Eingeklemmtes Leben

Ralf Rothmanns Roman aus der Bergarbeiterwelt

Von Monika PapenfußRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Papenfuß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bedrückung kennzeichnet das Leben der Bergarbeiterwelt im Ruhrgebiet Ende der 60-er Jahre. Der halbwüchsige Simon, der hier mit seiner Familie lebt, spürt die Last der Schulden seiner Eltern für ein Glück auf Raten, die Resignation des Vaters, ausgebrannt von der harten Arbeit unter Tage und immer noch seinem Leben als Melker in Schleswig-Holstein nachtrauernd, und im krassen Gegensatz dazu den unstillbaren Lebenshunger seiner Mutter. Das Leben der Familie, ihrer Nachbarn und Freunde stellt sich in vielen einzelnen Episoden dar. Daraus ergibt sich am Ende ein trauriges Gesamtbild, das die Ausweglosigkeit, der Enge zu entfliehen, einfängt.

Die Findigkeit der Mutter, Geld für Zigaretten, Kaffee und Stoffe für aufreizende Kleider zu organisieren lässt sie nicht einmal vor den dürftigen Ersparnissen ihrer Söhne haltmachen.Bei ihren ausschweifenden Tanzvergnügungen am Wochenende lässt sie den müden Ehemann mit einem Bier auf der heimatlichen Wohnzimmercouch zurück. Hassanfälle hat der kleine Bruder Thomas gegen sie und Simon flieht aus dem Alltag auf dem frisierten Motorrad seines Freundes. Richtig eskaliert die Situation jedoch erst, als die Mutter sich in eine Italiener verliebt und die Familie zu verlassen droht.

Meisterhaft lässt Rothmann durch viele kleine Beobachtungen der Menschen, ihrer Gefühle und Sehnsüchte, ihrer Versuche, sich durchs Leben zu lavieren und dabei ein bisschen Glück zu erhaschen, eine Dichte entstehen, die ihr Leben nachempfindbar macht. Erleichternd, dass der Autor beschreibt, nicht aber moralisiert, auch wenn der Egoismus der Mutter oberflächlich als Ursache allen Übels erscheint. Gekonnt, wie es ihm gelingt, dies allein durch den Aufbau zum Ausdruck zu bringen: Zu Beginn und zum Schluss der Erzählung ihr Tod, dazwischen quasi eingeklemmt ihr Leben, das sie fröhlich wollte, bunt und abwechslungsreich, das sie erwartungsvoll und mutig begann. Der erwachsene Simon steht ihr in den letzten Tagen ihres Lebens bei. Er lässt an ihrem Krankenbett ihr Leben Revue passieren und scheint zumindest im Angesicht ihres nahen Endes mit ihr versöhnt. Ihren letzten hilflosen Versuch, ihrem Leben ein Stück Tiefe zu geben, kann er nicht zerstören. So nickt er zustimmend, als sie mühsam herausbringt: "Da muss ich den Alten ja doch geliebt haben, wenn ich ihm so schnell nachsterb. Oder?"

Titelbild

Ralf Rothmann: Milch und Kohle.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
216 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3518411268

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