Weil das Leben zu viel ist?

Katharina Raabe und Frank Wegner haben in „Warum lesen?“ Antworten auf eine grundlegende Frage zusammengestellt

Von Mario WiesmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Wiesmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lesen ist eine alltägliche Handlung. Ohne zu lesen, können wir uns kaum in unserer Umwelt orientieren. Auch mit literarischen Texten sind wir seit Kindesbeinen vertraut. Wer allerdings einmal genauer über den Akt des Lesens nachdenkt, stellt fest, dass er alles andere als selbsterklärend ist. Am einfachsten scheint es noch, Lesen als Zeitvertreib und Bücher als Unterhaltung zu verstehen. Aber schon dabei tut sich das Problem der Fiktionalität auf: Wie kann man Angst oder Erleichterung beim Lesen einer Geschichte verspüren, von der man weiß, dass sie erfunden ist? Genauso erklärungsbedürftig ist aber die Behauptung, Literatur käme eine andere, womöglich höhere Bedeutung zu. Dass Goethe im Bücherregal neben Kant steht, dass Schriftsteller*innen in Zeitungen und Talkshows den gesellschaftlichen Diskurs mitbestimmen und dass Literaturwissenschaft an der Uni gelehrt wird, ist nicht selbstverständlich.

Die ästhetischen Fragen, um die es hier geht, werden schon seit der Antike diskutiert. Und das nicht nur von Dichter*innen, sondern auch von Philosoph*innen. Alexander Gottlieb Baumgarten verdankt die Philosophie die Einsicht, dass die Ästhetik nicht im Rahmen der Logik erklärt werden kann, sondern nur innerhalb einer eigenen Disziplin. Für Baumgarten ist die Poesie dabei der wichtigste Referenzpunkt seiner Theorie. In den bald 300 Jahren, die seit Baumgarten vergangen sind, hat die philosophische Ästhetik etwa so viele Paradigmenwechsel erlebt wie ihre große Schwester. Was das Schöne ist und welche Struktur ästhetische Erfahrung hat, konnte sie noch nicht abschließend klären. Zu den unzähligen philosophischen Erklärungsversuchen kommen ebenso viele Positionsbestimmungen von Autor*innen, Literaturtheorien, soziologische und psychologische Modelle. An diesen Diskurs knüpfen Katharina Raabe und Frank Wegner mit dem Band Warum lesen? an. Die Anthologie soll, so verspricht es der Untertitel, mindestens 24 Gründe enthalten.

Unter den Beitragenden des 2020 bei Suhrkamp erschienenen Bandes finden sich erwartungsgemäß vor allem Suhrkamp-Schriftsteller*innen (darunter Marcel Beyer, Annie Ernaux, Dževad Karahasan). Außerdem enthalten sind fünf Beiträge soziologischer Provenienz (von Eva Illouz, Hans Joas, Oliver Nachtwey, Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa). Zur interdisziplinären Vielfalt tragen unter anderem Jürgen Habermas, Wolf Singer und der Wissenschaftshistoriker Michael Hagner bei. Dagegen ist die für das Lesen zuständige Wissenschaft in der Sammlung nicht vertreten – unter den 24 Beitragenden befindet sich kein*e hauptberufliche*r Literaturwissenschaftler*in. 

Noch vielfältiger als die Liste der Beitragenden sind die Texte selbst. Einige wiederkehrende Themen lassen sich jedoch identifizieren: Die ersten beiden abgedruckten Texte stammen von Clemens J. Setz und Katja Petrowskaja, die sich mit dem Verhältnis von Fiktion und Realität beschäftigen. Dabei liest sich Petrowskajas Lobgesang auf die Literatur als Zufluchtsort in autoritären Systemen wie eine Entgegnung auf Setz’ Warnung vor Fiktionen, die gegenüber der Realität Überhand nehmen. Auch die Essays von Eva Illouz und John Jeremiah Sullivan kreisen um diese Frage, die bei Sullivan ihre prägnanteste Antwort findet: „Ich lese, weil das Leben zu viel ist.“ Dagegen bedeutet für Marcel Beyer Literatur gerade keine „Flucht aus der Welt“, sondern „Welterweiterung“ und „Gegengift“ gegen eine triste Realität.

Nicht als Medium der Realitätsbewältigung, sondern als Korrektiv versteht eine zweite Gruppe von Autor*innen Literatur. Annie Ernaux geht dabei von einem ambivalenten Einfluss des Lesens auf die Gesellschaft aus: Einerseits wirke Lesen identitätsstiftend für ein Bürgertum, das sich durch seine Bildung von anderen Schichten abgrenzt. Andererseits kämen wir beim Lesen mit fremden Perspektiven in Kontakt, sodass Literatur zum Ort der Begegnung und kritischen Selbsthinterfragung werden kann. Dieses zweite Moment macht auch für Dževad Karahasan das Lesen aus, das uns in einer „stille[n] Ekstase“ aus unserem Jetzt befreien und in einen Dialog mit Stimmen der Vergangenheit bringen könne. Bei Maria Stepanova wird Lesen als Illusion einer Verwandlung, die uns doch immer auch wirklich verändert, zum fast paradoxen Faszinosum.

Mehr auf den gesellschaftlichen Stellenwert des Lesens sind die Essays von Michael Hagner und Serhij Zhadan fokussiert, in denen Literatur als Vermittlerin zwischen Extremen und Lesen als Akt des Zusammenkommens beschrieben wird. Oliver Nachtwey schließlich betrachtet das Lesen noch einmal wie Ernaux in seiner Doppelnatur. Diese erscheint ihm symptomatisch für eine „regressive Moderne“, in der das aufklärerische Potenzial des Lesens durch den umgekehrten Einfluss einer fortschrittsfeindlichen Literatur getrübt wird. Nicht zuletzt durch die einleuchtenden Textbeispiele ist sein Essay einer der lesenswertesten des Bandes.

Auch die traditionsreiche Frage nach dem Zusammenhang von Literatur und Erkenntnis wird in mehreren Essays diskutiert. So heißt es bei Habermas: 

Warum also lesen? Um wenigstens manchmal einige Zipfel jener vorsprachlich präsenten Erfahrungen, aus denen wir intuitiv leben und mit denen wir dahinleben, als solche zu ergreifen und uns anschaulich vor Augen zu führen. 

Hartmut Rosa beleuchtet verschiedene Facetten der „narrativen Resonanz“ beim Lesen, durch die uns Literatur eine zum Beispiel gegenüber einem Kinofilm intensivere Erfahrung verschafft. Und Wolf Singer, der die Asynchronität der schriftlichen Kommunikation und die relative Unbestimmtheit von Texten gegenüber anderen Medien heraushebt, spricht ihnen die unersetzliche Funktion zu, Komplexes auszudrücken und vorstellbar zu machen.

Singer streift dabei bereits die Frage, welche Folgen der Wandel der Lesegewohnheiten im Zuge der Digitalisierung für das Individuum und die Gesellschaft haben könnte. Andreas Reckwitz stellt diese Frage ins Zentrum seines Essays. Er beschreibt den gegenwärtigen Wandel als Übergang von der intensiven Lektüre zum „hyper reading“, einem weniger konzentrierten kognitiven „Multitasking“, das die digitalen Medien von uns abverlangten. Wie Singer plädiert er aber dafür, darin nicht vorschnell einen Verfallprozess zu sehen. In zweifacher Hinsicht nimmt Nicolas Mahler dieses Thema auf: Sein Comic Warum Comics lesen? setzt sich einerseits inhaltlich mit der Frage auseinander und weist andererseits durch sein Medium auf die angesprochene Veränderung voraus.

Mahlers Beitrag erschöpft sich allerdings darin, mangelnde Akzeptanz für den Comic im Literaturbetrieb und schwindende Leselust bei jungen Menschen zu beanstanden. Ein kulturkonservativer Ton ist auch bei Marcel Beyer nicht zu überhören. Beyer nimmt das Thema des Bandes zum Anlass, um gegen einen „deutschen Trivialrealismus“ zu polemisieren, dem jegliche Magie fehle. Die beiden Beiträge stechen durch eine eher einseitige beziehungsweise undifferenzierte Sichtweise aus der Sammlung heraus.

Mahlers Comic gehört außerdem zu einer Gruppe von Beiträgen, die die Form des klassischen Essays mehr oder weniger stark abwandeln. Während Mahler ihr inhaltlich noch treu bleibt, verzichtet Thomas Köck in seinem als Stichpunktliste verfassten Beitrag auf die argumentative Autorität der Gattung. In seinen auf diese Weise vorgebrachten Beobachtungen und Thesen dekonstruiert er auch den zur Disposition stehenden Akt des Lesens. Enis Maci montiert in ihrem Essay Erinnerungen an Lese- und Lebenserfahrungen so kunstvoll zwischen Szenen aus einem Kurzprosaseminar, dass sich das Ergebnis fast wie Poesie liest und auch so vereinnahmend ist. Ganz ähnlich, aber noch sprunghafter verfährt Friederike Mayröcker, die in einem einseitigen Text unter anderem über das Bücherregal ihrer Eltern, Nelken, Derrida, einen Essay über Stofftiere und ein Salatblatt schreibt – und gleichzeitig immer über das Lesen.

Diese unvollständige Gruppierung zeigt, wie vielfältig die von Katharina Raabe und Frank Wegner zusammengestellte Anthologie ist. Zwar enthält der Band auch Beiträge, die etwas zu stark von der gestellten Frage abschweifen – Esther Kinsky etwa beschreibt in ihrem originellen Essay, wie sich Landschaften lesen lassen, und bleibt dabei den Grund fürs Lesen schuldig. Andere Beiträge machen das aber wett, indem sie gleich mehrere Gründe nennen, etwa der Essay von Hans Joas, der sechs Lesemotive behandelt. Was der Band eindrücklich demonstriert, ist, dass es auf die Frage Warum lesen? viele richtige Antworten gibt. 

Das macht die Lektüre fast zur Überforderung. Unwillkürlich beginnt man, sich zu fragen, was eine Autorin zum Standpunkt ihres Vorredners zu sagen hätte oder wie man sich dem Thema des einen Essays mit der Herangehensweise eines anderen annähern könnte. Solche Fragen bleiben in einer Essaysammlung naturgemäß unbeantwortet. Die Beiträge in Warum lesen? setzen Schlaglichter und laden dazu ein, mit- und weiterzudenken. Statt den Forschungsstand abzubilden, weisen sie an vielen Stellen über ihn hinaus. Das gelingt einigen durch ihren anekdotischen oder literarischen Einschlag, anderen dadurch, dass sie auf Grundlage wissenschaftlicher Befunde starke Thesen und mutige Prognosen wagen. Das Ergebnis sind mindestens 24 interessante Denkanstöße.

Titelbild

Katharina Raabe / Frank Wegner (Hg.): Warum Lesen. Mindestens 24 Gründe.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
347 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518073995

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