Backenstreiche für einen Autor und für die Leserschaft
In dem Kurzprosaband „Die Ohrfeige“ stellt Wiard Raveling geistreiche und sprachlich ausgefeilte Texte vor
Von Rainer Rönsch
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie titelgebende Ohrfeige wird einem bekannten Schriftsteller verpasst, aber auch für den Leser hält Wiard Raveling in den 21 Kurztexten einige Backenstreiche bereit, indem er Geschichten einfach nicht auflöst. Er bedient sich einer ausgefeilten Schreibkunst, die auch überlangen Sätzen zu Wohlklang verhilft.
Auf zahlreiche Beiträge dieses Bandes trifft eine Formulierung auf Seite 113 zu: „Der Text ist ziemlich umfangreich, auch stellenweise sehr weitschweifig und umständlich formuliert.“ Freilich sind Weitschweifigkeit und Umständlichkeit hier gewollt und erzeugen geistreiche Parodien auf verquaste literaturkritische Abhandlungen.
Am überzeugendsten gelingt dies in dem recht langen Text „Annäherung an ein Gedicht“. Einem Jonathan Storch (hoffentlich keinem der im Internet genannten Träger dieses Namens!) wird dieses titellose „Gedicht“ zugeschrieben:
da liegt
ein stück
hunde
dreck
Aus diesen vier Zeilen zündet der Autor ein Feuerwerk aus Nonsense und durchaus tiefgründigen Feststellungen, nur eben „am falschen Objekt“. Richtig albern wird es, wenn der fehlende Bindestrich zwischen hunde und dreck als „poetisch feinfühlige und diskrete Darstellung“ der Tatsache herhalten muss, dass der Dreck sich vom Hund getrennt hat. Angesichts des Erfindungsreichtums des Autors will man bald nicht mehr wissen, ob es die von ihm genannten Koryphäen tatsächlich gibt. Beim vielzitierten Witold Kabadnadse jedenfalls führte jede Recherche in die Leere.
Die Parodie spielt auch in der Titelgeschichte eine wichtige Rolle. Hier geht es um die vielgelesenen literarischen Parodien „Mit fremden Federn“ von Robert Neumann, der von einem übergründlichen Nietzsche-Leser eine so überraschende wie unverdiente Ohrfeige erhält. Vorher hat man sich köstlich darüber amüsiert, wie sich ein halbgebildeter Mann monoman nur noch mit Friedrich Nietzsche befasst und „die bei weitem umfangreichste private Nietzsche-Bibliothek der Welt“ besitzt.
Beim Text „Öffentliche Kunst“ war ich als Dresdner nach misslichen Erfahrungen mit einer Bürgerstiftung hinsichtlich des passenden Ortes für ein Gemälde erleichtert, dass die Geschichte zwar in D. „irgendwo in den neuen Bundesländern“ spielt, der Schauplatz aber als mittlere Kleinstadt bezeichnet wird. Hier hat man „teures, sehr teures Geld ausgegeben“ für eine Skulptur, die von Experten als ästhetisches Meisterwerk bezeichnet, von der Stadteinwohnerschaft jedoch als unverschämte Zumutung abgelehnt wird. Daraufhin beschließt der Stadtrat, alle volljährigen Einwohner zu regelmäßigem Besuch der Skulptur zu verpflichten. Zuwiderhandelnden droht der Verlust des Wohnrechts.
Einen düsteren Blick auf die Rezeption und Übersetzbarkeit von Lyrik wirft der Text „Ein Gedicht in Goa“. Ein Missionarsdiener in Goa fragt seinen Herrn, ob er auch lesen dürfe, was diesen so zufrieden stimme. Er bekommt zur Antwort, er könne nicht genug Portugiesisch und wisse auch sonst zu wenig. Auch sein Herr verstehe nur vielleicht drei von jeweils zehn Gedichten. Doch dann kümmert sich der Missionar um die Bildung seines Schützlings, und der darf nach zehn mühevollen Jahren endlich das Gedicht Estatua Falsa lesen. (Die Leserschaft ebenfalls, freilich nur im portugiesischen Original. Man findet den gleichnamigen Song der Fado-Interpretin Mísia bei YouTube.) Der Diener, von der mehrfachen nächtlichen Lektüre beeindruckt, fragt nach mehr Gedichten und muss hören, die in anderen Sprachen verstehe er nicht. Gedichte könne man nicht übersetzen wie ein Kochrezept. Da geht er hinaus in den Wald und kehrt nie mehr zurück.
Kurz hingewiesen sei auf einige weitere Texte voller Einfallsreichtum und List.
„Der Blick in den Spiegel oder Das Ende der Apartheid“: Da erschießt sich ein weißer Südafrikaner, als er einsieht, „dass weiße Menschen in keiner Weise mehr wert sind als Schwarze, Mischlinge oder Asiaten.“
„Der Rat des alten Vaters“: Den Rat des Vaters, nicht auf den Rat anderer Menschen zu hören, will der ergriffene Sohn gern befolgen und fängt gleich damit an.
„Der Weise und der Schwachsinnige“: Der Schwachsinnige hält den Weisen für dumm, der Weise den Schwachsinnigen nicht.
„Ein Beitrag zur Suchtforschung“: Die genetisch bedingte Suchtanfälligkeit des Autors ist gleich null, so dass er täglich 70 Zigaretten rauchen sowie 20 Flaschen Bier und einen Liter Weizenkorn trinken kann, ohne süchtig zu werden.
„Das tibetanische Kloster“: Die Leserschaft erfährt nicht, warum ein Europäer in jährlichem Abstand dreimal morgens aus seiner Übernachtungszelle verschwunden ist. Der Fremde lüftet sein Geheimnis vor dem Klostervorsteher, doch der muss schwören, niemandem davon zu erzählen. „Und der Oberlama hat bis zum heutigen Tag seinen Schwur nicht gebrochen.“
„Henrike van Campen“: Wäre die Titelheldin nicht mit drei Jahren an Typhus gestorben, hätte sie eine bedeutende expressionistische Malerin und unerschrockene Vorkämpferin der Rechte der Frauen werden können. Aber leider …
„Eine Wette“: Das verschmitzte offene Ende der letzten Geschichte passt vorzüglich zu diesem Band. Da hat jemand darüber gewettet, ob die Mona Lisa von Leonardo da Vinci oder die Nachtwache von Rembrandt das bedeutendere Gemälde sei. „Ich habe die Wette verloren.“
Dieser schmale Band bringt viel Lesegenuss – am meisten dort, wo es um Kunst und Literatur geht. Gern würde man von diesem Autor auch mal etwas ganz Knappes lesen – Aphorismen sind ihm zuzutrauen.
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