigmatisierung wird überführt in Selbstmythisierung, die Lebenserfahrung geht über in Buchstaben, wird entgrenzt ins Fiktive. Die Geschichte eines ganzen Jahrhunderts soll sich in der Geschichte einer einzigen Empfindlichkeit verdichten. Die Bezüge vervielfältigen sich. Zwischen Dammtorbahnhof und Stephansplatz, Hamburger Uni und Gänsemarkt hat Fichte sein Denkmal mit hinreichend kuriosem Namen, die "Fundgrube für Bücherfreunde". Hier tauschte er, jugendlich, Theodor Däubler gegen Theodor Körner ein, hierhin kehrte er später wieder, um - schräg gegenüber vom NS-Kriegsklotz mit seinen marschierenden Gefallenen, schräg gegenüber von der Inschrift "Deutschland muss leben, auch wenn wir sterben müssen" - auf die Jagd zu gehen, wo das Antiquariat endete und die Klappe begann. Jahre später, die Szene hatte sich längst in den Park verlagert, kam er noch einmal vorbei, um Widmungsexemplare und andre Lästigkeiten loszuwerden, mit denen ihn Kollegen bedachten.

Der Rest ist Philologie? Keineswegs, der Rest ist eine Einladung!

Anmerkung der Redaktion: Der Artikel ist eine leicht überarbeitete Fassung eines Texts, der zuerst in der Wochenzeitung "Jungle World" erschienen ist. Wir danken dem Autor für die Publikationsgenehmigung.