Wo kommen eigentlich Paradigmen her?

Anmerkungen zu Astrid Gehlhoff-Claes' Dissertation "Der lyrische Sprachstil Gottfried Benns"

Von Carolina KapraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carolina Kapraun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wieso erscheint eine Dissertation 50 Jahre nach ihrer Annahme? Diese Frage lässt sich in zweierlei Hinsicht beantworten. Zum einen, weil sie bis heute gültige Ergebnisse liefert, die die Forschung - so die der Publikation zu Grunde gelegte Erwartung - auch noch im Nachhinein nachhaltig befruchten kann. Zum anderen, weil sie wissenschaftsgeschichtliche Relevanz besitzt.

Der Verlag ging wohl von Ersterem aus, zumal es im Klappentext heißt, die Dissertation sei "eine kleine literaturwissenschaftliche Sensation", die "dabei zu noch heute gültigen Ergebnissen gelangt". Schon in der der Dissertation vorgeschobenen persönlichen Stellungnahme der Autorin, die in der Art eines imaginierten Briefes an den bereits fast 50 Jahre verstorbenen Dichter Gottfried Benn gerichtet ist, kommen dem unvoreingenommenen und bislang noch geneigten Leser angesichts solcher Euphemismen erste Zweifel. Zu sehr wird Benn als Person und Autor von der Autorin für ihr eigenes Leben vereinnahmt: "Schmerz wird [von Benn] als Privileg, als Mitgift der dichterischen Berufung aufgefaßt. Das war meine Brücke, mein Band; in meinem dunklen Leben damals meine Traumnahrung. Ich schrieb schon selbst Gedichte, und meine lyrischen Motive waren oft Ihren gleich: die Natur - Blumen, Bäume, Vögel -, Schreiben und Einsamkeit."

Auch die Zielsetzung und das eigene Vorgehen muten wissenschaftlich so gar nicht gegenwärtig an, da die Dissertation den heutigen Standards einfach nicht genügt - etwa wenn davon die Rede ist, dass "das Gesetz der stilistischen Phänomene einer Dichtersprache dadurch zu finden [sei], daß wir die Verknüpfung von Ausdruck und Wesen des Dichters zu erkennen suchen", weshalb Gehlhoff-Claes vorschlägt, "die Kenntnis der Dichterpsyche gerade als Mittel für eine exakte Deutung der einzelnen Stilmerkmale" einzusetzen, indem die Prosa, "vor allem de[r] selbstbiographische Roman Doppelleben" zur maßgeblichen Bezugsgröße erhoben wird - ohne die genauen Maßgaben für dieses doch recht problematische Vorgehen offen zu legen. Nicht nur der biografistisch-psychologistische Zugang zum Œuvre Benns, auch die naive Ineinssetzung von Werk und Dichterleben müsste sich vor der Folie der heutigen Praxis einige Kritik gefallen lassen.

Die textimmanent betriebene Stilforschung, abgelöst von detaillierten Einzelinterpretationen oder systematischen poetologischen Fragestellungen gibt sich, auch wo sie wertend sein will, überwiegend mit der Deskription der Sprachverwendung Benns zufrieden, da es ein Textäußeres nicht zu geben scheint, und nimmt sich - vor allem im Rahmen der Untersuchung Benn'scher Zentralworte - eher aus wie eine kommentierte Wortkonkordanz. Auch kommt die Autorin oftmals zu apodiktischen, für den Leser nicht ganz nachvollziehbaren Deutungen. So wird etwa der Fremd- und Fachwortgebrauch Benns als elitistische Absicht des Autors gedeutet, als ein Sich-Abschließen vor den Lektüren ungebildeter Leser. Der Effekt, den Benns Texte womöglich hatten und der intendierte und bewusste Wille, einen Elitismus zu pflegen, gehen jedoch von zwei verschiedenen Prämissen aus und lassen sich ohne plausible Beweisführung nicht ohne Weiteres gleichsetzen. Eine These also, die sich wahrscheinlich weder aus dem Text, noch durch autobiografisches Material wirklich beweisen ließe und von der Autorin auch nicht belegt wird.

Die Relevanz der Studie für die gegenwärtige Forschung muss vor diesem Hintergrund folglich leider bezweifelt werden. Als erste Dissertation zum lyrischen Werk Benns, die noch zu Lebzeiten des Autors fertiggestellt wurde, besitzt die Arbeit aber tatsächlich eine wissenschaftsgeschichtlich interessante Dimension. Die in der Tradition der stilgeschichtlichen Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg stehende Studie veranschaulicht die literaturwissenschaftliche Arbeitsweise eines textimmanenten Verstehens a la Spitzer, Staiger, Kayser oder Walzel und macht Forschungsinteresse sowie methodisches Vorgehen dieser Zeit anschaulich. Vor diesem Hintergrund ist sie sicherlich ein wichtiges Zeugnis für die Geschichte unseres Fachs. Mitunter ließen sich Traditionsspuren, gerade in der Benn-Forschung, auch für nachfolgende Arbeiten zumindest bis in die späten 80er Jahre nachweisen, die oftmals ein ähnliches methodisches Vorgehen an den Tag legten, dem Paradigma der textimmanenten Methode folgten und sich erst langsam für den Methodenwandel in der Literaturwissenschaft öffneten - ein Indiz dafür, wie lange die Erschließung des Benn'schen Œuvres auf die ihr eigene Tradition rekurrierte.

Warum also eine Veröffentlichung nach 50 Jahren? Der Blick auf die letzte Seite des Buches lässt ferner eine dritte, paratextuelle Antwort auf die eingangs gestellte Frage zu: Die Dissertation als Stilisierungs- und Werbefläche für die eigene 2002 erschienene Autobiografie? Der hier abgedruckte Werbetext - eine Besprechung von Florian Illies in der FAZ - für den hier "ein spätes Selbstportrait der Autorin als junger, aufmüpfiger Dichterin" vorliegt -, sowie der vom Verlag gesetzte Hinweis auf die eigene Homepage, von wo aus eine "Leseprobe" und eine "versandkostenfreie Bestellung" des Werks möglich ist, lässt den Leser eine solche Vermutung zumindest kurz in Erwägung ziehen.


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Astrid Gehlhoff-Claes: Der lyrische Sprachstil Gottfried Benns.
Grupello Verlag, Düsseldorf 2003.
198 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-10: 3899780086

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