Adapted from a true story

Rainald Goetz vollendet seinen Heute-Morgen-Zyklus mit der Erzählung "Dekonspiratione"

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine junge Frau, Studentin, hat sich von ihrem Freund getrennt und fährt - um auf andere Gedanken zu kommen - nach München. Katharina hat den Respekt vor Benjamin verloren, dem ewigen "Talent im Wartestand". Der Streit war eigentlich unerheblich, "es gab kein Geschrei und kein Gezeter"; aber Katharina musste einen Schnitt vollziehen, scharf und ansatzlos wie eine Exekution.

Die Krise kommt später, im Zug nach München, kurz hinter Kassel, unterbrochen nur von Momenten der Zuversicht, "dass alles richtig ist. Dass alles gut wird." Benjamin bleibt in Berlin zurück. Er arbeitet für die Firma "Public Sword" und entwickelt neue Formate für Talkshows. Aktueller Auftrag ist die Reformierung der Harald-Schmidt-Show. Die neue wöchentliche Talkshow, so das Konzept, soll "Nothing Special" heissen und nach Art des "Literarischen Quartetts" über Sendungen der jeweils vergangenen Woche diskutieren.

Ein Hauptgegenstand der Erzählung "Dekonspiratione" ist - ganz klar - unsere Medienwelt. Kein anderer Schriftsteller setzt sich so intensiv mit den Medien auseinander wie Rainald Goetz, kein anderes Œuvre wird so direkt von Daten aus der Medienwelt gespeist wie seines. "Dekonspiration" meint dabei das Gegenteil von "Konspiration", meint "Offenbarung" und "Enttarnung". Es geht um die Freilegung und Bestimmung der Mechanismen, der "Arbeitsprinzipien", der "Ziele und Absichten", auf deren Basis konkret Programm- und Medienpolitik betrieben wird. Goetz leitet den Begriff der Konspiration aus dem "Wörterbuch der Staatssicherheit" her, und er verhandelt in seiner Erzählung den Fall des IM Schrödinger, der - just enttarnt - mit "Barschel-Blick" der Medien-Hetze zu entkommen sucht: "Realität als Grauwert, Schuld, Verfahren, Bemühen, Moral. Aber ordentliche Zertifikate für Güte und Richtigkeit, für Nicht so Böses und den einen Augenblick von vielleicht alles entscheidendem Takt auch nur, mehr nicht [...]. Dieses ganze Gewurle des Lebens. Eine Banalität, klar. Aber in einem konkreten einzelnen Fall diesen Aspekt wirklich zu erwägen ist nicht banal: wie die Schuld im Einzelnen passiert, gesellschaftlich alltäglich und praktisch fast nur in mikroskopischer Dimension."

Überhaupt hat Zeitgeschichte in dieser Erzählung ihre Spuren hinterlassen. Viele Daten aus der wirklichen Welt geben uns Orientierung: Die Dokumenta X von 1997, die Entmachtung Sigrid Löfflers als Kulturchefin der "Zeit" im Sommer 1999, der 11. August, der Tag der Sonnenfinsternis, der Krieg auf dem Balkan und der Einsatz von Nato-Truppen. Ein Ereignis, der Machtwechsel 1998 in Bonn, fällt mit einer schweren Krise des Erzählers zusammen. Dieser Erzähler hat, wie Goetz, gerade ein Mammut-Projekt zu bewältigen, eine rasche Abfolge von Büchern, identifizierbar als das Theaterprojekt "Jeff Koons", die Textsammlung "Celebration", das Internet-Tagebuch "Abfall für alle" und die Erzählung "Dekonspiratione", das Gegenstück zur bereits erschienenen Erzählung "Rave" (1998). "Dekonspiratione" soll das Mittelstück jenes umfassenden Leben-Werk-Projekts werden, das unter dem Harald-Schmitt-Motto steht "Heute morgen, um 4 Uhr 11, als ich von den Wiesen zurückkam, wo ich den Tau aufgelesen habe".

Die Fertigstellung hat Vorrang, aber sie verzögert sich. Die Krise, die den Autor erfasst hat, wird existenziell. Es dauert, bis sich der erschöpfte Erzähler an den Gedanken gewöhnt und sein Scheitern akzeptiert: "Ich nehme die Kapitulation an." Der realen entspricht eine fiktionale Kapitulation und wird später Teil der Darstellung. Mit "Krise" ist das vierte Kapitel der Erzählung "Dekonspiratione" überschrieben, die erst mit einem Jahr Verzögerung erscheinen kann.

Ein Aspekt dieser Erzählung bedarf der besonderen Hervorhebung: Denn alles, was in "Dekonspiratione" erzählt wird, hat offenbar einen realen Hintergrund. Der Ich-Erzähler, der hier auftritt, scheint mit Rainald Goetz identisch zu sein. Alle Daten seiner biografischen Realität entsprechen genau der Lebensrealität des Erzählers - soweit man das als Aussenstehender und als Leser etwa des Internet-Tagebuchs "Abfall für alle" beurteilen kann. Wenn es aber real ist, wie kann es dann Fiktion sein? Welchen Stellenwert hat dann das Buch für unsere Literatur? Und wie dürfen wir das Wort "Erzählung" verstehen, die Gattungsangabe von "Dekonspiratione"?

Offenbar geht es dem Projekt darum, beides zu sein, Literatur und Realität, offensichtlich möchte der Autor eigene Erfahrung "in die Nähe richtiger Literatur" führen, um genau den Punkt zu treffen, wo die dargestellte Welt gerade noch autobiografisch vor-literarisch ist (und auch als solche erkennbar), streng genommen aber schon der Literatur zugeordnet werden muss. Denn "Dekonspiratione" erscheint im literarischen Programm eines angesehenen Verlages, nennt sich "Erzählung", funktioniert ganz pragmatisch markttechnisch als literarische Neuerscheinung und entfaltet fiktionale Erzählstrategien. Das autobiografische Wissen über Rainald Goetz ist daran gemessen sekundär und per se irrelevant. Nicht jedoch für die Poetologie, die Goetz mit seinem Projekt verbindet und auch mehr oder weniger explizit zum Ausdruck bringt. Ihm geht es, genauer, seinen Texten geht es um die Realisierung einer solchen "pragmatisch-ideale[n] Real-Poetologie", die quasi "experimentell" am Schreiber-Ich entlang entsteht.

Das klingt theoretisch kompliziert und ist es wohl auch. Bezogen auf die konkrete Umsetzung durch Rainald Goetz ist diese Poetik weniger kompliziert, weil Goetz auch Theorie wunderbar zu erzählen weiss: "Das ist mein Buch über das Schreiben", sagt er im Krisen-Kapitel, "das ich hier erlebe, das sich hier abspielt, und ich bin selber mitten drin, ich bin zu nahe dran. Ich kann es nicht schreiben."

Schreiben kann er es schließlich doch. Und offenbar gelingt Rainald Goetz hier das Besondere: Eine Erzählung am Leitfaden der eigenen Erfahrung zu entwickeln, gleichwohl ein "strenges Programm" einzuhalten und zugleich literarische Kompositionstechniken zu erproben, die nicht einfach aus der Tagebuchform oder der Autobiografik entlehnt sind. So werden die einzelnen Kapitel ›streng programmatisch‹ durch gezielte Textgesten vielfach miteinander verknüpft.

Am Ende bestätigt sich Katharinas Zuversicht: Alles wird gut, wenn auch das neue Konzept für die Harald-Schmidt-Show scheitert. Katharina und Benjamin finden wieder zusammen. Christian bekommt seinen Text für die Anthologie "Mesopotamia". Der Ich-Erzähler reformiert sein Erzählprojekt und vollendet seine helle Erzählung "Dekonspiratione" als Gegenstück zu "Rave". "Später", heisst es gegen Ende, "taumelten wir selig durch den Raum. [...] Neben mir spürte ich den Körper der Frau, in die ich verliebt bin."

Titelbild

Rainald Goetz: Dekonspiratione.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
200 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3518411225

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