Rahel Varnhagen
und die Cholera in Berlin
Von Dieter Lamping
Im Sommer 1831 breitete sich von Osten her die Cholera in Preußen aus. Im Juni erreichte sie Danzig, im September Berlin. Ihr voraus ging die Angst – die „Cholera-Furcht“, wie Rahel Varnhagen sie am 23. November in einem Brief an den Freiherrn von Gentz nannte. Auch sie litt unter ihr. Und registrierte aufmerksam den Verlauf der Epidemie.
Manche ihrer Reaktionen muten heute abergläubisch an. So schreibt sie einmal: „ich nenne nie den Krankheitsnamen“ – als gäbe es das nicht, dessen Namen man nicht ausspricht. Gleichwohl ergriff sie alle möglichen Schutzmaßnahmen vor der Seuche, an deren Gefährlichkeit sie nicht zweifelte. Peinlich genau hielt sie Verhaltens- und Diätregeln ein und empfahl sie, meist dringlich, auch anderen. Einer Freundin aus Frankfurt an der Oder etwa schrieb sie am 25. September 1831:
Nehmen Sie sich auch recht in Acht? Abendthau ist die Cholera – da steht das Wort: es muß hier stehen – wenn die Sonne noch ganz da ist, müssen die Fenster zu: und mit Bernstein alles geräuchert; Nachts die Binden umbehalten: keine Sorte Transpiration unterbrochen: nie, nicht Tag, nicht Nacht. Nie zu kalt getrunken: nur bei wirklichem Durst; mehr Kaffee als sonst; kein kaltes Fleisch; nie; etwa beim Thee. Hat man leises Abweichen; ordinairen Thee; schon Vormittag. Kein Fenster geöffnet, bis die Sonne hell scheint, und aller Morgenthau weg ist; ist flaue Luft, mit Bernstein geräuchert, force! Ist es sonnenheiß – sie ist jetzt trügerisch, immerfort – mit Essig gesprengt. Nie ganz satt gegessen. Vormittag einen Schluck Bischof; nie bloßes Wasser; dies abgekocht. Privation! Ja, ja, ja: dies ist die Abwehr. Knoblauch auf den Magen, oder Kampfer; absolut. Und Gottes Segen von mir angerufen immerdar!
Manche dieser Vorsichtsmaßnahmen entsprachen den offiziellen Empfehlungen: Räuchern, kleine Mahlzeiten, Einreibungen mit Essig und Inhalation von Kampfer. Man wußte nicht viel über die Cholera, glaubte etwa lange, dass sie durch Dünste übertragen würde. Es dauerte noch gut 50 Jahre, bis Robert Koch als Erreger einen Bazillus identifizieren konnte, der besonders durch verunreinigtes Wasser übertragen wird. Mit dieser Erkenntnis war die Gefahr jedoch nicht gebannt: Noch 1892 kam es in Hamburg zu einer Cholera-Epidemie.
Über die Seuche und ihre Ursachen gingen allerhand Gerüchte um, auch üble. Am 3. August schrieb Rahel Varnhagen, einigermaßen fassungslos, ihrem Bruder Ludwig Robert: „Denk dir, dass einem hier die Domestiken erzählen, zwei Juden hätten hier! die Brunnen vergiftet.“ In Königsberg kam es zu Ausschreitungen gegen Juden, die sie im selben Brief erwähnt.
Rahel Varnhagens Verhalten erweckt den Eindruck, als ob sie nichts unversucht lassen wollte, um der Seuche zu entgehen, deren prominenteste Opfer in Preußen Hegel und die Generäle Clausewitz und Gneisenau wurden. Rahel Varnhagen hatte allerdings eigene Gründe für ihre Vorsicht. Ihre Gesundheit war angegriffen; sie kränkelte seit längerem. Erst im Frühjahr hatte sie eine schwere Influenza überstanden. Sie litt an Rheuma und Gicht. Aber sie wollte noch nicht sterben – und sie wollte nicht an dieser Krankheit sterben. Am 9. Oktober 1831 schrieb sie dem Fürsten von Pückler-Muskau:
Stockiges Berlinerleben: und dann die grauelmachende, dumpfe, unbekannte, verschrieene Annäherung des großen Übels – ich nenn sie nicht, die infamierende Krankheit; sich angesteckt zu fühlen, zu meinen: nicht mehr fliehen wollen, könnte man es auch noch: dies ist mir, was mir ein neues lähmendes, nie bedachtes, ganz verworfen fremdes Bewußtsein.
Rahel Varnhagen wollte von der Angst vor der Krankheit nicht gelähmt werden: Das ließ sie tätig werden. Eines war ihr aber noch wichtiger:
Und was hab‘ ich alles entdeckt! Daß ich der größte Aristokrat bin, der lebt. Ich verlange ein besonderes, persönliches Schicksal. Ich kann an keiner Seuche sterben; wie ein Halm unter andern Ähren auf weitem Felde, von Sumpfluft versengt. Ich will allein, an meinen Übeln sterben; das bin ich; mein Karakter, meine Person, mein Physisches, mein Schicksal. ‒ Nie bleibe ich mehr bei solcher Pest, wenn ich fliehen kann.
Dass sie meinte, an ‚keiner Seuche sterben‘ zu können, mochte etwas snobistisch klingen, selbst für den Fürsten, an den es gerichtet war. Man kann in dieser Haltung Hochmut sehen, aber auch die zu Ende gedachte und gelebte Idee der einzigartigen Persönlichkeit, die jeder Mensch ist oder sein sollte. Rahel Varnhagen hat an den eigenen Tod geglaubt, von dem später auch Rainer Maria Rilke im Malte Laurids Brigge erzählt.
Während der Seuche dachte sie nicht nur über ihren Tod nach. Ihrem Bruder Ludwig Robert schrieb sie am 8. September 1831 nach Wien: „Besinnungskrankheit nenn‘ ich‘s – Ich will mich wenigstens besinnen – besinnen sollen wir uns: dazu will ich sie anwenden; die dummen Phrasen immer mehr ausrotten“. Sie zog sich zurück, um sich zu schützen – und um nachzudenken. Am 25. September schrieb sie ihrem Bruder:
Auch thut mir die Einsamkeit, in der man mir keine falsche Vergnügungsvorschläge machen und geben kann, wohl. Ich sehe niemand, als die Kinder, und dann und wann Morgens die Nichten; lese; sorge für meine Leute den ganzen Tag; für deren Kinder; Nachbarn, Kutscher, Waschfrauen, arme Leute: das nur macht mich wohl.
Bei aller Vorsicht kümmerte sich Rahel Varnhagen weiter um Freunde und Familie und, nicht zuletzt, um Arme: „man muß für sie sorgen, und statt ihrer selbst“. Im Übrigen lobte sie „die dritte, vierte Klasse“ auch als „verständig, vorsichtig, folgsam“.
Die Zeit zur Besinnung nahm sich Rahel Varnhagen jedoch trotz aller Fürsorge für andere. Nachdenken war ihr unentbehrlich. Hannah Arendt bezeichnet es in ihrem biographischen Versuch als „Reflexion“, nicht ohne kritischen Akzent. ‚Sich besinnen‘ mag dafür im Fall Rahel Varnhagens die beste Übersetzung sein: sich sammeln, nachdenken, prüfen, entscheiden, woran man festhält, was man aufgibt. Das Nachdenken setzte bei Rahel Varnhagen auch in Krisenzeiten nicht aus. Nachdenkend fand sie sich in der Welt und unter Menschen zurecht. Es war auch ihr Mittel, bei aller Angst keine Panik und keine Paralyse in sich aufkommen zu lassen.
Aus dieser Haltung heraus formulierte sie ihre wichtigste Forderung, wiederum ihrem Bruder gegenüber, ebenfalls am 8. September 1831:
Vielleicht mache ich mich sehr verhaßt durch diese Worte; ich habe sie lange überlegt und erwogen: und sie doch hierher gesetzt: jetzt oder nie, muß Wahrheit hervor; die immer vor sollte, wären wir Alle, und ich an der spitzesten Spitze, nicht strafbare Verzagte, Poltrons.
Dass in der lebensbedrohlichen Krise vor allem Wahrheit, und das hieß für sie auch: Wahrhaftigkeit verlangt ist, nannte sie ihre „Herzensmeinung“. Sie galt ihr als ein Beispiel dafür, „wie Gott mir durch hohe Übel die Erkenntniß, wie für mich, so für euch giebt“.
Rahel Varnhagen glaubte daran, dass Menschen durch Krisen, durch Not und Leiden Einsichten und Erkenntnisse erlangen, über sich und über andere. Ihr Mann, Karl August Varnhagen von Ense, hat ihre Bemerkung „nach einer schrecklichen Nacht“ übermittelt: „ich soll gewiß etwas dadurch lernen“. Wenn Krankheit und andere Übel an sich sinnlos sind, dann mag das der Sinn sein, den wir ihnen für uns geben können. Auch in dieser Haltung hat Rahel Varnhagen schon etwas von einem späteren Konzept vorweggenommen: dem existenzphilosophischen der Grenzsituation. In ihr kann der Mensch nach Karl Jaspers untergehen, aber auch denkend zu sich kommen.
Wie weit das Lernen durch Leiden und am Leiden bei Rahel Varnhagen ging, kann man u.a. daran erkennen, dass sie in der Zeit der namenlosen Seuche ein kleines Selbstporträt schrieb, erkennbar aus einer Selbst-Besinnung heraus. Da sie keine Schriftstellerin im üblichen Sinn war, sondern eher eine Briefstellerin, allerdings eine der großen der deutschen Literatur, tat sie das in einem Brief, auch dieses Mal an ihren Bruder. Die kleine Porträtskizze ist ihr Erkenne-dich-selbst, ihr Auto-Nekrolog, ein etwas selbstironischer Nachruf zu Lebzeiten, gut eineinhalb Jahre vor ihrem Tod:
Wenn ich sterben muß, denke: sie hat alles gewußt: weil sie alles kannte; nie etwas war, nichts beabsichtigte, und alles durch Nachdenken siebte, und in Zusammenhang brachte; sie verstand Fichte; liebte Grünes, Kinder; verstand Künste, der Menschen Behelf. Wollte Gott helfen in seinen Kreaturen. Immerdar, ununterbrochen; und dankte ihm für diese ihre Beschaffenheit. „Das war dem alten Drachen seine gute Seite.“
Rahel Varnhagen ist nicht an der Cholera gestorben. Ihren eigenen Tod hat sie im März 1833 gefunden, qualvoll, mit 62 Jahren.
Anmerkung der Redaktion: Um der besseren Lesbarkeit willen wurden die im Original gesperrt gesetzten Worte in den Zitaten in kursiver Schrift wiedergegeben.
Literaturhinweise
Die Briefe Rahel Varnhagens, die sie nach ihrer Hochzeit auch mit ihrem Taufnamen Friederike – gewählt aus Verehrung für Friedrich II. – unterschrieb, werden hier mit einer Ausnahme nach der fotomechanischen Ausgabe der Gesammelten Werke zitiert, die von Konrad Feilchenfeldt, Uwe Schweikert und Rahel E. Steiner 1983 besorgt wurde. Eine erweiterte sechsbändige Neuausgabe hat Barbara Hahn 2011 im Wallstein Verlag herausgegeben. Hannah Arendts umstrittenes, gleichwohl großartiges Buch Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik erschien auf Deutsch zuerst 1959. Die Theorie der Grenzsituation hat Karl Jaspers im zweiten, „Existenzerhellung“ genannten Band seiner Philosophie von 1932 entwickelt.
Der Beitrag gehört zu Dieter Lampings Kolumne: Wiedergelesen