Käfig der Gefühlseinsamkeit
Peter Stamm überzeugt auch mit seinem dritten Roman "An einem Tag wie diesem"
Von Georg Patzer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSentimental - das ist oft ein Vorwurf. Eigentlich heißt es nur: voller Gefühl. Und das ist doch nicht schlecht in einer Zeit, in der das "Funktionieren" im Vordergrund steht, der tadellose Ablauf einer gefühllosen Welt. Da kann etwas "Sentiment" doch nur ein gutes Gegengift sein.
So muss man auch Peter Stamms neuen Roman "An einem Tag wie diesem" lesen. Er erzählt von einem Schweizer Lehrer, Andreas, der in Paris wohnt, lustlos unterrichtet, lustlos lebt, lustlose Freundschaften und ziemlich lustlose Liebschaften unterhält, die nach der Uhr laufen: "Andreas liebte die Leere des Morgens" lautet ein Satz am Anfang, der ihn so richtig charakterisiert. Irgendwie weiß er, dass er nichts mehr zu erwarten hat, dass nichts mehr kommt in seinem Leben. Eigentlich könnte er sich umbringen, und tatsächlich träumt er manchmal, dass er spurlos verschwindet und nicht einmal vermisst wird.
Aber dann passiert etwas, das ihn einen recht seltsamen Aufbruch probieren lässt: Er liest eine Liebesgeschichte, einen kleinen, etwas kitschigen Roman, in dem er sich selbst wiederzuerkennen glaubt, sich selbst und seine Beinahaffäre mit Fabienne, einem Au-Pair-Mädchen, das er als Jugendlicher kennengelernt hatte, einmal küsste und die dann einen anderen heiratete. Er wird krank, ein hartnäckiger Husten will nicht mehr verschwinden, und er geht zum Arzt. Aber aus Angst vor der Diagnose, die in seinen Augen nur das Schlimmste bringen kann, holt er sich nicht die Resultate ab. Hals über Kopf kündigt er fristlos (es sind eh gerade Ferien) und verkauft seine Wohnung in Paris. Er kauft sich, sentimental wie er ist, ein 2 CV und fährt mit seiner neuesten Geliebte Delphine, einer viel jüngeren Kollegin, in sein Heimatdorf und zu Fabienne.
In langen Rückblenden erfährt der Leser auf dieser Reise von Andreas' Versuch, mit Fabienne eine Liebesbeziehung einzugehen. Er scheitert schon nach dem ersten Kuss an seiner völligen Unfähigkeit, seine Liebe zu gestehen: "Er brachte kein Wort heraus, nur ein Krächzen. Fabienne fragte, ob er etwas gesagt habe. Nein, sagte er, er habe einen rauhen Hals." In lang ausholenden Bögen erzählt Stamm auch das restliche, trostlose Leben von Andreas, seine Sehnsucht nach Liebe, sein Leben im sebstgewählten Stumpfsinn, als ob er dazu verurteilt wäre. Auf einer Deutsch-Lehrkassette hört Andreas einen Mann seinen Tagesablauf erzählen: Früh aufstehen, zur Arbeit fahren, abends fernsehen und zeitig zu Bett gehen. So öde ist am Anfang des Romans auch sein eigenes Leben beschrieben worden. Schließlich sieht er auch Fabienne wieder und weiß danach immer noch nicht, ob, wie er so pathetisch gemeint hat, alles anders geworden wäre, wenn sie sich wirklich gefunden hätten.
Stamms dritter Roman ist eine aufregende Lektüre, vor allem, weil er nicht aufgeregt erzählt. Ganz ruhig beschreibt er das grausig gefühlskalte Leben, das Andreas führt, die pubertäre Wut, mit der er in seinen Beziehungen herumfuchtelt und sie knapp beendet, wenn es ihm gerade einfällt. Nicht einmal einen Freund hat er: "Du bist allein, egal, mit wem du zusammen bist", sagte eine seiner Geliebten scharfsinnig. Umso eindringlicher wirkt der Erzählgestus, weil Andreas gar nicht merkt, wie schlecht es ihm geht, wie sehnsüchtig er ist, wie wenig er auch Delphine versteht, die sich um ihn kümmert, mit ihm in die Schweiz fährt und sich viel gefallen lässt, bis auch sie ihn verlässt. Fast analytisch, aber in bewegenden und sehr lebendigen Bildern beschreibt er Andreas' Kindheit, seinen Bruder, der im Heimatdorf lebt, die Beziehungsunfähigkeit und Gefühlseinsamkeit, in der Andreas lebt. Unterkühlt und doch gefühlvoll, mit präzise gesetzten und nie aufdringlichen Symbolen, meisterlich gekonnt erzählt Stamm die tiefe, bittere Ironie dieser Geschichte: dass sich einer in der eigenen Einsamkeit einrichten kann, dass hier einer ein ungelebtes Leben übersteht, dass einer alles Lebenswerte verpasst und doch normal erscheint.
Und so ist auch das Sentimentale nur ein Aspekt der philosophischen Tiefe dieses Romans, die Stamm lakonisch, fast schmucklos und alltäglich präsentiert. Und die Fallen, die solche Sentimentalität, solche Gefühlskraft beinhalten, stets vermeidet: Sogar am Schluss, als Andreas und Delphine sich doch noch umarmen, "so fest, dass es wehtat", selbst da wird man nicht darüber aufgeklärt, ob er nun doch Krebs hat oder nicht. Es ist nicht mehr wichtig: Er hat sich aus seinem selbstgebastelten Käfig befreit. Wie lange sein Leben nun noch dauert, ist egal: Es hat eben erst, wieder einmal, angefangen.
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