Selbstkonzeption und Selbstentäußerung

Aleida und Jan Assmans Publikation zu den kulturellen Dimensionen von 'Verwandlungen'

Von Oliver GeislerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Geisler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwei Überlegungen leiten das Langzeitprojekt einer "Archäologie der literarischen Kommunikation" (Hg. v. Aleida und Jan Assmann) und bilden die Klammer um die mittlerweile zahlreichen Bände dieser Reihe. Die "grammatologischen Themen kreisen um die Frage, auf welche Weise die Schrift und das Schreiben unsere Welt verändert haben." Die anthropologische Kehrseite dieser kulturwissenschaftlichen Medaille versammelt Überlegungen dazu, "in welcher Weise die Schrift den Menschen verändert hat, der sich schreibend und lesend ihrer bedient." Oder anders gesagt: es werden literarisch-kulturellen Konstituenten menschlicher Identität und Selbstbefragung aufgesucht.

Der nunmehr 9. Band - "Verwandlungen", der jener anthropologischen Perspektive zuzuschlagen ist, stellt die Fragen nach der Identität gewissermaßen von deren (veränderlichen) Rändern, Verunsicherungen und Verneinungen, aber auch von dessen spielerischen Aspekten aus. Verwandlung und Identität sind dabei "kein simples Oppositionspaar"; vielmehr wird, so der Vorschlag der Publikation, eine statische durch eine dynamische Auffassung von Identität ersetzt. Dem Begriff der Wesenseinheit (identitas) wird eine Selbstkonzeption im Plural zur Seite gestellt. Identitäten also, die im Akt der Verwandlung aufgesucht oder verlassen werden können.

Von dieser - in der Einleitung entwickelten - Programmatik wäre es nur ein kleiner Schritt zu dekonstruktiven, postkolonialen und allgemein postmodernen Denkfiguren der Pluralität und Hybridität, der Verneinung von Eindeutigkeit und Einheit. Von diesen 'Konzepten des Wandels' grenzen sich die Herausgeber in der Einleitung aber, mit größtmöglicher Trennschärfe, ab.

Der Beitrag von Aleida Assmann ("Kulturen der Identität, Kulturen der Verwandlung") treibt diese Unterscheidung dann weiter voran. Aleida Assmann entwirft eine äußerst kleingliedrige, wenngleich dadurch nicht leicht unterscheidbare Typologie von Formen der Transformation. Biologischen Wandel (Wachstum, Krankheit), Verstellung, Maskerade, Nachahmung und die Figur des Doppelgängers führt sie als Beispiele von Phänomenen des Wandels an. Dies aber letztlich nur, um ex negativo zu einer Bestimmung von Verwandlung zu gelangen. Die unumkehrbare Metamorphose, die religiöse Steigerung des Daseins und die Initiation als Einstieg in eine neue Seinsform sind dann jene Bereiche, die sie zur Begriffsbestimmung einführt. Die hierbei erlangte Präzisierung von Begriffen und Konzepten liefert einen hervorragenden Einstieg in die Thematik des Bands.

In den einzelnen Studien des Abschnitts 'Verwandlungskulturen' werden vor allem religiöse und rituelle Verwandlungen in den Blick genommen, die sich bis auf zwei Ausnahmen im außereuropäischen Raum vollziehen. Aus den Studien zu buddhistischen, hinduistischen und altirisch-keltischen Konzeptionen der Verwandlung ragt der Beitrag von Oliver Krüger ("Der Avatar im Netz - Identität im Zeitalter des Cyberspace") als ein vermeintlicher Fremdkörper heraus. Doch ist es schließlich die Leistung dieses vorzüglichen Aufsatzes, zentrale Dimensionen zeitgenössischer, vor allem science-fiktionaler Verwandlungskonzeptionen und -utopien zu erarbeiten und dabei zu zeigen, wie hierbei die Tradition des hinduistischen Avatars in post-gender- und posthumane Utopien eingearbeitet wird. Dass er dabei von Utopien spricht, markiert die grundsätzliche, angenehm distanzierte Position des Autors gegenüber seinem Untersuchungsgebiet. Er wiederholt nicht einfachhin Manifeste, Entwürfe und Postulate der Cyberspace-Emphatiker in der Verkleidung eines wissenschaftlichen Aufsatzes, sondern Krüger gelingt eine aufschlussreiche kritische Aufarbeitung gegenwärtiger Tendenzen, Theoriebildungen und deren historischer Entwicklungen.

Die Fokussierung dieses ersten Abschnitts des Bandes weist auf eine grundlegende Ordnung hin, die der Band vornimmt beziehungsweise rekonstruiert. Die so genannten Verwandlungskulturen sind entweder außereuropäisch oder historisch - oder beides. So führt einem die Publikation deutlich vor Augen, dass eine der 'Errungenschaften' der Moderne wohl die Abschaffung von Kulturen der Verwandlung ist. An ihre Stelle setzt die europäische Moderne die Identität. Und eine Identitätspolitik, deren Konsequenzen und Erbschaften heute im Zentrum kultureller Selbstverständigung stehen. Jeder Urlaub macht es hautnah erfahrbar: "bei der Überschreitung von Grenzen wird man identitätspflichtig." (Aleida Assmann)

So fragt dann auch der zweite Abschnitt konsequenterweise nach der 'Verwandlung in Identitätskulturen', wie sie Aleida Assmann einleitend bestimmt hatte. Verwandlung ist hierbei, im Unterschied zu den Verwandlungskulturen, immer das Andere der Kultur; dasjenige, was von der Norm abweicht, irritiert, provoziert oder einem (Gesellschafts-)Spiel mit komplexen Regeln gleicht. In jedem Fall ist hier Verwandlung immer im Verhältnis zum 'Ideal' der stabilen Identität zu denken. Wenn von Verwandlung die Rede ist, kommt man meist bald auf Ovids 'Metamorphosen' zu sprechen. Doch der Beitrag von Ernst A. Schmidt versteht sich selbst als 'Erschütterung' des scheinbar selbstverständlichen Kurzschlusses, dass Ovid eindeutig Auskunft über das Verhältnis von Verwandlung und Identität zu geben vermag. Die intensive Lektüre des Tübinger Altphilologen legt ein komplexes poetologisch-metaphorologisches Verfahren Ovids frei, bei dem der Text beziehungsweise die Erzählungen selbst in das Zentrum gesetzt sind. "Metamorphose ist Identität als der poetisch-narrative Prozeß, der die Identität erzeugt."

Gerhard Neumann erarbeitet seine überzeugende Arbeit über Kafkas 'Verwandlung' in Auseinandersetzung mit eben jenen Metarmophosen Ovids. Er markiert dabei einen fundamentalen Unterschied: "an die Stelle des Mythos" bei Ovid tritt der Schock bei Kafka - der so genannte "Orientierungsschock". Es ist im Gegensatz zu vielen Sammelbänden hierbei deutlich spürbar, dass Neumann sich auch mit den unmittelbar seinem Beitrag vorausgehenden Überlegungen Schmidts auseinandergesetzt. Es ist wohl die besondere Qualität des 'Verwandlungs'-Buches, dass das eingangs errichtete theoretische Fundament tatsächlich die einzelnen Beiträge trägt.

Sei es ein kunsthistorischer Blick auf und hinter den Vorhang (G. Brandstetter) oder die Analyse von Verwandlungen im modernen Horrorfilm (M. Stiglegger), die Beiträge des zweiten Abschnittes ermöglichen - über die Qualität der einzelnen Studien hinaus - einen umfassenden Überblick über Forschungsperspektiven und kulturwissenschaftliche Zugänge zu der 'Verwandlung in Identitätskulturen'. Der Band empfiehlt sich daher einerseits zur punktuellen Lektüre einzelner Beiträge, andererseits zum - wenngleich mit viel kulturtheoretischem Aufwand verbundenen - Einstieg in die Formen und Funktionen der Verwandlungen.


Titelbild

Aleida Assmann / Jan Assmann (Hg.): Verwandlungen. Archäologie der literarischen Kommunikation IX.
Wilhelm Fink Verlag, München 2005.
408 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3770541952

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