Der Schiffbruch der Moderne

Ein neues Buch über das Floß der "Medusa"

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Jahr 1816 wird vor der westafrikanischen Küste ein Gefährt von einem Schiff gesichtet. Fünfzehn Männer befinden sich darauf, mehr tot als lebendig. Schrecklicher als ihr Zustand ist der Umstand, dass 135 andere, die mit ihnen hier Rettung suchten, verschwunden sind. Als ein Schauplatz, auf dem "die Ideale der Zivilisation zerschellten" (Jörg Trempler), findet das 20 Meter lange und 8 Meter breite Fahrzeug seinen Platz im Gedächtnis der Menschheit: das Floß der "Medusa". Großen Anteil daran hat das monumentale Gemälde gleichen Titels von Théodore Géricault, ein Viertel so groß wie das Floß, ein Skandalerfolg seinerzeit im Pariser Salon und bis heute tausendfach abgebildet und karikiert, in ungezählten Aufsätzen und Büchern als Menetekel der Moderne interpretiert.

Eine exzellente Antwort darauf, wie es dazu kommen konnte, gibt eine Neuausgabe des Berichts zweier Überlebender, Jean-Baptiste Henri Savigny und Alexandre Corréard. Der verstörende, detailreiche Quellentext über den Schiffbruch der französischen Fregatte "La Méduse" wird hier mit einem klug kommentierenden Nachwort und einem sehr anregenden Essay über das Bild verbunden.

Die Tatsachen fasst Johannes Zeilinger im Nachwort vorbildlich zusammen: Am 2. Juli 1816 läuft die "Méduse" wegen ihres unfähigen, unerfahrenen Kommandanten Hugues Duroy Vicomte de Chaumareys auf die gefährliche Arguin-Sandbank auf und zerbricht binnen kurzem. Da es um die Disziplin zuvor schon schlecht stand, brechen jetzt Panik und Chaos aus. Für die 400 Personen an Bord gibt es nicht genügend Rettungsboote, weshalb man ein Floß aus Planken und Mastteilen zimmert, allerdings ohne weitere Auftriebskörper. Eigentlich für 200 Personen bestimmt, sinkt es schon mit 150 so tief, dass die Wellen über die Hüften der Schiffbrüchigen reichen. Ihr Unglück wendet sich ins Tödliche, als die Rettungsboote mit dem Rest der Besatzung, die auf die gar nicht so ferne Küste zuhalten, das Tau kappen, mit dem das Floß geschleppt werden sollte. Sie lassen es zurück ohne Anker, ohne Segel, ohne Ruder, ohne zureichende Vorräte und retten sich selbst. In den folgenden vier Tagen regiert der Wahnsinn: Parteien bilden sich und kämpfen in ebenso sinnlosen wie brutalen Nacht-Schlachten. Manche wollen das Floß zerstören, um lieber schnell zu sterben. Wellen fegen Schwache ins Meer, andere werden gestoßen, erdrückt oder exekutiert, wenn sie Vorräte stehlen. Je mehr sterben, umso mehr hebt sich das Floß aus dem Wasser. Nach drei fürchterlichen Tagen beginnt man, Exkremente zu essen, wenig später die Toten. Und das Töten hört nicht auf. Als nur noch 27 übrig sind, entscheiden die Stärkeren, zwölf hätten keine Überlebenschance, woraufhin sie von Bord gestoßen werden. Jetzt schwimmt das Floß wirklich frei. Nach insgesamt zwölf Tagen rettet man fünfzehn Elende, von denen fünf wenig später an Land sterben.

Schon im Jahr nach der Katastrophe veröffentlichten Jean-Baptiste Savigny und Alexandre Corréard ihr Buch. In der jetzigen Neuausgabe wird eine - vorsichtig modernisierte - Übersetzung von 1818 präsentiert, die deutlich besser als andere (stets gekürzte!) die erschütternde Lakonie und geradezu literarische Qualität des Originals bewahrt, das sich um Objektivität bemüht und doch deutlich als Rechtfertigung und Anklage zu erkennen ist.

Historisch wie seemännisch hellsichtig belegt Johannes Zeilinger in seinem Nachwort, dass es in puncto Schuld nicht um den Kannibalismus ging, der als ultima ratio Schiffbrüchiger akzeptiert wurde, sondern vielmehr um Kompetenzprobleme, Pflichtverletzungen, Persönlichkeitsdefizite des Führungspersonals, die wiederum mit politischen Ereignissen zusammenhingen. Kurz nach dem endgültigen Sturz Napoleons kam es bei der Besetzung von Ämtern nicht auf Erfahrung oder Fähigkeit an: Königstreue zählte. Der Kommandant der "Méduse" war dafür ein schlimmes Beispiel. Seine kurze See-Karriere lag viele Jahre zurück, als er das Kommando für ein Geschwader von vier Schiffen erhielt. Unter den Offizieren an Bord gab es dagegen sehr erfahrene Seeleute, die allerdings den Makel aufwiesen, unter Napoleon gedient zu haben. Misstrauen, Dünkel, Zwist, Disziplinlosigkeit potenzierten sich in der Notsituation - mit tödlichen Konsequenzen.

Die Öffentlichkeit empörte der politische Skandal und das Verhalten der Schiffsführung, zumal sich angesichts dieser Katastrophe zwanglos die altehrwürdige Metapher vom Staatsschiff einstellte. Maßlos entsetzt aber war man über den - im Vergleich zu anderen Unglücksfällen - rasanten Zusammenbruch zivilisatorischer Normen an Bord des Floßes. Wie schwach waren Vernunft, Religion, Anstand, wie dünn der Firnis der Kultur!

Auch deshalb erregte die großformatige bildliche Darstellung die Salon-Besucher besonders, obwohl Géricault - scheinbar euphemistisch - den Moment der Rettung zeigte, noch dazu stilisiert und ästhetisiert: Man muss sich nur die muskulösen, antikischen Körper der Lebenden und der Toten auf dem Floß ansehen. Auf Skizzen hatte er dagegen noch kannibalische Szenen oder blutige Kämpfe festzuhalten versucht. Géricault mied wohl realistische Drastik, weil nichts so schrecklich dargestellt werden kann, wie es sich die Fantasie des Betrachters ausmalt.

Weit über solche Beobachtungen hinaus interpretiert Jörg Trempler Géricaults "Floß der Medusa". In seinem geistreichen, gut illustrierten Essay verfolgt er die Entwicklung des Bilds, klärt über seine historische Stellung auf und weist seine Wirkung auf Peter Weiss, Julian Barnes oder die "Asterix"-Comics nach. Der Stil des Augenblicks interessiert ihn sowie die Korrespondenzen zwischen scheinbar objektivem Pressefoto und scheinbar subjektivem Gemälde. Er fragt danach, warum Géricault das rettende Schiff auf dem großen Bild derart klein malt, dass es vielen Betrachtern unter den Bedingungen der Originalhängung nicht aufgefallen sein wird, und begründet, warum "Das Floß der Medusa" kein Historienbild ist, sondern vielmehr - und seit 200 Jahren erfolgreich - auf Gegenwart und Zukunft zielt.


Titelbild

Jean-Baptiste Henri Savigny / Alexandre Corréard: Der Schiffbruch der Fregatte "Medusa". Ein dokumentarischer Roman aus dem Jahr 1818.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2005.
256 Seiten, 22,80 EUR.
ISBN-10: 3882218576

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