Kritische Interventionen

Die erste deutschsprachige Einführung zur postkolonialen Theorie liegt vor

Von Sven WerkmeisterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sven Werkmeister

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als sich 2004 der hundertste Jahrestag der deutschen Niederschlagung des Herero-Aufstands in der ehemaligen Siedlungskolonie "Deutsch-Südwestafrika" jährte und über Reparationszahlungen angesichts des kolonialen Völkermords mit zehntausenden Opfern diskutiert wurde, stand die deutsche Kolonialvergangenheit für einen kurzen Moment wieder im Zentrum öffentlichen Interesses.

Die politische Aufarbeitung der deutschen Kolonialzeit und ihrer Folgen hat noch kaum begonnen. Um die wissenschaftliche Auseinandersetzung war es bis vor wenigen Jahren nicht viel besser bestellt. Erst seit Ende der 1990er Jahre ist in Literatur- und Geschichtswissenschaften ein neues Interesse an den kulturellen, politischen und sozialen Kontexten des deutschen Kolonialismus zu verzeichnen.

Nun liegt auch die erste deutschsprachige Einführung zu den theoretischen Debatten des Postkolonialismus vor, jener von poststrukturalistischen und marxistischen Ansätzen beeinflussten Diskussion um die politischen Implikationen kultureller, nationaler und ethnischer Differenzbildung vor dem Hintergrund kolonialer Erfahrung. Wird die Debatte im englischen Sprachraum bereits seit den 1980er Jahren kontrovers geführt und als wichtige Anregung für Literatur- und Kulturwissenschaften aufgegriffen, wurden in Deutschland bisher nur ausgewählte Beiträge der Diskussion übersetzt und in Sammelbände aufgenommen. Die späte Rezeption der Debatte begreifen die Autorinnen des nun vorliegenden Einführungsbands als Chance, indem sie die theoretischen Neueinsätze des Postkolonialismus bereits mit Blick auf die inzwischen geltend gemachten kritischen Einwände diskutieren.

Im Zentrum des Bands stehen die Studien von Edward Said, Gayatri Chakravorty Spivak und Homi K. Bhabha, der "Heiligen Dreifaltigkeit" postkolonialer Theorie, wie Robert Young einmal formulierte. Ihnen sind die drei Hauptkapitel des Buches gewidmet. Saids berühmte Studie "Orientalism" (1978) diskutieren die Autorinnen als Gründungsdokument postkolonialer Theoriebildung. Saids Analyse des Orientalismusdiskurses als europäisches Konstrukt, das seit Ende des 18. Jahrhunderts den Orient als das Gegenbild, das Andere Europas entwarf, legte mit dem Fokus auf die Verbindungen zwischen den wissenschaftlichen und künstlerischen Repräsentationsweisen des Fremden und den Techniken und Strategien kolonialer Herrschaft wichtige Grundlagen für spätere Analysen des Zusammenhangs von Repräsentation, Wissen und Macht im kolonialen Kontext.

Die enorme Resonanz auf die Studie spiegelte sich auch in der teilweise äußerst scharf formulierten Kritik an Ansatz und Vorgehensweise Saids, die in den 1980ern laut wurde. Insbesondere wurde Said eine Tendenz zur erneuten Homogenisierung und Essentialisierung von Orient und Okzident, zur Stabilisierung des eigentlich problematisierten Dualismus vorgeworfen. Castro Varela und Dhawan räumen diesen Hinterfragungen der Orientalismusthesen breiten Raum ein, systematisieren die von verschiedenen Seiten geäußerten Kritikpunkte, enthalten sich aber einer abschließenden Wertung. Damit bleibt es - und dies ist durchaus angenehm - dem Leser überlassen, gegenüber den referierten Argumenten eine eigene Position und Perspektive einzunehmen.

Ähnlich sind die Kapitel zu Spivak und Bhabha angelegt. Spivaks Arbeiten, die marxistische und feministische Theorieansätze mit Verfahren der Dekonstruktion verbinden, haben deutlicher als Said die inneren Widersprüche von Kolonisierungs- und Dekolonisierungsprozessen in den Blick genommen. Der Fokus der Darstellung Castro Varelas und Dhawans liegt auf diesen drei theoretischen Bezugsrahmen: Feminismus, Marxismus und Dekonstruktivismus. Ein eigenes Unterkapitel ist dem wohl bekanntesten Aufsatz postkolonialer Theorie, Spivaks "Can the Subaltern speak?", gewidmet. Auch hier wird der Auseinandersetzung und der kritischen Befragung des Textes breiter Raum gegeben. Deutlich werden im Kapitel zu Spivak jedoch die Grenzen des knappen Einführungsbands. Spivaks bewusste Verweigerung eines kohärenten Theoriegebäudes, eines erklärenden Narrativs, das ihre Arbeiten auf einen Nenner bringen ließe, wird für die systematisierende Darstellung zum Problem. Ähnlich wie im folgenden Kapitel zu Homi Bhabha wird die Komplexität und Ambivalenz der Argumentation jener nicht umsonst als "schwer lesbar" berüchtigten Theoretiker zwar immer wieder betont, eine geeignete Darstellungsweise jedoch nicht gefunden. Die Balance zwischen der Klarheit und Einfachheit eines Einführungsbandes und einem der Komplexität des Gegenstands angemessenen Diskussionsniveau wird vor allem durch die Vielfalt der angesprochenen Aspekte gestört. Anstelle der zahlreichen Verweise und nur knapp angedeuteten Zusammenhänge hätte man sich eine stärkere Fokussierung auf einige Schlüsselfragen gewünscht, für die dann mehr Raum geblieben wäre. Gleiches gilt auch für die Ausführungen zu Bhabha. Auch diesem eilt der Ruf der Unverständlichkeit voraus, was eine besondere Herausforderung für einen einführenden Text bedeutet. Und auch hier gelingt es den Autorinnen nur teilweise, für die komplexen theoretischen Figuren - im Zentrum stehen die Konzepte Stereotyp, Hybridität und Mimikry - eine eigene Sprache zu finden. Große Teile des Kapitels sind eher Paraphrasen Bhabhas (häufig in indirekter Rede) als eine systematische Erklärung in eigenen (einer Einführung auch stilistisch angemessenen) Worten.

Gerahmt werden die drei Abschnitte zu Said, Spivak und Bhabha von einem Einleitungskapitel, das die historische Entwicklung der postkolonialen Theoriebildung beleuchtet, und einem eigenen Kapitel zur kritischen Auseinandersetzung mit den postkolonialen Theorien, das einen guten Überblick der zahlreichen Positionierungen und inneren Diskussionen gegenwärtiger Ansätze zu Postkolonialismus, Globalisierung und Migration gibt. Die umfangreiche Aufarbeitung der verschiedenen Positionen der Debatte ist mithin Reiz und Manko des Bands zugleich. Während der mit der Diskussion vertraute Leser den zusammenfassenden Überblick insbesondere der kritischen Diskussion zu schätzen wissen wird, dürfte eher enttäuscht sein, wer eine jargonfreie Präzisierung der komplexen Theorie erwartet.


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Maria do Mar Castro Varela / Nikita Dhawan: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung.
Transcript Verlag, Bielefeld 2005.
162 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-10: 3899423372

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