Lohnende Spurensuche

Hans-Christoph Ramm weist nach, dass Wilhelm Hauff in seinen Texten zeitgenössische liberale Vorstellungen verhandelt, wie sie Wilhelm von Humboldt und andere vertraten

Von Stefan NeuhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Neuhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bis heute gehören neben den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm die Märchen Wilhelm Hauffs zu den populärsten Lektüren im deutschsprachigen Raum. Nicht nur Kinder, auch die ihnen vorlesenden oder mitlesenden Erwachsenen konnten und können sich für die ins kollektive Gedächtnis eingegangenen Figuren des Schwaben begeistern, etwa für den Zwerg Nase, den kleinen Muck oder den Kalif Storch, deren Geschichten auch ihre Namen im Titel tragen.

Die Rezeptionsdokumente sprechen eine eigene Sprache: Die Verfilmung von Das kalte Herz durch Paul Verhoeven war der erste Farbfilm der ostdeutschen DEFA und Die Geschichte vom kleinen Muck, 1953 von Wolfgang Staudte realisiert, ihre erfolgreichste Produktion überhaupt. Das kalte Herz scheint seinen Rang als wohl meistverfilmtes Märchen weiter zu behaupten, allein für die Jahre 2013-2016 gibt es mindestens drei neue Versionen. Auch unter renommierten Autor:innen bleibt Hauff hoch im Kurs, sie greifen gern auf bekannte Motive zurück, so etwa – beide im Jahr 2022 – Norbert Scheuer mit dem Titel seines Romans Mutabor, bekanntlich das erlösende Zauberwort aus Kalif Storch, und Ulla Hahn mit ihrem Roman Tage in Vitopia, in dem der Schatzhauser aus Das kalte Herz eine besondere Rolle spielt.

Die wissenschaftliche Rezeption Hauffs fällt dagegen ganz anders aus, man könnte auch kalauernd sagen: fällt fast ganz aus. Es gibt nur wenige Monographien, Sammelbände und Aufsätze zu Autor und Werk, ungefähr so viele wie zu dritt- oder viertklassigen, heute wegen ihrer geringen Originalität nicht mehr gelesenen und beachteten Autor:innen. Es gibt keine Hauff-Gesellschaft, aktuell keinen Hauff-Preis und auch sonst fehlen alle Anzeichen jener Kanonisierung, die unsere Gesellschaft ihren bedeutenden Autor:innen sonst gern angedeihen lässt, um sich mit ihrem Andenken zu schmücken. Es gab durchaus immer mal wieder Ansätze dazu, so finden sich im Netz Informationen zu einem Wilhelm-Hauff-Preis, der in den Jahren 1978-1985 viermal verliehen worden sein soll, an Susan Cooper, Astrid Lindgren, Michael Ende und Susan Varley. Doch scheint die Ausnahme die Regel zu bestätigen.

Nun unternimmt, nach wieder einmal Jahren der weitgehenden Nichtbeachtung, Hans-Christoph Ramm in der Academic-Reihe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft den Versuch, das Ruder vielleicht nicht herumzureißen, aber doch zumindest wieder etwas an ihm zu drehen. Schon das kann als verdienstvoll bezeichnet werden. Die in Lexikoneinträgen seit vielen Jahrzehnten gebetsmühlenartig wiederholte angebliche Epigonalität von Hauffs Märchen kann eigentlich nur noch entweder zum Gähnen oder zum Kopfschütteln anregen, hat die hier beispielhaft angesprochene Rezeption doch gerade das Originelle der Figuren und Handlungsmuster der Hauffʼschen Märchen zur Grundlage. Auch das oft wiederholte Argument, Hauff habe wegen seines frühen Todes nicht die Möglichkeit gehabt, sich ‚richtig‘ zu entwickeln, lässt sich mit dem Verweis auf den vielleicht höchstrenommierten deutschsprachigen Autor Georg Büchner leicht widerlegen. Hauff (18021827) wurde knapp 25 Jahre alt, Büchners Leben (18131837) fiel noch rund eineinhalb Jahre kürzer aus.

Dazu kommen, neben beachtenswerten Novellen, die erstaunlicherweise fast ganz vergessenen Romane, die zu Lebzeiten Hauffs deutlich mehr Furore machten als die Märchenalmanache: Der Mann im Mond oder Der Zug des Herzens ist des Schicksals Stimme, 1825 als Parodie auf (und unter dem Pseudonym von) H. Clauren (ein Anagramm für Carl Heun) publiziert (der vielleicht erste große und in vielerlei Hinsicht wegweisende Literaturskandal der Moderne) und Mittheilungen aus den Memoiren des Satan (1825/1826), eine nihilistische Satire auf die biedermeierliche Gesellschaft der Zeit, nicht zu vergessen der historische Roman Lichtenstein (1826), der sogar als Blaupause für den Wiederaufbau der titelgebenden schwäbischen Burg diente (und in der Studie Ramms leider gar nicht vorkommt). Anfänglich war es Hauffs berühmtestes Werk, die Kritik an den restaurativ-monarchischen Verhältnissen wurde von seinen Zeitgenossen verstanden und goutiert, während die Rezeption sich später erstaunlicherweise darauf festlegte, es handele sich um ein das historische Württemberg glorifizierendes Werk. Der in allerlei Burschenschaften und sonstigen vormärzlich auf Revolution gebürsteten Gesellschaften umtriebige Autor würde sich heute die Augen reiben und denken, dass man ihn im Lauf der Geschichte verwechselt haben muss.

Ramms Arbeit kann als ein Gegenprogramm zu den verfestigten Stereotypen der Rezeption gelesen werden. Er fährt allerschwerstes Geschütz auf, etwa Johann Gottfried Herder, Wilhelm von Humboldt und Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Hauffs Leben und Werk werden in die Philosophiegeschichte des späten 18. und 19. Jahrhunderts eingebettet, der Autor zitiert aus zahlreichen Quellen, um Parallelen zwischen dem aus Bildungsgang und Werk ableitbaren Denken Hauffs und den Tendenzen der Zeit aufzuzeigen, mit besonderem Blick auf die Rolle Napoleons, der über seinen Tod hinaus als Kreuzungspunkt unterschiedlicher politischer Vorstellungen in Schriften aller Art eine kaum zu überschätzende Rolle spielte; weshalb Ramm auch als letzten Text Hauffs Novelle Das Bild des Kaisers behandelt.

Von Beginn der Studie an wird Hauff „als Dichter des Vormärz“ charakterisiert. Das ist ebenso unüblich wie mutig. Das sonst gern betonte Biedermeierliche der Texte wird von Ramm explizit zurückgewiesen, weil er die Texte konsequent vor dem Hintergrund einer ihnen subversiv eingeschriebenen Kritik am Absolutismus wahrnimmt: „Hauffs Kunstmärchen, gegen ihre biedermeierliche Idylle gelesen, bringen erfrischend moderne Lesarten ins Spiel“ (S. 41). Der manchmal in der Forschung zu findenden Einstufung Hauffs als frühem Realisten stimmt Ramm dabei ebenso zu; er macht plausibel, dass und wie es im Werk – auch auf die Zensur unterlaufende, codierte Weise – um die relevanten Fragen des zeitgenössischen Alltags geht, um Soziales, Ökonomisches und eben Politisches: „Die Leitvorstellung einer liberalen bürgerlichen Gesellschaft macht die Modernität der Märchendichtungen Hauffs aus“ (S. 44).

Sicher richtig und noch zu vertiefen wäre der beobachtete Schulterschluss mit dem verehrten Schiller; die Verweise auf dessen Werk in Hauffs Texten sind zahlreich, beginnend mit dem Titel seines ersten Romans. Ramm betont literatur- und philosophiegeschichtlich ganz zurecht, dass auch Hauff habe mitwirken wollen an dem von Schiller formulierten Projekt einer „Erziehung des Menschengeschlechts in einer zukunftsoffenen menschlichen Geschichte“ (S. 73). Interessant ist, dass er Hauff dabei eine „Denkfigur einer sozialen Liebe“ attestiert, aufruhend auf einer „Mitleidsästhetik“ (S. 78). Das wäre eher das Programm Lessings und der Spätaufklärung, andererseits sind Hauffs Figuren zweifellos mit besonderen emotionalen Qualitäten ausgestattet. Hier würde sich ein Raum für die Emotionsforschung öffnen; überhaupt stößt Ramm viele Aspekte an, die auf andere Weise eine Vertiefung verdienten und er führt auch auf diese Weise vor, wie unterschätzt komplex Hauffs Texte sind.

Manches, was angestoßen wird, wäre wohl etwas anders zu akzentuieren, etwa die Frage der Auseinandersetzung Hauffs mit Sir Walter Scott, der nicht den „erste[n] historische[n] Roman der Weltliteratur“ (S. 89), aber immerhin den ersten modernen historischen Roman der Weltliteratur verfasste. Scotts Romane waren keineswegs dazu angetan, „die Entfremdungserfahrungen der Moderne, die Nivellierung der Individualität, den Verlust traditioneller Wertevorstellungen rückwärtsgewandt“ zu kompensieren (S. 88), ganz im Gegenteil. Scott hatte nicht zuletzt von Goethe und Schiller gelernt (und war lebenslanger und hochgeschätzter Brieffreund Goethes). Scotts Romane führen, das könnte moderner nicht sein, literarisch-praktisch die Kontingenz der historischen Entwicklungen vor, wie sie Schiller in seiner Antrittsvorlesung 1789 herausgearbeitet hatte. Und sie negieren auf radikale Weise die tradierte Auffassung von Geschichte als Abfolge von Haupt- und Staatsaktionen. Scott schreibt 150 Jahre vor der Sozialgeschichte bereits sozialgeschichtliche Romane. Im Lichtenstein nutzt Hauff Scotts Modell und entwickelt es weiter.

Richtig ist sicher auch, dass Hauffs Texte durchgängig ironisch erzählt sind. Ob sie sich deshalb mit denen Thomas Manns vergleichen lassen (vgl. S. 101), sei dahingestellt. Auch andere bedeutende Autoren erzählen ironisch, etwa der von Thomas Mann verehrte Theodor Fontane. Bereits Schillers Figurenzeichnung ist nicht ohne Ironie; aber vor allem dürfte Hauff, wie an zahlreichen Strukturen und Motiven seiner Texte ablesbar, an E.T.A. Hoffmann angeschlossen haben. Wenn man über Hauffs satanische Memoiren spricht, sollte man eigentlich auch über Hoffmanns Elixiere des Teufels sprechen.

Dass die Ironie bei Hauff mit der romantischen Ironie nichts zu tun hat, außer dass sie ihr Motivinventar nutzt (und auf links dreht), das macht Ramm unmissverständlich deutlich (vgl. S. 102). Ob Hauff aber durchweg „Homo faber“-Figuren gestaltet (vgl. u.a. S. 122), sei dahingestellt. Hauffs Texte setzen das Programm der Aufklärung fort und sind zugleich aufklärungskritisch, weil sie mit Hoffmann und der Schwarzen Romantik annehmen, dass es sehr viel zwischen Himmel und Erde gibt, das sich nicht einfach so erklären lässt, und dass alles andere anzunehmen auf Hybris hinauslaufen würde (eine Erfahrung, die sehr viel später, aber durchaus prototypisch der Protagonist von Max Frischs Roman Homo faber machen muss).

In eine solche Richtung deuten auch bereits Feststellungen wie diese:

Hauff bringt die Krise des Märchenerzählens durch Fiktionsbrüche zum Ausdruck, die er durch das Erzählen von Kunstmärchen und ihrer Rahmen gegen kausale Motivverkettungen, auf den Sinnebenen seiner Märchen unterläuft.

(S. 133 / wie dieser grammatikalisch nicht ganz korrekte Satz zeigt, hätte dem Band noch ein Lektorat gutgetan, vor allem in der Kommasetzung).

Auch die letztlich auf folgende Formel gebrachte politische Tendenz der Werke weist in die Richtung größerer Modernität: „Die verbogenen Gestalten des Zwerg Nase und des kleinen Muck, beispielsweise, evozieren hingegen radikal-demokratische Einstellungen“ (S. 300). Da Demokratie im heutigen Sinn damals noch nicht gedacht war, könnte man vielleicht eher sagen: frühdemokratische.

Was hat das nun alles mit ‚Spielen des Bösen‘ zu tun? Peter-André Alts kundige Studie Ästhetik des Bösen schimmert natürlich durch, aber wäre ein anderer Titel nicht passgenauer gewesen, um das zu bezeichnen, was die Studie eigentlich zeigen möchte? Die Enttheologisierung des Bösen, seine zunehmende ästhetische Gestaltung, das diskursive Verhandeln nun nicht mehr einseitiger und letztbegründeter Standpunkte, das ist in der Tat ein wichtiger Aspekt des Hauffʼschen Werks, auch wenn er in der Studie nicht so im Zentrum steht, wie es der Titel vermuten lässt.

In der Summe handelt es sich um eine höchst anregende Arbeit, um eine im besten Sinn gelehrte und zudem überfällige Auseinandersetzung mit dem Werk Hauffs im Kontext der Geistes- und Kulturgeschichte. Es bleibt zu hoffen, dass sie viele Leser:innen findet, die sich durch sie anregen lassen, den in Hauffs Werk gelegten Spuren, von denen einige hier erstmals näher beleuchtet werden, weiter zu folgen.

Titelbild

Hans-Christoph Ramm: Wilhelm Hauff – Spiele des Bösen. Die Märchenalmanache, Mitteilungen aus den Memoiren des Satan und Das Bild des Kaisers.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2022.
318 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783534406821

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