Heimkehr und Abschied
Walter Kempowskis Tagebuch 1990
Von Alexandra Pontzen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEin Jahr - ein (Tage-)Buch: Nach diesem Schema waren auch die beiden ersten Tagebuchbände gearbeitet, die Walter Kempowski 1990 mit "Sirius. Eine Art Tagebuch" für das Jahr 1983 und 2001 mit "Alkor. Tagebuch 1989" veröffentlicht hat. Nun also ein drittes, und weitere stehen in Aussicht, denn schon im Juli 1990 notiert der Autor: "Wenn ich mir die Reihe meiner Tagebücher ansehe: Das gibt noch viel Arbeit. Leider sind die frühen alle verloren."
Kempowski hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass die Tagebücher, die er der Öffentlichkeit vorlegt, stark überarbeitet sind. Im vorliegenden Fall, also 1990, notiert er z. B. über die Arbeit an "Sirius": "Januar nun wohl endgültig fertig. Enorm viel Arbeit, da Notizzettel eingearbeitet werden müssen und Briefe." An anderer Stelle erfährt man zum selben Thema: "Es zeigt sich, dass mir erst jetzt die besten Ideen kommen." Wie er diese Ideen in den Text einarbeitet, erfährt der Leser nicht. Möglicherweise sind nur die Nachträge aus der Bearbeitungszeit gemeint, die als solche mit fettgedruckter Jahreszahl - in "Hamit" überwiegend 2005 - gekennzeichnet sind.
Das Tagebuch somit, das wir zu lesen bekommen, gibt den Blick des Autors auf ein bestimmtes seiner Lebensjahre aus dem Abstand weiterer Jahre wieder; anders als das verschwiegene Vorbild Thomas Mann, der seine Tagebücher der Nachwelt unbearbeitet hinterließ, bleibt er Herr des Verfahrens. In der Reihung könnte so eine Art Autobiografie in Annalenform, in Form von "Jahrbüchern", entstehen. Eine weitere Säule im Werk Kempowskis, nach der "Deutschen Chronik" und dem "Echolot"? Es wäre konsequent, denn formal und substanziell sind die Tagebücher unverkennbar Produkte seines Geistes und seiner Hand: ein Absatz für Absatz locker gefügtes Kompilat aus (Fernseh-)Beobachtungen, Erinnerungen, Gedanken, Erfahrungen, Alltäglichem und Betrachtungen zum politischen Zeitgeschehen - Haupt- und Nebensachen immer dicht beieinander.
Das Jahr 1990 hat es allgemein politisch und persönlich für Kempowski in sich: Sein Feind seit Jahrzehnten, das kommunistische Regime der DDR, verschwindet von der Bildfläche. Er sieht seine Vaterstadt Rostock wieder sowie das Gefängnis von Bautzen, das Gelbe Elend, wo er zwischen 1948 und 1956 gefangengehalten wurde - beide Orte für ihn "Heimat" bzw. "Hamit", so die bautzennahe erzgebirglerische Aussprache, und dem Kempowski-Leser aus seinen Büchern bestens vertraut. Die Wiederbegegnung beschert ihm eine unerwartete und irritierende Selbsterfahrung, nämlich die, dass er nun zwei seiner Lebensthemen verloren hat. Am Jahresschluss resümiert er: "Rostock und Bautzen ziehen nicht mehr, ich hab' das aus-gedacht [...] Heimat können wir abhaken."
Dabei war er gleich am 4. Januar mit Bruder Robert "gemütlich" gen Rostock losgedampft, "vollgetankt bis zum Stehkragen [...], Roberts Jazz-Kassetten, belegte Brötchen und das behagliche Gefühl, irgendwie als Sieger der Geschichte heimzukehren". Doch schon bald stellt sich bei Besichtigung der Stadt Ernüchterung ein: "Wir waren uns einig, eine Rückkehr kommt nicht in Frage", ja sie preisen sogar die Zuchthauszeit, da sie ihnen die Flucht ersparte: "Nie hätten wir die Kurve gekriegt, wer läßt schon ohne Not alles im Stich?" Mitte des Monats ist er schon wieder in Rostock, jetzt in Begleitung eines Filmteams des WDR aus Köln, das seine Wiedersehensgefühle festhalten will. Er fühlt sich "ausgeleert, angewidert, beschämt, traurig" und hegt den Wunsch, "endlich mit Rostock Schluß zu machen", seine "Deutsche Chronik" kommt ihm nun "mißglückt" vor, als einziger Trost bleibt ihm nur noch das "Echolot", das er in Angriff genommen hat. Ähnlich ergeht es ihm mit der Haftanstalt Bautzen, die er, diesmal beobachtet von einem niederländischen Filmteam, im März besucht: "Wie ein abgetakeltes Schlachtschiff liegt sie dort. Ich bin kühl, teilnahmslos [...] Das Waten in lauwarmen Erinnerungen." Im April gesteht er sich: "Von Rostock Abschied genommen und Bautzen - nun wird das Leben weggezoomt. An die Heimat denken heißt immer auch Abschied nehmen, denn jedesmal bricht was weg."
1990 - das erste "Echolot" erschien erst drei Jahre später - wandelte Kempowski noch im tiefen Tal seiner künstlerischen Verkanntheit und Missachtung durch das tonangebende juste milieu der Bundesrepublik; in der DDR war er ohnehin verpönt. Wie schon in den beiden früheren Tagebüchern lässt er seinem Frust gegenüber Kollegen, die dem Zeitgeist näher stehen als er, mit kleinen Bosheiten und Sticheleien freien Lauf - im einzelnen über das beigefügte Register leicht aufzufinden -, schont hingegen diejenigen, die auf seiner "Liste der Guten, Lieben" stehen, weil sie sich irgendwann einmal für ihn verwendet haben (Günter Grass gehört wunderlicherweise zu den Geschonten, weil er, wie wir in "Alkor" erfuhren, ihn einmal Kempi genannt hat).
Anfang Januar 1990 feuert das feindliche Lager eine Breitseite auf ihn ab. Harald Wieser bezichtigt den "schreibenden Schulmeister" und "Buchhalter" im "Stern", für "Aus großer Zeit" von einem Autor namens Werner Tschirch ("Rostocker Leben. Im Rückblick auf 1900") abgeschrieben zu haben. Zwar findet er in Hellmuth Karasek ("Der Spiegel") einen mächtigen Fürsprecher, doch auch da bleibt ein Stachel: "Warum hat Karasek im Fernsehen gesagt, daß er nicht den kleinen Finger krumm gemacht hätte für mich, wenn Wieser nicht auch ihn angegriffen hätte? Das können Sie mir glauben. Warum sagte er das? Und was bedeutet das?"
Das Fehlen von Anerkennung wurmt Kempowski auch bei seiner ersten Lesung am 1. Februar in Rostock, in der Kunsthalle und im Beisein seiner Familie, denn das offizielle Rostock "nahm keine Notiz von uns, kein Stehempfang, kein Goldenes Buch". Die sich vollziehende "Ablösung" macht ihn "orientierungslos", ",Stern'-Affäre, Rostock-Film und Rostock-Lesung bündeln sich zu einer johlenden Explosion", sodass er einen Moment sogar daran denkt, vom 8. Stock des Warnow-Hotels hinunter zu springen, um "so etwas ähnliches wie Anerkennung zu erzwingen". Später im Jahr, auf einer "Ostzonen-Tour" im Oktober, widerfährt ihm endlich, wonach es ihn verlangt: "Die Lesungen konnte ich wegen der inneren Erregung nur durchstehen mit Valium [...]. Wahre Menschenmassen waren erschienen. Die wechselseitige Dankbarkeit, daß es zu diesen von mir als historisch empfundenen Zusammenkünften hatte kommen können, erwärmte alle Welt." - Zu seiner Ehre sei hier angemerkt, dass es bei dieser einen geschwollenen Stelle bleibt.
Als politischer Kopf hatte Kempowski 1990 allen Grund, gegenüber seinen Verächtern "aus außerliterarischen Gründen" zu triumphieren. Das Ergebnis der Volkskammerwahl vom 18. März zugunsten der CDU erfüllt ihn mit Genugtuung, und die Wiedervereinigung erwischt ihn am 3. Oktober emotional in der Weimarer Stadtkirche, "wo ich mich einer zuckenden seelischen Erschütterung hingab". In den Monaten zuvor hat er immer wieder die gewundenen Erklärungen etlicher seiner Schriftstellerkollegen zur deutschen Einheit vermerkt, mit Ingrimm, und trotzig hinzugesetzt: "Mir ist die Wiedervereinigung eine Herzensangelegenheit." Ansonsten ergeht es dem gewieften Protokollanten angesichts der Geschwindigkeit der Ereignisse wie vielen seiner Zeitgenossen (im Juli bei Gelegenheit der Zustimmung Gorbatschows zu deutschen Einheit gegenüber Kohl): "Da bleibt einem die Spucke weg. Ich mag hiervon gar nichts mehr notieren. Es ist so, als ob ich ein vorbeifahrendes Auto fotografieren wollte."
Bei aller Befriedigung über die politische Entwicklung will sich jedoch ungetrübte Siegesfreude nicht bei ihm einstellen: "Nein, ich habe keinen Spaß daran, recht behalten zu haben. Das ist zu teuer gewesen, für alle Seiten", er ist "zu deprimiert, um zu triumphieren". Als er Letzteres im Dezember schreibt, hat er eine Reihe weiterer Reisen durch die "Ostzone" hinter sich, bei denen ihm bald die Schwierigkeiten der inneren Einigung, die Ossi-Wessi-Problematik, aufgehen. Die "Massen von West-Idioten", die unsensibel und besserwisserisch die ostdeutschen Umstände betrachten und ihre eingebildete Überlegenheit vorführen, sind ihm zuwider. Für die Ostdeutschen selbst, auch die Funktionäre und Stützen des Regimes, empfindet er Mitgefühl, als gehörte er zu ihnen. Im Februar beobachtet er in einer Bonner Hotelhalle die Ankunft von DDR-Unterhändlern: "Sie standen in der Halle dicht beieinander, geradezu aneinander, deutlich unsicher. (Wie Moschusochsen im Eiswind.) Ich hätte mich am liebsten dazugestellt und mit ihnen geredet." Seine Einstellung schwankt, anfangs ist er mehr auf Seiten der Ossis, später schlägt er sich öfter auf die der Wessis. Im August bringt er, wieder auf der Reise, seine Ambivalenz auf den Punkt:
"Ich empfinde eine gewisse Scham vor den Einheimischen wegen der Wessis und ihrer Besserwisserei. Die Hiesigen tun das Ihrige dazu. Sie haben jetzt damit angefangen, Schuld und Komplexe in Forderungen aus Beleidigtheit umzuschichten. Sie sitzen vor dem Fernsehapparat, lauern höhnisch darauf, ob die Westdeutschen es wohl schaffen werden, sie wieder aufzurichten. Wenn es ihnen nicht gelingt, dann haben sie irgendwie 'gewonnen'."
Kempowskis Diktion ist wie immer unprätentiös und uneitel. Seine vielen Abschweifungen sind nie langatmig, eher sozusagen kurzschweifig, und er gönnt dem Leser so manche Probe seines stets wachen Sinnes für das skurrile Detail. Dafür zwei Beispiele: Anfang März überlegt er, ob dem als Stasi-Zuträger entlarvten DDR-Reformpolitiker Wolfgang Schnur ein Seelsorger zur Seite stehe. Das Stichwort Seelsorger setzt zwei Nachträge in Gang, einen aus dem Jahr 2001 über die neunzig Pastoren und Seelsorger, die sich bei dem Zugunglück von Eschede um die Verunglückten kümmerten, und einen aus dem Jahr 2005 über die Betreuung der Schüler nach dem Massaker in einem Erfurter Gymnasium, der zuletzt bei der Schulleiterin landet: "Weshalb hat sie sich für die Beerdigung ihrer Schüler extra einen schwarzen Hut gekauft?" - Da jauchzt das - wie "er" - tagesschauerfahrene Kempowski-Leserherz, ebenso wie bei der knappen Beobachtung über den Service in einer ostdeutschen Gaststätte im August: "Sie bedienen uns, als wollten sie für diesmal eine Ausnahme machen."
Ungeachtet der breiten Fülle der angeschnittenen Themen und der zahlreichen, im übrigen wohlkalkulierten Verstöße gegen die politische Korrektheit: "Hamit" handelt in der Hauptsache von der "Seelenarbeit" (er übernimmt Martin Walsers Ausdruck wörtlich) des Autors bei der Wiederbegegnung mit der "Heimat", dem endgültigen Abschied von ihr und damit, unvermeidlich, seiner Ankunft "bei uns im Westen", wie es ihm einmal ganz nebenbei entfährt.
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