Gottfried Benn - ein Expressionist?

Überlegungen zu einem Paradigma der Literaturgeschichtsschreibung

Von Carolina KapraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carolina Kapraun

Gottfried Benn wird als Autor gemeinhin - zumindest was die Frühphase seines Schaffens anbelangt - der literarischen Strömung des "Expressionismus" zugerechnet. Allerdings müsste eine solche Zuordnung, die in einer beträchtlichen Zahl literaturwissenschaftlicher Publikationen als unreflektierter Automatismus wirksam ist, erst einmal kritisch geprüft werden.

Zu fragen wäre: 1. Was genau bezeichnet der "Expressionismus"-Begriff? Welche Merkmale liegen einer Klassifizierung von Texten als "expressionistisch" zu Grunde? 2. Welche Übereinstimmungen lassen sich zwischen den Texten Benns und den vermeintlich "epochenspezifischen" Parametern feststellen? 3. Welche Probleme ergeben sich gerade für die Betrachtung des Benn'schen Werks durch eine spezifisch literaturhistorische Zuordnung?

Festzuhalten ist, dass der literaturhistorische Sammelbegriff der "Epoche" oder "Strömung" die Interpretation der mit dem Etikett einer bestimmten "Epochenzugehörigkeit" belegten Texte maßgeblich beeinflusst, insofern abstrakte, als unhinterfragte kognitive Orthodoxien wirksame, oftmals zu unspezifisch gebrauchte "typische" Merkmale literaturhistorischer Provenienz die hinlängliche Erschließung eines Einzelwerks eher behindern als befördern.

Die Explikation eines literaturhistorischen Sammelbegriffs vorzunehmen, ist schwierig. Will man Texten nicht nur einen Namen, der auf einer einfachen, "linearen" Lexemzuweisung basiert, sondern einem literaturhistorischen (Sammel-)Begriff zuordnen, müssen die als klassifikatorische Kriterien herangezogenen Textmerkmale bzw. die im weitesten Sinne kulturellen Spezifika eines als "Epoche" oder "Stilrichtung" ausgewiesenen Zeitraums eine eindeutige Zuordnung gestatten, was zunächst deren adäquate inhaltliche Bestimmung voraussetzt. Nun macht aber bereits die Auswahl trennscharfer Kriterien zwangsläufig eine Interpretation des zu Grunde liegenden Textkorpus notwendig, unter anderem also die Auswahl und Hierarchisierung der als epochentypisch befundenen Textmerkmale. Auch eine historisch gestützte Begriffsgebrauchsempfehlung basiert demnach auf einer Trias von Interpretation, Wertung und Selektion. Die Zirkularität, die hier entsteht, ist rückführbar auf die literaturhistorische Praxis, dass das heuristische Suchraster selbst aus der Interpretation erwachsen muss. Die so als jeweils literaturhistorisch veranschlagten Merkmale können indes nur soweit zutreffend sein, als die Interpretation selbst zuvor gegenstandsangemessen war.

Die hinreichende Erschließung von Bedeutungsdimensionen eines als epochenzugehörig klassifizierten Textes und deren Beurteilung hinsichtlich der Erstellung einer für die Epoche bzw. literarischen Unterströmung paradigmatischen Merkmalsmatrix sieht sich vor folgende Schwierigkeiten gestellt: Die Ausformulierung eines bestimmten Bewertungskanons basiert auf der Korrelation eigener lebensweltlicher Normen und Erfahrungen des Bewertenden zum Zeitpunkt der Interpretation mit der Kenntnis des zeitgenössischen "Wissens" bzw. des zu Grunde liegenden Quellenmaterials.

Nicht selten äußert sich hier das Übergewicht eines auf die Gegenwart bezogenen Interpretationshorizonts. Die "Riesenepoche Moderne" suggeriert (schon als Bezeichnung) eine Homogenität der letzten 100 Jahre, die bei näherer Betrachtung nicht gegeben ist, und beinhaltet eine zentrale Crux der Expressionismusforschung, die die spezifische Fremdheit des untersuchten Zeitraums übersieht, indem sie sich an einem Konzept von Nachvollziehbarkeit orientiert, das zwar auf den ersten Blick unmittelbar einleuchtet, wenn es eine Kontinuität von Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungspositionen des letzten Jahrhunderts gestattet, beispielsweise über eine Analogisierung heutiger und zeitgenössischer Großstadtwahrnehmung; die Rückprojektion gegenwärtiger Deutungsmuster (manifest etwa in der Frage nach der Aktualität eines Werks) aber wird der spezifischen Fremdheit der Literatur der Jahrhundertwende nicht gerecht.

In zahlreichen Einführungswerken zur Jahrhundertwende wird dieser spezifischen Fremdheit in der Regel mit dem Hinweis auf die soziopolitische Lage um 1900, den Beginn der Industrialisierung, den Ersten Weltkrieg und die Entdeckung des Unbewussten durch Freud Rechnung getragen. Ein dem Gegenstand inhärenter Bezug auf der Gegenwart völlig entrückte geistesgeschichtliche, evolutionsbiologisch oder naturphilosophisch fundierte Ideen und Begriffe wird dabei bislang noch größtenteils übersehen.

Das "expressionistische Suchraster" geht - so die These - zumeist von einem gegenwärtigen Verstehenshorizont aus, der "sekundär dunkle" Bedeutungsdimensionen mit auf die Gegenwart Bezug nehmenden Verstehensmustern nivelliert. Der Text wird damit aber zum Exemplar einer schematisierten Literaturbetrachtung, die lediglich findet, was sie sucht bzw. vorher als heuristische Annahme formuliert hat.

Der Glaube, der Zeitenabstand, der für die Literatur der frühen Moderne als gering eingeschätzt wird, sei kein wesentliches literaturwissenschaftliches Problem, übersieht, dass sich die expressionistische Symbolik, die Ikonografie oder auch der diskursiv gebundene Begriffsgebrauch ohne detaillierte Quellenstudien nicht erschließen lassen.

Um sich den unzureichenden, unspezifischen, bisweilen auch reduktionistischen, gegenwärtigen Umgang mit "expressionistischen Textmerkmalen" vor allem in Einführungstexten vor Augen zu führen, genügt ein Blick in die einschlägigen Lexika und Überblicksdarstellungen. Unter dem Schlagwort "Expressionismus" firmieren Typologisierungsschlagworte wie etwa "Ausdruck einer Stimmung eines notwendigen neuen Anfangs", der "die Suche nach neuen Denk- und Lebensformen" zu beschreiben sucht. Nicht nur die Ungenauigkeit dieser Begriffe ist zu bemängeln: "Stimmung eines Neuanfangs" und "Suche nach neuen Denk- und Lebensformen" dürften kaum distinkte, expressionismusspezifische Parameter sein. Worauf sollen sich solch relationalen, intuititv erspürten Begriffe beziehen? Einen politischen, sozialen, literarischen, geistesgeschichtlichen, philosophischen Neuanfang? Einen Neuanfang in welche Richtung? Neu in Bezug auf was genau? Wovon wird hier eine Abgrenzung vorgenommen? Weitere stereotype Beschreibungsmuster, die der expressionistischen Lyrik und Prosa gerecht werden wollen: "Ich-Dissoziation", "Realitätszerfall", daraus hervorgehend eine Aufgabe der mimetisch-homogenen Erzählkonzeption, "Problematik des Industriezeitalters", "Verstädterung", "Kriegs- und allgemeine Krisenerfahrung", "Sprachkrise" oder "Anonymität und Massenerfahrung".

So richtig diese Feststellungen auch sein mögen, als Beschreibungskategorien taugen sie wenig, als in die "Epoche", in den Expressionismus einführende Interpretationshilfen gar nicht, versteht man unter einer Interpretation ein hermeneutisches Verfahren, das über bloße, weitgehend unspezifische Deskription hinausreichen soll. Schließlich bedeutet die Offenheit dieses allzu weitreichenden Begriffsinventars auf der anderen Seite lediglich einen spezifischen Mangel an Präzision bzw. gibt einen Hinweis darauf, dass die Begriffsexplikation des literaturhistorischen Sammelbegriffs gegenwärtig so allgemein gehalten ist, dass sie für eine Klassifizierung von Texten als "expressionistisch" nicht distinkt genug ist. Im Gegensatz zu einer Merkmalsauflistung, die, wenn auch unspezifisch und ohne Hierarchisierung, die Vielschichigkeit einer Epochenbeschreibung zu erhalten vermag, führt die Auswahl angeblich distinkter Merkmale, je abstrakter und begrenzter der Merkmalskatalog ist, zu einer Inadäquatheit der Explikation, da sie 1. nicht gestattet eine disjunkte Zuordnung vorzunehmen und 2. zu einer Nivellierung, Vereinseitigung und Unterdifferenzierung führt. Als gängige, wenn auch kleinste Schnittmenge, ist sie für ein Epochen- oder Stilverständnis allgemeinhin allerdings durchaus prägend. Wahrscheinlich ist auch, dass sie als Spiegel gängiger Expressionismusforschung einen Hinweis gibt auf aktuelle fachwissenschaftliche Desiderate: Waren sowohl Wolfgang Stammler in der ersten Ausgabe des Reallexikons (bzw. der "Realenzyklopädie") von 1925/26 als auch Fritz Martini 1958 immerhin noch in der Lage avantgardistische Weltanschauung, metaphysische Orientierung, das für diese Zeit nicht zu unterschätzende Verhältnis der Expressionisten zur Natur und andere geistesgeschichtliche Grundgedanken auf knappstem Raum in Hülle und Fülle aufzulisten, beschränkt sich die 1997 im Reallexikon abgedruckte Begriffsexplikation zumeist auf stilgeschichtliche und tagespolitische Dimensionen, die allzu allgemein sind. Weniger gut dokumentierte, deskriptiv nicht nachvollziehbare Zusammenhänge, beispielsweise der spezifischen Naturerfahrung oder quellenspezifisches Wissen, sind mit der fortschreitenden Zeit, dem Zeitenabstand, so lässt sich vermuten, in Vergessenheit geraten.

Das Werk Gottfried Benns wurde von der Forschung bislang zumeist vor dem Hintergrund der Biografie und/oder ideologiekritisch interpretiert. Auch literaturgeschichtliche Lektüren lassen sich finden.

Eine literaturhistorische Zuordnung des Werks zum "Expressionismus" müsste nach den gängigen Standards der Klassifizierung über die Merkmale "Ich-Dissoziation", den "Aufbruchsgedanken" oder den "Realitätszerfall" erfolgen, die typische "Begeisterung für den technischen Fortschritt" bei gleichzeitiger "Zivilisationskritik" und der "Entdeckung des Archaischen in der Kunst", das "politische Engagement", die "vitalistische Gewaltverherrlichung" sowie gleichzeitig die "pazifistische Friedenspredigt", "atheistische" oder "christliche Grundhaltung", das Mittel des "Hässlichen" als "Symbol für die Deformation der zeitgenössischen Wahrheit", den notorischen Bezug auf Nietzsche und Freud. Das alles ließe sich sicher auch bei Benn - in welcher Form auch immer - durchaus finden. Wenn auch nur partiell, bisweilen marginal.

Stellt man also die Frage: "Ist Benn ein Expressionist", so lässt sie sich unter Bezugnahme auf die in der Forschung usuellen Merkmalsmatrices beantworten. Gemeinhin wird sie bejaht.

Die heuristische Prämisse, die dieser Frage zu Grunde liegt und die sich in ihrer Beantwortung festschreibt, alle Texte einer Epoche bzw. literarischen Unterströmung seien in einem gewissen Sinne homogen, selektiert und legitimiert - ähnlich wie der Werkbegriff auch - Interpretationskontexte. Über die kleinste Schnittmenge gängiger Klassifizierungsmerkmale kann so Einheit hergestellt werden, wo - im Sinne Michel Foucaults - die Diskontinuität, der Bruch, das Einzelne stärker fokussiert werden müsste. Was also seine Funktion betrifft, so etabliert der Epochenbegriff ein "expressionistisches Suchraster", nach welchem das zu untersuchende Werk abgeklopft werden soll.

Diese weder vom Text, dem primären Gegenstand selbst, noch wie Karlheinz Stierle dies 1987 formuliert, von "verschiedenen diskursiven Formationen, die auseinander hervorgehen und aufeinander aufbauen" ausgehende Werkbetrachtung, die auch heute noch - wie zahlreiche Publikationen im Benn-Jahr belegen - praktiziert wird, arbeitet mit der Methode der Parallelisierung, die zwar den deskriptiv-klassifikatorischen, mitunter formalen Vergleich mit anderen Texten zulässt, einer Interpretation allerdings eher hinderlich ist. Das literaturhistorische Wissen als literaturgeschichtliches Vorwissen vermag so das Spezifische des Gegenstands im Interpretationsprozess nicht nur nicht zu erschließen, sondern gar zu nivellieren, sofern es als Prämisse nicht permanent wieder aufs Spiel gesetzt wird.

Am Beispiel: Unter dem literarhistorischen Synthetisierungsdruck blieben bislang bei weitem mehr Spezifika des Benn'schen Œuvres vernachlässigt als berücksichtigt. Zwar lässt sich für die frühe Lyrik, die beispielsweise eine enge intertextuelle Bindung zu Georg Heym aufweist, durchaus behaupten, dass die typisch "expressionistischen" provokativen Bilder und auch die sich vornehmlich sprachlich niederschlagende Kulturkritik in typischer Weise präsent sind. Wie jedoch mit Benns eher naturalistisch beeinflusster Naturauffassung oder seiner populärwissenschaftlich inspirierten Neigung zum Metaphysischen zu verfahren sei, bleibt ungeklärt. Wilhelm Bölsche und die von ihm beeinflussten Schriften spielen bei Benn jedoch eine zentrale Rolle, die gar nicht überschätzt werden kann - und das bis in die 50er Jahre hinein.

Die Gefahr literarhistorisch orientierter Textinterpretation, sofern sie sich - sei es explizit, sei es implizit - auf literaturhistorische Typologisierungsmerkmale stützt, ersetzt in der Regel die Frage nach der Bedeutungsdimension und damit die dezidierte Interpretation. Mit dem Bezug auf ein scheinbar immergültiges, unhinterfragbares Paradigma - die "Epoche" bzw. die ihr zu subsumierenden Unterströmungen - umgeht sie aber eine argumentative literaturwissenschaftliche Beweisführung. Die Gefahr einer schematisierten Textinterpretation ist evident.

Das Beispiel des Benn'schen "Gehirn"-Begriffs: Die Beschreibung des Protagonisten Werff Rönne in Benns Rönne-Novellen erfolgt in der Regel über die "vorgefundene" "Ich-Dissoziation". Was dieses "expressionistische Schlagwort" anschaulich zu machen sucht, könnte aber über detaillierte Quellenstudien nicht nur beschrieben, sondern hinlänglich erklärt werden - auch in dezidiert poetologischer Hinsicht. Das "Gehirn" erweist sich dann weniger als ein schlichter Verweis auf die geistige, rauschhafte Verfassung des Protagonisten, sondern vielmehr als Schnittstelle, als Benn'scher Vorstellungskomplex, in dem zahlreiche zeitgenössische wissenschaftliche und philosophische Theoreme collagiert werden. Sowohl erbbiologisch (vgl. etwa Haeckels Histonalgedächtnis) als auch psychoanalytisch wird hier - um nur zwei der hier verknüpften Theorien zu nennen - ein mythischer Zugang zum Wesen und zur "Geschichte" des Menschen konstruiert, wird "Wahrheit" bzw. ein transzendentes "Sein" erfahrbar.

Die geistesgeschichtliche Dimension solcher Metaphern bleibt von der Epochensystematik, ebenso wie von einem biografischen oder ideologiekritischen Zugang aber unentdeckt, da sie statt mit dem Text zu argumentieren, lediglich auf eine Zuweisungsgewohnheit verweist. Dieses Manko ließe sich auf zahlreiche weitere Motiv- und Vorstellungskomplexe Benns übertragen: den Rausch-Begriff, den Form-Begriff, die Vorstellung vom "Ich", das Benn'sche Geschichtsverständnis etc. Der mit einer Epocheneinteilung unterstellte Homogenitätsgedanke, der - wenn überhaupt - nur auf einer Abstraktionsebene als "Modell" existiert, hat, so scheint es, fast jegliche literaturwissenschaftliche Differenzierungsfähigkeit eingebüßt. Seine integrative Funktion, Textmengen einander zuzuordnen, bewirkt auf der anderen Seite eine Exklusion spezifischer Bedeutungsdimensionen, die über den bislang noch zu eng gefassten Expressionismusbegriff nicht erschlossen werden können, da die Aufmerksamkeit für derlei Zusammenhänge noch ungeschult ist.

Sowohl Benns Werk als auch der "Expressionismusbegriff" sind Paradigmen der Literaturwissenschaft, die einander in der Wahrnehmung bedingen und neben der gegenseitigen Erhellung auch zu einer "Spirale der fortwährenden Reduktion von Komplexität" führen können; im Falle Benns äußert sich dies etwa auch in der gestellten bzw. nicht mehr gestellten Frage, ob dieser "Expressionist" sei. Ein nachnaturalistischer Bezug, der Bezug auf die "Konservative Revolution" oder auf wissenschaftliche wie metaphysisch orientierte Konzepte liegen außerhalb des dominanten Deutungsschemas "Expressionismus". Eine Hinterfragung der einer Typologisierung zu Grunde liegenden Prämissen und eine Öffnung hin auf neue Interpretationshorizonte könnte demgegenüber den Blick vom Exemplarischen zum Singulären bzw. Spezifischen und damit auch zu einer - zumindest partiellen - Modifikation des Expressionismusbildes, längerfristig gar zu einer - wie York-Gothart Mix dies unlängst postulierte - "relationale[n] Prämissen verpflichtete[n] Analyse von 'innerliterarischen' und 'außerliterarischen' Aspekten" führen. Benn könnte hierfür ein Paradigma sein.