Dürfen die das?

Fragen zum Gedicht

Von Robert GernhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Robert Gernhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Das Jahrhundertende reizt zum Rückblick“, lese ich auf der Rückseite des gewichtigen, 300 Seiten starken Text + Kritik-Bandes „Lyrik des 20. Jahrhunderts“ sowie: „Den Untersuchungen und Analysen des Bandes vorangestellt ist eine Anthologie von Gedichten, die Durs Grünbein, Thomas Kling, Barbara Köhler, Friederike Mayröcker und Peter Waterhouse als ihre Gedichte des Jahrhunderts gewählt haben.“

Die Vorbemerkung der Anthologie präzisiert das Vorhaben: „Zwei Lyrikerinnen und drei Lyriker haben wir gebeten, ihre zehn deutschsprachigen Gedichte des 20. Jahrhunderts für diesen Band zu nennen, und zwar möglichst aus jeder Dekade eines. Nicht alle haben sich an diese Vorgaben gehalten.“

Das kann man laut sagen. Die Auswahl hebt an mit Friedrich Hölderlins „Hälfte des Lebens“, ausgewählt von Friederike Mayröcker, und wirft die Frage auf, wie weit die auswählenden Dichterinnen und Dichter zeitlich orientiert waren, als sie ihre Auswahl trafen. Beziehungsweise räumlich: Unmittelbar auf Hölderlins Gedicht aus dem Beginn des 19. Jahrhunderts nämlich folgt „Meditation“ des Italieners Umberto Saba, ausgewählt von Peter Waterhouse, ein Poem, dessen überraschendes Auftauchen in einer Anthologie deutschsprachiger Gedichte sich offenbar dem Umstand verdankt, dass der Auswähler es sich geistig angeeignet hatte: „Hier Erstdruck der Übersetzung von Peter Waterhouse“.

Im Laufe der Lektüre nehmen die räumlichen Irritationen zu: Wiederholt taucht der Russe Mandelstam auf, die vierziger Jahre werden von E. E. Cummings und Michael Hamburger mit englischsprachigen Gedichten abgedeckt; auch bleiben poetologische Verwunderungen nicht aus: Was eigentlich hat Robert Walsers anderthalbseitige Prosa „Spazieren“ in einer Gedichtsammlung verloren?

Doch solches Stutzen wird während der ersten sieben Anthologie-Jahrzehnte durch die im Schnitt überraschungsfrei kanonische Auswahl neutralisiert: Dreimal ist Rilke vertreten, dreimal Benn, zweimal Trakl, zweimal Brecht, dreimal Celan, zweimal Prießnitz, dreimal Jandl, zweimal Artmann – da begrüßt der Lesende Barbara Köhlers Insistieren darauf, dass im vergangenen Jahrhundert auch Frauen gedichtet haben, nicht nur Eingemeindete, sprich Kanonisierte wie Else Lasker-Schüler oder Ingeborg Bachmann, sondern auch Eigensinnige und Abseitige, Christine Lavant oder Inge Müller.

Halten wir, bei der Dekade 1970 bis 1980 angelangt, inne, um eine Zwischenbilanz zu ziehen, so stellt sich die Ernte der fünf Anthologisten als ebenso konsensfähig wie flusig dar, weitgehend der – mit Brecht zu reden – „pontifikalen“ Linie der deutschen Dichtung verpflichtet und kaum an der „plebejischen“ inreressiert, auch bei jenen Dichtern nicht, die in beiden Zungen zu reden vermochten, ja sogar komischer Töne mächtig waren: „Ich bin nichts Offizielles / ich bin ein kleines Helles“ (Benn); „1 2 3 4 / Vater kriegt ein Bier. / 4 3 2 1 / Mutter kriegt keins“ (Brecht).

Umso überraschender dann die letzten beiden Jahrzehnte des Jahrhunderts – die haben die Anthologisten weitgehend für sich und ihresgleichen reserviert. Auswähler Kling wählt ein Gedicht von Auswähler Waterhouse aus, der im Gegenzug ein Gedicht von Kling auswählt, und unterm Strich summiert sich solch Geben und Nehmen zu insgesamt sechs Gedichten aus den Federn dreier Anthologisten, was einen gewissenhaften Leser, den Rezensenten Steffen Jacobs, im SFB die Rechnung aufmachen ließ, die drei hätten demnach „zehn Prozent der wichtigsten Gedichte des 20. Jahrhunderts geschrieben“.

Ein Befund, der bei genauem Hinschauen noch deutlicher zugunsten der Auswähler ausfällt: Da die Sammlung nicht 50, sondern lediglich 43 deutschsprachige Gedichte von insgesamt 27 deutschen Dichterinnen und Dichtern enthält, bringen die drei Anthologisten nicht ein mattes Zehntel, sondern ein sattes Siebtel auf die Lyrik des 20. Jahrhunderts-Waage.

„Hier können Familien Kaffee kochen“, lockten Berliner Ausflugslokale früherer Zeiten – warum sollen sie nicht heutzutage in Jahrhundertrückblicken abkochen dürfen? Dürfen sie natürlich, so wie ja auch jede neue oder sich zumindest als neu begreifende Generation die sie betreffenden Moden und Manien dergestalt auf den Punkt bringen darf, dass alle bisherigen Strebungen aller voran gegangenen Generationen daran gemessen werden, ob sie auf den je eigenen Standort hinauslaufen – gut! – oder ihn verfehlen: Ab in den Papierkorb der Historie!

Klappern gehört zum Handwerk – erst wenn dieses Klappern zur trommelnden Selbstfeier ausartet – „Als wir in den frühen 80-er Jahren die bundesdeutsche Lyrik wieder aufbauten – es war ja nichts da… „« –, erst dann ist der Lyrikwart aufgefordert, mahnend den Finger zu heben. Womit wir bei Thomas Kling wären.

Der nämlich hat nicht nur drei Gedichte, sondern auch einen Aufsatz beigesteuert, „Zu den deutschsprachigen Avantgarden“, in welchem er in jeder Beziehung mächtig weit und breit ausholt: „Seit Catull street talk als angemessenes Instrument erkannte, um das Gedicht städtisch zu machen… das Paris Baudelaires… Slangverwender Arno Holz… T. S. Eliot sagt Sprache des sprachenvereinigenden (Jahrmarkt-)Platzes… Werbe-Jingles… popular speech… Anton Kuh, berühmte Fachkraft für spoken word… Gegen die trostlose Lesung ist eine jüngere Dichtergeneration angetreten… Die Lesung, auch als Austausch zwischen Musik und Poesie begriffen, wie er seit Anfang der achtziger Jahre durch Auftritt-Teams stattfindet: Köllges/Kling machten für den Köln-Düsseldorfer Raum 1983 den Anfang« – welch gewaltiger Bogen vom Anglolateiner Catull zum Auftrittsavantgardisten Kling, welch luftige, Jahrtausende überspannende Konstruktion! Oder sollte ich sagen: windige?

Wo bleibt Peter Rühmkorf, wo Arno Schmidt?

Sagen wir es so: Je länger ich mich auf Klings 14-seitiger Brücke bewegte, inmitten all der erlauchten Vorgänger und Vorbilder aus weit entfernten Zeiten und Regionen, desto verwunderter registrierte ich das Fehlen zweier Figuren, die im Hier und Jetzt des Nachkriegsdeutschlands Prosa und Poesie durch street talk und popular speech bereichert hatten, als man die noch Gassen-, wenn nicht Gossensprache und Umgangs- beziehungsweise Alltagsdeutsch nannte: Arno Schmidt und – vor allem – Peter Rühmkorf. Über beide schweigt sich Kling derart dröhnend aus, dass selbst beim langmütigen Leser verärgerter Widerspruch laut wird: Was soll diese verbissene Originalitätsmeierei?

Wer hat denn schon in den frühen sechziger Jahren den literarischen Volksmund-Untergrund durchfischt und seinen Fang in seiner street talk-Anthologie „Über das Volksvermögen“ präsentiert? Wer hat bereits 1966 im Hamburger Raum mit den Musikern Michael Naura und Wolfgang Schlüter für den Austausch von Musik und Poesie gesorgt, beispielsweise während der legendären Lesung „Lyrik auf dem Markt“, vom Lastwagen aus und vor 3000 Zuhörern? Wer kann zum „Zauberwort“ „Intertextualitat“ anmerken, er habe sich „mit solchen sphären- und epochen-übergreifenden Vermischungsphänomenen schon seit Jahrzehnten beschäftigt“, wer darf von sich behaupten, er habe sein „gesamtes literarisches Leben lang immer gern auch Bezug auf die Sphäre des Marktes und der Werbung genommen“? Die Antwort lautet natürlich in allen Fällen: „Peter Rühmkorf“, von dem – sofern er wirklich noch nichts von ihm gelernt haben sollte – Kling lernen könnte, wie entspannt und ehrlich das heikle, zur Verstellung wie Täuschung verlockende Thema der Lehrer und Meister abgehandelt werden kann.

Im Rechenschaftsbericht „Wo ich gelernt habe“, erschienen in der Reihe der Göttinger Sudelblätter, ist nicht nur nachzulesen, welche erlauchten Fackeln toter und lebender Dichter der junge Rühmkorf aufgegriffen und weitergetragen hat – von Gryphius bis Benn und Brecht –, sondern auch, welche Irrlichter ihn einstmals vom rechten Wege abzubringen suchten, vom Scherzdichter Viktor von Scheffel bis zum Nazibarden Heinrich Anacker. Welch wildwüchsiges Gewusel rund um Rühmkorf! Wie plan dagegen Klings Prominentenparade! Die beiden Dichter trennt ein Abgrund von 30 Jahren. Sollte es lediglich eine Frage der Zeit sein, bis auch der Jüngere reif ist für eine vergleichbar uneitle Herkunftsbeschreibung?

Titelbild

Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Lyrik des 20. Jahrhunderts. Zeitschrift für Literatur: Sonderbände.
edition text & kritik, München 1999.
250 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-10: 3883776130

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Titelbild

Peter Rühmkorf: Wo ich gelernt habe.
Wallstein Verlag, Göttingen 1999.
48 Seiten, 12,30 EUR.
ISBN-10: 3892443645

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