Die Geschichte der Gemütsverfassungen

Friederike Reents legt mit ihrer Untersuchung „Stimmungsästhetik“ ein monumentales Werk vor

Von Stefan TuczekRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Tuczek

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Literatur Stimmungen erzeugen kann, ist kein neuer Gedanke – die Stimmungslyrik zeugt von diesem Umstand. Sie kann eine Hochstimmung beim Leser auslösen oder der Autor selber befand sich beim Schreiben in einer hymnischen Stimmung oder in einem Stimmungstief, was sich jeweils auf seine Texte ausgewirkt hat – dies kann man beispielweise in Tagebucheinträgen oder Briefen nachlesen. Die Stimmung beziehungsweise die Gemütsverfassung, die Literatur generieren kann, ist demnach recht wichtig. Doch was ist diese Stimmung genau? Was zeichnet sie aus? Friederike Reents versucht ebendiesem Begriff in Theorien und in der Realisierung in der Literatur nachzugehen, wobei sie dem Begriff ausgehend vom 17. bis zum 21. Jahrhundert nachspürt.

Der abgesteckte Zeitraum ist ohne Frage umfangreich, nicht weniger umfangreich ist Reentsʼ Textkorpus: Immanuel Kant, Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Schiller, Robert Musil, Thomas Mann, Gottfried Benn, Victor Klemperer und viele andere Theoretiker und Praktiker finden Eingang in das weite Feld der Stimmungsästhetik und werden nach diesem Begriff befragt. Recht mutig dabei ist, dass Reents sich einerseits in ihrer Betrachtung der Stimmungsästhetik von der Emotionalitätsforschung innerhalb der Literaturwissenschaft abgrenzt, da man den Begriff Stimmung gewöhnlich immer mit Emotionen in Verbindung bringt. Anderseits verzichtet sie auf einen größeren methodischen Zugriff. Der fehlende Zugriff kann dabei Segen und Fluch zugleich sein, denn eine Methode bringt immer den Vorteil, dass man sich in seinem Thema nicht verliert, das heißt eine Methode steckt stets auch einen inhaltlichen Rahmen ab, wobei dieser natürlich auch immer einschränken kann. Bei Reents glückt das gewagte Experiment, ohne grundlegende Methode einen wissenschaftlichen Rahmen so abzustecken, dass die Untersuchung auch Früchte trägt. Zwar merkt man an der einen oder anderen Stelle, dass der Studie keine ausgeklügelte Theorie als Grundlage gedient hat, jedoch macht Reentsʼ Interesse an der Thematik diesen Umstand vergessen: Mit großem Wissen spürt sie den Begriff der Stimmung über knapp vier Jahrhunderte nach; ein riesiges Unterfangen, dass sich auf einen riesigen Korpus stützt, jedoch wirkt kein analysierter Text fehl am Platz. Selbst die Exkurse wie zum Kitsch sind sinnvoll integriert.

Wenn man sich über das Thema der Stimmungsästhetik informieren will, kommt an Reentsʼ Buch nicht vorbei. Es setzt sich kritisch mit dem Thema auseinander, beschäftigt sich mit grundlegenden Begriffen und mit allen wichtigen theoretischen Texten und Realisierung in der Literatur. Damit schafft es die Autorin, ein umfassendes Standardwerk zu begründen.

Titelbild

Friederike Reents: Stimmungsästhetik. Realisierungen in Literatur und Theorie vom 17. bis ins 21. Jahrhundert.
Wallstein Verlag, Göttingen 2015.
532 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-13: 9783835317628

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