Leben und Sterben des Apostol Bologa

Im Roman „Der Wald der Gehenkten“ führt Liviu Rebreanu seinen Protagonisten in die Katastrophe

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dieser Roman erinnert an eine antike Tragödie: Ab den ersten Seiten ist dem Leser vollkommen klar, wie es enden wird. Dann entfaltet sich das Geschehen in seiner ganzen Wucht und strebt unaufhaltsam der Katastrophe zu. Damit ist freilich noch nicht allzu viel verraten, denn in Liviu Rebreanus Klassiker Der Wald der Gehenkten aus dem Jahr 1922 geht es nicht in erster Linie um das Was der Geschichte, sondern um das Wie. Dass es dem Autor unter diesen Umständen gelingt, die Spannung bis zu den allerletzten Zeilen aufrecht zu erhalten, ist eines der großen Verdienste des Romans. Im inneren Konflikt des Protagonisten, in dessen Zerrissenheit zwischen den möglichen Handlungsoptionen, besteht der eigentliche Gehalt dieses bemerkenswerten Romans. Alle weiteren Ereignisse dienen als retardierende Momente lediglich dem Aufschub dessen, was unweigerlich noch passieren muss. 

Wir befinden uns im Ersten Weltkrieg, in dessen drittem Jahr, an der Front irgendwo im westlichen Russland, auf einem Richtplatz. Apostol Bologa steht als Leutnant in Diensten Österreich-Ungarns, einem Imperium, das diesen Krieg nicht überdauern wird. Bologa ist als ethnischer Rumäne im Norden Siebenbürgens geboren, das damals noch zum Habsburgerreich gehörte. Er hat bereits mehr als zwei Jahre gedient und steht nun vor dem Galgen, wo in Kürze ein Deserteur hingerichtet werden soll. Der Unterleutnant Svoboda, ein Tscheche, hatte versucht, zum Feind überzulaufen. Bologa war Mitglied des Kriegsgerichts, das einstimmig das Todesurteil gefällt hat. Während Svoboda gehängt wird, setzen bei Bologa erste Zweifel darüber ein, ob er richtig gehandelt hat. In den folgenden Tagen und Wochen wird bei Apostol Bologa ein ungleich tieferer, fundamentaler Konflikt an die Oberfläche gelangen: Was ist höher zu werten, der Dienst am „Vaterland“ und somit die Pflicht gegenüber dem österreich-ungarischen Staat – oder aber die Loyalität zum eigenen, rumänischen „Volk“?

Die Hinrichtungsszene zu Beginn des Romans verstört durch ihre intensive Brutalität und Symbolik. Was in Bologas Leben zuvor geschehen ist, erfahren wir erst allmählich. Geboren als Sohn des Rechtsanwalts Iosif Bologa, hatte Apostol zunächst Priester werden wollen – und zwar unter dem Einfluss seiner frömmelnden Mutter Maria, aber auch aufgrund eines religiösen Erweckungserlebnisses bei einem Gottesdienst in seinen Kinderjahren. Später entschloss sich Apostol jedoch, in Budapest Philosophie zu studieren. Das hat ihn geprägt und seine „Lebensanschauung“ geformt. In seiner Heimat wartete auch schon eine Braut, Marta, auf ihn. Apostols Vater starb früh, nicht ohne dem Sohn sein Vermächtnis mit auf den Weg gegeben zu haben: „Tue deine Pflicht als Mann und vergiss niemals, dass du ein Rumäne bist!“ Bald brach der Krieg aus, und Apostol Bologa meldete sich für die Front. Zum Zeitpunkt des Romanbeginns ist er bereits mehrfach verletzt und ausgezeichnet worden.

Solange Bologa sich in Russland im Einsatz befand, schien alles einigermaßen in Ordnung. Doch nun soll er an die rumänische Front versetzt werden. Damit wird er künftig als österreich-ungarischer Offizier gegen seine eigenen rumänischen Landsleute kämpfen müssen, die sich auf der anderen Seite der Frontlinie befinden. Diese neue Konstellation verschärft Bologas inneren Konflikt. Er versucht zwar noch, sich anderswohin versetzen zu lassen, doch dieser Wunsch weckt den Argwohn seiner Vorgesetzten. Immerhin erreicht Bologa, dass er am neuen Dienstort zunächst im Munitionslager eingesetzt wird und nicht direkt im Kriegsgeschehen. Hier im Dörfchen Făget in den Ostkarpaten verliebt er sich in Ilona Vidor, die Tochter des örtlichen Totengräbers.

Die intensive Spannung, die der Roman nun nach und nach aufbaut, hat ihre Ursache in zwei Umständen. Deren erster ist Bologas innerer Kampf, der sich immer mehr zuspitzt. Auf der einen Seite bedrängt ihn die Pflicht als österreich-ungarischer Offizier, auf der anderen Seite meldet sich das Gewissen, das ihn seinen rumänischen „Brüdern“ näher bringt: Bologa zieht nun selbst die Desertion in Erwägung. Der Krieg in Rebreanus Roman findet folglich weniger auf den Schlachtfeldern als vielmehr im Innenleben des Protagonisten statt. Bologas seelische Qualen werden von Rebreanu meisterhaft gestaltet.

Der zweite Umstand betrifft die zahlreichen retardierenden Momente, welche die bevorstehende Katastrophe zwar nicht aufhalten, aber doch hinauszögern. Da ist die unvermittelt erwachte Liebe zu Ilona, die Bologa bei einem Heimaturlaub zum Bruch mit Marta veranlasst. In der Begegnung mit Ilona deutet sich zumindest die Möglichkeit einer anderen, „zivilen“ Zukunft an, auch wenn völlig offen bleibt, wie diese aussehen könnte. Da sind aber auch die zahlreichen Gespräche Bologas mit seinen Dienstkameraden. Sie alle haben eine eigene Einstellung zum Krieg ausgebildet und äußern diese mehr oder weniger offen. Der tschechische Hauptmann Klapka wäre selbst einmal gerne desertiert, war dafür jedoch letztlich zu feige: Er will den Krieg aussitzen und auf bessere Zeiten warten. Der Ruthene Cerwenko flüchtet sich in die Religion und hat es bisher immerhin geschafft, den Einsatz einer Waffe zu vermeiden. Der Jude Gross wiederum versucht, im Krieg die Menschlichkeit zu retten, ist selbst aber schon längst dem Zynismus verfallen. Nachdem Bologa eine Auszeichnung erhalten hat, ruft Gross ihm ironisch zu: „Bravo, du Philosoph! Du hast noch ein paar Leute umgebracht, für ein Stück Blech …“. Und der Husarenleutnant Varga, der ethnische Ungar, erinnert Bologa immer wieder an dessen staatsbürgerliche Pflicht. Die verschiedenen Haltungen seiner Kameraden zum Krieg sollen Bologa zeigen, dass es auch noch andere Handlungsmöglichkeiten gäbe. Sie ändern aber schließlich nichts an Bologas Schicksal. Gleichzeitig manifestiert sich in diesen Diskussionen auch die tiefe Gespaltenheit des Vielvölkerreichs, dessen letzte Stunde geschlagen hat, auch wenn die Soldaten und Offiziere dies noch nicht wissen können.

Apostol Bologas innerer Widerstreit ist hochaktuell. Die Frage der Loyalität und der Zugehörigkeit zu einem Land oder zu einer Kultur beschäftigt uns gerade in heutiger Zeit wieder, und dies nicht nur in Rumänien. Es ehrt Liviu Rebreanu und spricht zugleich für die Qualität seines Romans, dass er in diesen Fragen keine allzu simplen und pauschalen Antworten gibt. Weder redet Rebreanu den Konflikt klein, noch macht er aus Apostol Bologa einen überzeugten rumänischen Nationalisten. Selbst wenn Bologa von anderen mitunter als Chauvinist bezeichnet wird und er sich schließlich für den einen Weg entscheidet: Rebreanu zeigt auf, dass es immer auch andere Wege gibt. Dieser differenzierte Zugang zu einer komplexen Thematik ist umso erfreulicher, als das Verhältnis zwischen Rumänen und Ungarn oft ein schwieriges war. Nach dem Kriegsende wurde Siebenbürgen 1918 Rumänien zugeschlagen. Seitdem sind die Verhältnisse gewissermaßen umgekehrt: Nun sind die ethnischen Ungarn in Siebenbürgen eine Minderheit. 2018 wird in Rumänien das Jubiläum der so genannten „Großen Vereinigung“ (Marea Unire) begangen. Es stützt sich allerdings auf die rumänische Wahrnehmung dieses historischen Ereignisses. Die Dringlichkeit von Rebreanus Roman wächst vor diesem Hintergrund also noch einmal deutlich.

Der Wald der Gehenkten ist nicht nur – und nicht einmal vorwiegend – ein historischer Roman und ein Kriegsroman: Wir haben hier vor allem das Psychogramm eines innerlich zerrissenen Menschen vor uns. Dieses erschöpft sich jedoch nicht im oben erwähnten ethischen Konflikt des Protagonisten um die Frage von richtigem oder falschem Handeln. Dieser Gegensatz ist zwar zentral, doch wird er im Roman um zusätzliche Dimensionen angereichert. Da wäre zunächst die religiöse Ebene, die sich schon in der Namensgebung andeutet (Apostol; seine Eltern Iosif und Maria) und die mit einer ausgeprägten Lichtmetaphorik einhergeht. Apostol sucht nach der Erleuchtung, ringt um Gott, um den Glauben. Kann und soll Apostol – ganz seinem Namen entsprechend – ein Nachfolger Christi werden, der eine Mission zu erfüllen hat? Bologas verzweifeltes Ringen führt ihn mitunter zu wahnartigen Vorstellungen. Daher kann man den Roman auch als die Geschichte einer Krankheit lesen, für welche die Psychiatrie sicherlich eine genaue Diagnose parat hätte. Damit stellt Rebreanu indirekt die Ansicht in den Raum, der Nationalismus könne auch in den Wahnsinn führen – ein für die damaligen Verhältnisse durchaus provokanter Gedanke.

Wie Rebreanu die Lebensgeschichte seines Protagonisten gestaltet, wie er dessen Innenleben seziert, überzeugt vollauf. Nichts ist hier plump, karikaturhaft oder überspitzt. Im Gegenteil: Die Geschichte wirkt zwingend, der Konflikt wird detailliert und auf einleuchtende Weise dargestellt. Lediglich wenn es um die Liebe geht, verfällt Rebreanu mitunter in etwas gar zu süßliche und pathetische Töne. Das dürfte aber der Entstehungszeit des Romans geschuldet sein. Ansonsten ist Rebreanus Sprache erstaunlich modern und frisch, was gewiss auch an der ausgezeichneten Neuübersetzung von Georg Aescht liegt.

Ein großes Ärgernis muss an dieser Stelle angesprochen werden. Das schöne Umschlagbild, im Retrolook gehalten, bildet einen Wald mit einem Gestirn im Hintergrund ab. Dazu findet man im Buch folgende Angaben: „Umschlag: Anzinger und Rasp, München“, „Illustration: Lukas Millinger“. Man muss also annehmen, dass das Titelbild von Lukas Millinger entworfen wurde. Nur stimmt das so nicht. Eine sehr ähnliche Illustration hatte ganz offensichtlich als „Vorbild“ gedient: Sie stammt von einer rumänischen Ausgabe des Romans aus dem Jahr 1964 und kann hier  angesehen werden. Zwar wurden nun andere Farben gewählt und das Design leicht abgeändert, aber es ist augenscheinlich, dass bei der rumänischen Ausgabe abgekupfert wurde. Dort besagt ein Vermerk, Umschlag und Illustrationen seien von Traian Brădeanu. – Selbst wenn hier in rechtlicher Hinsicht alles in Ordnung ist, ist es doch fragwürdig und bedauerlich, dass in der deutschen Ausgabe kein Verweis auf das originale Buchcover und dessen Schöpfer zu finden ist.

Liviu Rebreanus Der Wald der Gehenkten ist ein Klassiker und gilt als der erste moderne Roman der rumänischen Literatur. Vor allem aber greift der Autor ein Thema auf, das nichts von seiner Gültigkeit verloren hat: die Frage nach Loyalität und Zugehörigkeit zu einer Kultur, einem Land, einer Nation. Der Autor bleibt in der Behandlung dieses Themas wohltuend ausgewogen. Liviu Rebreanu hat den Roman seinem Bruder Emil gewidmet, „der im Jahre 1917 an der rumänischen Front von den Österreichisch-Ungarischen hingerichtet worden ist.“

Titelbild

Livius Rebreanu: Der Wald der Gehenkten. Roman.
Mit einem Nachwort von Ernest Wichner.
Übersetzt aus dem Rumänischen von Georg Aescht.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2018.
351 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783552059030

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