Alle Übel dieser Welt

Sarah Raichs Science-Fiction-Roman „Equilon“ leidet an einer gewissen Überfrachtung

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lange Zeit galten Science-Fiction-Romane als Lektüre, die von Männern für Männer geschrieben wurde. Und zwar insbesondere für heranwachsende Männer. Das war natürlich nicht ganz falsch, aber auch noch nie völlig zutreffend. Heutzutage aber könnte sich überhaupt ein ganz anderer Eindruck einstellen. Der nämlich, dass die meisten einschlägigen Romane von Frauen für ihre jugendlichen Geschlechtsgenossinnen verfasst werde. Sehr wahrscheinlich handelt es sich dabei allerdings um eine Verzerrung der Wahrnehmung, die darauf beruht, dass es nun überhaupt etwas mehr Literatur dieser Art gibt, während sich Lesende in früheren Zeiten durch eine männlich geprägte Science-Fiction-Literaturwüste quälen mussten, in der nur gelegentlich eine weibliche Oase Labung versprach.

Wie dem auch sei, bei Sarah Raichs zwischen Dystopie, Climate Fiction und Hopepunk angesiedeltem Roman Equilon scheint es sich um eines dieser Science-Fiction-Werke zu handeln, die eine Autorin für jugendliche Leserinnen geschrieben hat, wird er doch von der 19-jährigen Jenna in der ersten Person Singular erzählt. Aber schon im zweiten Kapitel tritt ihr mit Dorian ein männlicher Ich-Erzähler zur Seite, wobei jeder der beiden Erzählstränge in einem anderen Schrifttyp gesetzt ist.

Wie sich zeigt, sind sie beide keineswegs perfekte HeldInnen. Für ein jugendliches Publikum mögen sie vielleicht gerade darum als Identifikationsfiguren taugen.

Auch sticht ins Auge, dass die Autorin sie mit Eigenschaften ausgestattet hat, die den gängigen Geschlechterklischees entgegenlaufen. Bei Dorian handelt es sich um einen erfolglosen und eher schwächlichen Menschen mit einer lyrischen Ader, der sich aufgrund seiner Gutherzigkeit zu einem heimlichen Helden aus reinem Herzen entwickelt. Jenna zeichnet sich hingegen durch ihre hohe Intelligenz aus. Denn „ihr Hirn [ist] eine mächtige Maschine, dazu gemacht, Dinge zu verstehen, zu beherrschen“. Das wird jedenfalls behauptet. Gezeigt wird davon wenig.

Die Handlungszeit umfasst wohl wenige Monate irgendwann im letzten Viertel unseres Jahrhunderts. Die aufgrund der Klimakatastrophe ausgetrocknete Erde ist kaum noch bewohnbar und die Menschen haben Mühe, sich auch nur mit dem Nötigsten zu versorgen. Sieben Milliarden von ihnen lebt in den „Grenzländer“ genannten Gebieten des „vollkommen fertigen Planeten“. Andere, deren Zahl unbestimmt ist, vegetieren in Wastelands dahin.

Um die Anzahl der Menschen zu reduzieren, wurden verschiedene Strategien erarbeitet. So ist es möglich, sich in Großraumschiffen auf den langen Weg zu einer zweiten Erde zu begeben, sich einfrieren zu lassen oder nach einigen glücklichen Tagen einen wundervollen Drogentod zu sterben. Allerdings ist nicht auszuschließen, dass alle, die sich für eine dieser Möglichkeiten entscheiden, einfach getötet werden.

Da die Regierungen versagt hatten, haben vor einigen Jahrzehnten sogenannte MegaGoods, bei denen es sich um eine Art zukünftiger Konzerne zu handeln scheint, „die Führung der Menschheit übernommen“. Sie haben den titelstiftenden Algorithmus EQUILON programmiert, damit er „die Welt reorganisiert“. Seither fungiert er als „Garant für Gerechtigkeit“. Einer der MegaGoods namens VERO arbeitet in New Valley ständig daran, EQUILON immer weiter zu verbessern, und so dafür zu sorgen, dass die Welt immer gerechter wird. Dieses New Valley liegt an der Ostküste Alascanadas (mithin als im Bereich Alaskas oder Kanadas) und ist ein „Safe Place“, in dem die „1 Milliarde“ in einer geradezu paradiesischen Umgebung ein luxuriöses Leben führt.

Die Hoffnung der in den Grenzländern lebenden Menschen besteht daher verständlicherweise darin, irgendwann einmal in die 1 Milliarde aufgenommen zu werden. Dazu müssen sie allerdings einen bestimmten Score erreichen, der ständig über einen im Nacken implantierten Chip neu berechnet wird. Nach welchen Kriterien diese Berechnungen erfolgen, liegt allerdings weitgehend im Dunkeln. So weiß „niemand […] genau, was alles Punktabzüge gibt“. Klar ist aber, dass der Score bei Ressourcenverbrauch und Luftverschmutzung sinkt, für umweltschonende Erfindungen hingegen steigt.

Jenna, die in der „staubige[n], karge[n] Reststadt“ Old B (also dem, was von Berlin übrig geblieben ist) lebt, will unbedingt nach New Valley, um den Algorithmus und somit die Welt zu verbessern. Schon zu Beginn des Romans erreicht sie die notwendige Punktzahl und wird nicht nur in die 1 Milliarde aufgenommen, sondern bekommt auch eine Stelle bei VERO in New Valley. Der in den Resten der bei einem Erdbeben untergegangenen Stadt San Franzisco lebende Dorian hat hingegen nicht die geringste Chance, jemals den notwendigen Score zu erreichen. Ohne Sinn und Ziel im Leben will er seinem Dasein ein Ende setzen, wird jedoch von einem „dickliche[n] Mädchen mit Brille“ und einer „Beinschiene“ daran gehindert. Bald darauf stirbt die Pflegemutter der etwa 10- oder 12-Jährigen und sie bleibt ganz allein auf der Welt zurück. Ihr Vater aber soll in New Valley leben. Dorian nimmt sich ihrer an und versucht, sie auf illegalem Weg zu ihm zu bringen.

Dass sich das nicht so einfach gestaltet und dass sich Jennas Idealvorstellungen von New Valley nicht ganz erfüllen, ist wenig überraschend. Dafür „verknallt“ sie sich allerdings in keinen geringeren als Cory, „DEN CHEF DER ENTWICKLUNG VON EQUILON!!!“. Es dauert nicht lange, bis er und „die kleine Jenna aus Old B“ ein Paar werden. Dass auch das auf Dauer nicht gut gehen kann, liegt auf der Hand.

Überhaupt scheint die Autorin alle Übel dieser Welt in ihre Geschichte gepackt zu haben, so dass es ihr angebracht erschien, die Lesenden davor zu warnen, was sie bei der Lektüre alles erwartet:

Zentrale Themen diese Buches sind struktureller und expliziter Rassismus, Klimarassismus, Ableismus, Sexismus und Transfeindlichkeit. Es gibt explizite Schilderungen von Gewalt sowohl gegen Menschen als auch gegen Tiere, ebenso Polizeigewalt. Die Erfahrung misgendert worden zu sein, wird beschrieben. Schwere Erkrankung, Krebs und Tod sind Themen des Buches. […] zwei Selbsttötungsversuche, Schilderungen psychotischer Zustände[.] […] versuchter Femizid […] eine[.] toxische[.], immer gewaltvoller werdende[.] Beziehung.

Weder die Gesellschaften in New Valley und den Grenzländern noch die Handlung sind sonderlich konsistent konzipiert. Warum sollten die Menschen in New Valley vorgeben, sich um die Gerechtigkeit aller zu sorgen? Und wieso soll ein Floß, dessen Motor in einen Rucksack passt und von einem Menschen mit den Händen ins Wasser gehalten werden muss, innerhalb von drei Tagen einige hundert Meilen entlang der Ostküste der ehemaligen USA zurücklegen können? Zudem wird das Geschehen gelegentlich von denkbar unwahrscheinlichen Zufällen vorangetrieben.

Was nun den Stil betrifft, so fällt auf, dass immer wieder Anglizismen eingebaut werden. So möchte etwa jemand „nicht so unfocused“ sein. Andere fordern auf: „Listen up, everybody!“, „Go get them, tiger!“ oder „So letʼs do some magic!“. Überhaupt stellt sich die Frage, in welcher Sprache die Figuren miteinander reden. Von Jenna, die aus Old B (Berlin) kommt, könnte man denken, dass sie und die anderen EinwohnerInnen der Stadt Deutsch sprechen. Wie aber verständigt sie sich dann in New Valley? Sprechen sie dort auch ein mit Anglizismen versetztes Deutsch?

Doch ist der Stil nicht nur reich an Anglizismen, sondern auch an typischen Wendungen der deutschen (Jugend-)Sprache. Es wird etwa „Danke für nichts“ gehöhnt. Denn wieder ist etwas „Null persönlich gemeint.“ „Wie krass ist das denn!“ wird gleich mehrmals ausgerufen und selbst die gute alte „Kackscheiße“ muss mal herhalten.

Originell ist hingegen die Idee, dass sich Menschen als Androiden ausgeben. Völlig abstrus, aber ebenfalls originell ist die Rolle, welche die Autorin Beatles-Songs zugedacht hat.

Doch worum geht es in dem Roman letzten Endes? „Zwei Fremde retten einander das Leben. […] vielleicht ist es genau das, worum es geht.“

Titelbild

Sarah Raich: Equilon. Atemberaubende Near Future Fiction mitreißend authentisch erzählt.
dtv Verlag, München 2023.
400 Seiten , 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783423740883

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