Ein Unfall mit Folgen

Sascha Reh erzählt in seinem neuen Roman „Raserei“ von Rache und Männern, die ihren überholten Rollen nicht entkommen können

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jonas Nimrod und seine Frau Vera arbeiten gemeinsam als Reiseblogger. Kein Job, der schnell reich macht, aber ein interessantes Leben, in das sie auch die beiden 5-jährigen Zwillinge Mats und Enno einbeziehen, selbst wenn die noch nicht verstehen, womit sich die Eltern unterwegs beschäftigen müssen. Bis das Unfassbare geschieht. Auf der Rückkehr von einer ihrer zahlreichen Reisen, nur noch ein paar hundert Meter von ihrem Berliner Zuhause entfernt und froh, die Strapazen der letzten Wochen endlich hinter sich lassen zu können, werden Vera und ihr Sohn Mats von einem gewissenlosen Raser überfahren. Zurück bleiben der zutiefst in seinen Lebensgrundlagen erschütterte Jonas und ein Kind, das immer mehr zum Streitobjekt zwischen seinem nur noch auf Rache sinnenden Vater und dessen Schwiegereltern wird.

Raserei ist der sechste Roman des 1974 in Duisburg geborenen und heute mit seiner Familie bei Berlin lebenden Sascha Reh. Mit ihm gelingt dem mehrfach preisgekrönten Autor ein genauer Blick in die Psyche zweier Männer unserer Tage, die, unterschiedlichen Milieus angehörend, doch mehr gemeinsam haben, als auf den ersten Blick ersichtlich ist. Denn die Geschichte eines urplötzlich aus sämtlichen Lebensroutinen gerissenen Mannes, für den es nur noch eines, nämlich Vergeltung, zu geben scheint, wirft nicht zuletzt die Frage auf, inwieweit tradierte männliche Verhaltensmuster heute noch funktionieren können. Wichtiger als die beiden im Zentrum der Handlung stehenden männlichen Kontrahenten scheint in dieser Beziehung eine Figur, die nur am Rande auftaucht: Natalie, die Tochter des Mannes, der die Schuld am Tod zweier Menschen trägt und trotzdem glaubt, so weitermachen zu können wie bisher.

Radomir Milić heißt der und ist außer Rechtsanwalt für Wirtschaft und Finanzen noch „Notar und Agent, Friedensrichter und Vertrauensperson, Vermögensverwalter, Treuhänder, Makler und Strohmann“. Alles in allem eine zwielichtige Existenz, ehemaliger Bosnienkämpfer und in der Gegenwart einerseits in dubiose Geldwäschegeschäfte mit einem libanesischen Familienclan verwickelt, andererseits als Informant für den ehrgeizigen BKA-Dezernatsleiter Gell tätig, der mit einem Coup gegen die Libanesen seine Karriere weiter vorantreiben will. Als Milić alkoholisiert von der Straße abkommt und die beiden Menschen unter seinem Auto begräbt, sitzt Gell mit im Wagen, schafft es allerdings, sich unerkannt vom Unfallort zu entfernen. Dass er kein Interesse daran besitzt, durch den Rachefeldzug des Ehemanns der Toten enttarnt zu werden, macht ihn zu einem weiteren gefährlichen Gegner des in seinem Zorn alles um sich herum vergessenden Nimrod.

Sascha Rehs Roman besteht aus zehn Abschnitten. Wie ein Countdown hin zur finalen Katastrophe beginnt er mit Kapitel 10 und endet bei 1. Jeder der Abschnitte zerfällt dabei noch einmal in zwei Unterabschnitte, wobei der erste aus der Innenperspektive Jonas Nimrods auf die Geschehnisse blickt, der zweite die personale Erzählperspektive seines Kontrahenten, Radomir Milićs, einnimmt. Dass es sich bei Jonas Nimrod um keinen Gegner handelt, den man, wie Milić es anfangs versucht, mit einem Geldgeschenk ruhigstellen kann, bringt BKA-Mann Gell auf den Punkt: „Das ist die Sorte Idealist, aus der beim kleinsten Anlass ein gefährlicher Spinner wird.“ 

Und in der Tat wird Jonas Nimrod – in der hebräischen Ethymologie verweist der Nachname auf Auflehnung, Widerstand und Rebellion – immer unberechenbarer. Und geht, nachdem ihm sämtliche zur Verfügung stehenden sozialen Netzwerke, die er benutzt hat, um Milić an den Pranger zu stellen, durch Gells Einfluss versperrt bleiben, tatsächlich zu offener Gewalt über. Bis er dem Mann, der sein Leben ruinierte, schließlich mit einer Waffe in der Hand gegenübersteht.

Dass Rehs Held die sich immer weiter steigernde Konfrontation mit Milić, hinter dem die zu allem fähigen Clanmitglieder des Libanesen Khaled stehen, letzten Endes nicht gewinnen kann, wird sehr schnell deutlich. Durch seine Raserei– der Romantitel ist in seiner Doppeldeutigkeit gut gewählt – verliert der immer unbeherrschter agierende Mann schließlich sogar noch seinen zweiten Sohn, der vom Jugendamt den Großeltern zugesprochen wird, weil die zuständigen Beamten das Kindeswohl aufgrund des Verhaltens des Vaters als gefährdet ansehen.

Für Milić ist Nimrod, von dem er sich urplötzlich herausgefordert sieht – „Ostdeutsche Sozialisation, in den Nullerjahren Hausbesetzerszene und Aktivist im linken Spektrum, dann Hartz IV-Aufstocker und im Nebenerwerb Musiklehrer“ –, von vornherein ein „absoluter Niemand“, jemand, den man als Gegner nicht ernst zu nehmen braucht. Dass der deutsche Familienvater im Gegensatz zu dem gut vernetzten Bosnier „keinerlei Verbindungen zu irgendjemandem“ hat, vollständig allein dasteht und absolut ahnungslos ist, mit wem er sich anlegt, nimmt ihm allerdings nichts von seiner Gefährlichkeit. Denn gerade dass er nicht darüber nachdenkt, mit welchen Mitteln er seinem Gegner begegnet, sondern nur auf dessen Vernichtung sinnt, lässt ihn, je länger die Konfrontation der beiden andauert, immer unberechenbarer werden. 

Doch auch wenn es am Ende so aussieht, als würde Milić als Sieger aus dem ungleichen Duell hervorgehen – im Grunde erweisen sich beide Männer als Verlierer. Aber nur einer von ihnen erhält – schwer angezählt vom liebsten Menschen, den er besitzt – eine letzte Chance, sich zu ändern.      

Titelbild

Sascha Reh: Raserei. Roman.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2022.
240 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783895610844

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