Was der Tod mit uns macht

Erfahrungen von Dichtern und Denkern mit dem Verlust eines geliebten Menschen

Von Sandy SchefflerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandy Scheffler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Jahre 1986 erschien das kleine Bändchen „… und diese Erfahrung habe ich nun auch gemacht…“. Texte zum Tod eines nahen Menschen anlässlich des Todes der Mutter der beiden Herausgeber Elisabeth und Paul Raabe erstmals als Band 19 der Neuen Arche Bücherei. Nun ist es 2018 als leicht veränderte Nachauflage in der edition momente erneut erschienen. Diese Ausgabe gliedert die enthaltenen Texte, darunter Briefauszüge, Tagebucheinträge, Gedichte und Erzählungen, ebenso wie die Erstausgabe in fünf Kapitel. Der römischen Nummerierung wurden jedoch gänzlich neue Überschriften hinzugefügt, die da lauten: I. Abschied von den Eltern, II. Unendlich Trauriges, III. Sophie ist ein Stern, IV. Freund, leb wohl, V. Behalte den Augenblick. Das Kapitel drei hat in der neuen Ausgabe zudem zwei weitere Texte aufgenommen: ,Hannah Arendt‘ an Helene Wolff und ,Helene Wolff‘ an Hannah Arendt. Das Kapitel vier verzichtet im Gegenzug auf zwei Gedichte, die in der Ausgabe von 1986 abgedruckt waren: Bertolt Brecht: Nach dem Tod meiner Mitarbeiterin M.S. und Carolyn Forché: Einer wird immer vergessen. Das Geschwisterpaar Raabe ist selbst unmittelbar von einer Verlusterfahrung betroffen, als es die kleine Textsammlung zusammenstellt und herausgibt. Schlicht und unprätentiös kommt sie daher und zeigt ihrem Leser, dass diese Erfahrung, die Dichter und Denker auf verschiedene Art und Weise mit uns teilen, immer auch die jemeinige ist.

Jemand ist verschwunden. Der Tod war da und hat ihn mit sich fortgenommen. Tagtäglich geschieht Tod, tagtäglich sind wir mit seiner Botschaft konfrontiert. Wir hören sie, wir sehen sie, wir fühlen mit den Angehörigen. Und doch bleibt ein seltsamer, unerklärlicher Geschmack auf der Zunge zurück, denn der Tod hüllt sich in einen geheimnisvollen, schweigenden Mantel. Man spürt einen Stillstand, eine Leere, die neben dem Geheimnisvollen noch Ratlosigkeit oder auch Hilflosigkeit mit sich bringt. Wir suchen nach Erklärungen für den Tod, von dem wir Zeuge wurden. Wir bekommen Erklärungen. Wir versuchen, uns mit ihnen zu helfen. Seltsam nur, dass der Geschmack des Unerklärlichen nicht davon berührt wird. Die Leerstelle bleibt. Hält sich hartnäckig zwischen Verstandeserklärung und dem vagen Gefühl, dass ihr nicht beizukommen ist. Wie auch? Der Tod kann uns nur bedingt anbelangen, oder? Der Tod, den wir erleben und über den wir sprechen können, bleibt doch der Tod eines Anderen. Wir sind da, am Leben, atmen ein und aus, sind Zeuge.

Irgendwann macht aber jeder von uns diese Erfahrung. Ein Mensch, der uns nahe war, geht. In die Lücke, die er hinterlässt, dringt die jemeinige Schmerzerfahrung ein und hinterlässt uns die Aufgabe, diesen Einbruch zu bewältigen; emotional, intellektuell, körperlich. Trauer braucht Kraft und auf dem Bodensatz ihres Überwältigungsversuches liegt der dünne Faden zur Bewältigung. Vielleicht auch in Form einer solchen kleinen und intimen Textsammlung. Sie beginnt in Anlehnung an den Kurztext von Peter Weiss mit dem Kapitel Abschied von den Eltern. „Zuspät“ lautet das Wort in Weiss‘ Text, das in die rätselhafte Stilleerfahrung hallt. Nun, da die beiden „Portalfiguren“, Vater und Mutter, die kurz nacheinander sterben, fort sind, wird ihm klar, wer er war, wer sie waren. In 16 Zeilen malt er das Bild seiner Familie, die im Grunde keine war. Neben der Entfremdung, die der Elterntod aufdeckt, wird ihm klar, dass die Trauer eigentlich nicht ihnen gilt, sondern dem „Zuspät“; all den verpassten Gelegenheiten, sich um die Allianz einer liebevollen Familie zu bemühen. Die Geschwister, die bei Weiss und auch bei Marie Luise Kaschnitz einbezogen werden, machen deutlich, dass zwar dasselbe Widerfahrnis geteilt wird, aber die Erfahrung in jedem Einzelnen eine andere ist: „Nach Hause gehen wir Geschwister zusammen, jedes von uns hat eine andere Mutter gehabt, nur die Schauplätze der Kindheit hatten wir gemeinsam, aber das ist viel.“

Die „Wunde“, die der Verlust von Vater oder Mutter hinterlässt, wird von Gottfried Benn wie ein Mal mitten auf der Stirn empfunden. Der Gezeichnete mit der ewigen Wunde, „die sich nicht schließt“, weiß, dass die Mutter die Welt verlassen hat, doch ihn niemals verlassen wird. Selbst wenn der Schmerz seine Intensität von Zeit zu Zeit wechselt, bekennt er, „es fließt das Herz sich nicht draus tot“. Neben dem Gefühl von Zuspät, von ewiger Wunde und vom persönlichen Elternkontakt erfährt der Leser in der Innenschau von Else Lasker-Schüler, wie „alleine“ der Mensch plötzlich in die Existenz seines Daseins geworfen ist: „Ich fühle mein nacktes Leben, / Es stößt sich ab vom Mutterland, / So nackt war nie mein Leben“. Mit dem Weggang der Eltern in die rätselhafte Region des Nichts, verlieren wir ein Stück Zuhause. Spätestens jetzt wird klar, dass das Auf-eigenen-Füßen-stehen, für das seit der Pubertät so beharrlich gekämpft wurde, sich nun durch den Lauf der Dinge endgültig verwirklicht hat. So nackt war nie das Leben. Und noch etwas tritt zum Alleinsein hinzu. Wie bei Simone de Beauvoir zu lesen ist, „erlischt die Zeit“, „hinter denen, die diese Welt verlassen“. Der Stillstand der Welt offenbart sich in einem spürbaren Verlust des Raum-Zeit-Kontinuums, in dessen Leere nur mehr Platz ist für die jemeinige Schmerzerfahrung, mit der Wunde auf der Stirn, auf die das Herz den Rhythmus des „Zuspät“ trommelt.

Der Wert dieses kleinen Büchleins bemisst sich für den, der es zur Hand nimmt, daran, dass wir uns zwischen diesen intimen Zeilen von Dichtern und Denkern selbst lesen. Wir erkennen uns selbst in den Worten und durch die Worte, die nichts wollen als offen und authentisch sein. Es sind Worte, die Zeugnis ablegen von einer Erfahrung, die jeden angehen wird. Durch dieses Büchlein wird deutlich, wie „diese Erfahrung, die man nun auch gemacht hat“, vielen Menschen ihre Augen geöffnet hat, wie sie in der Stille und Trauer danach etwas Wichtiges über sich selbst erkannt haben. Oft beinhaltet die Trauer nicht nur das Beweinen des menschlichen Verlustes, sondern vor allem der verpassten Gelegenheiten, Zuneigung und Verständnis gezeigt zu haben. So bekennt Hermann Hesse in einem Brief an die Familie: „Freilich, das schwerste Stück der Trauer bleibt mir nicht erspart, die Reue über alle Lieblosigkeiten, mit denen ich Mama so oft weh getan habe und die sie mir noch extra verziehen hat.“

Bei Georg Christoph Lichtenberg stößt man auf den indirekten Rat, dass nur das Zulassen des Trauerschmerzes, das Hindurchgehen durch das schmerzhafte Tal, dazu führt, dass der Schmerz einmal abebbt. Widerstand und Zerstreuung halten den Schmerz lebendig, nähren ihn. Lichtenberg verordnet sich als Therapie, jede Ablenkung zu vermeiden, die ihm seine Freunde anraten. Wenn er „dem Schmerz nachhänge“, so werde er dadurch „ruhig“ und hoffe auch bald, „gewiß geheilt“ zu sein. In seiner Selbstbeobachtung stellt er fest: „Es war dieses allerdings einer der empfindlichsten Schläge, die mich in meinem Leben betroffen haben, und die Philosophie, in deren Diensten ich zu stehen die Ehre habe, hat sich selbst gefürchtet mich zu trösten, ich habe mich ohne weitere Zerstreuung meinem Schmerz ganz überlassen, ganz gegen den Rat meiner Freunde, weil mir meine Philosophie so viel sagte, daß auf diese Weise die Empfindung bald stumpf wird, so wie es ein Schmerz stillendes Mittel ist, den Finger ans Feuer zu halten, wenn man ihn verbrannt hat.“

Nachdem das „Zuspät“ in der zeit- und raumlosen Stille danach verhallt ist, bleibt der Geschmack der gemachten Erfahrung zurück. Bei Hermann Hesse besteht sie in einer positiven geistigen Verbindung zur Mutter. „Oft“ spürt er sogar „die Empfindung ihrer Gegenwart und Liebe stärker als je zu ihren Lebzeiten“. Bei Lichtenberg bleibt eine „nicht ganz unangenehme melancholische Empfindung“ zurück mit der Befürchtung, dass die „Erinnerung an die vorigen Zeiten“ ihn „vielleicht nie verlassen“ wird. Für Käthe Kollwitz verändert der Verlust ihr Verhältnis zum Geistigen, das zuvor in seiner Bedeutung nicht an die Gestalt der menschlichen Form heranreichte: „Das Geistige ist nicht der Mensch und der, der einzige Mensch, kommt so nie wieder. Jetzt aber ist es mir schön zu denken, daß ich mit dem Geistigen vereinigt sein werde.“

Die kleine Textsammlung zum Umgang mit der Erfahrung des Todes zeigt, dass uns der Tod herausfordert wie nichts Anderes. Der Verlust eines geliebten Menschen macht eine tiefgreifende Transformation möglich. Das Schmerztal muss jedoch durchschritten und der Leere ins Gesicht geschaut werden. Auf dieser schweren Strecke können bestimmte Worte oder Texte vielleicht zu uns sprechen, weil sie etwas in uns wachklopfen, an etwas mahnen, Mut machen. Und danach? – Danach ist alles anders. Die Texte haben es gezeigt. „Souffrir passe, avoir souffert jamais” / „Leiden geht vorüber, gelitten haben nie.“ (Léon Bloy, 1846-1917)

Titelbild

Elisabeth Raabe / Paul Raabe (Hg.): „…und diese Erfahrung habe ich nun auch gemacht“. Texte zum Tod eines nahen Menschen.
edition momente, Zürich und Hamburg 2018.
112 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783036060026

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