Die kranke Dichterin in Stockholm
Erinnerung an ein Gespräch mit Nelly Sachs
Von Marcel Reich-Ranicki
Ich habe mich nie über Nelly Sachs und ihre Lyrik geäußert. Aber ich habe sie doch im Februar 1965 in Stockholm besucht. Von Freunden aus dem Goethe-Institut wurde ich gewarnt: Das Gespräch werde schwierig und nicht ergiebig sein. Denn ihr psychischer Zustand sei sehr bedenklich, ihre Zurechnungsfähigkeit stark eingeschränkt. Ich ließ mich nicht abschrecken.
Nelly Sachs wohnte in einem proletarischen Viertel Stockholms, immer noch in derselben engen Wohnung im dritten Stock eines Mietshauses, die sie 1940, nach ihrer Flucht aus Deutschland, zugeteilt bekommen hatte. Auch nachdem sie 1966 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden war, blieb sie in dieser dürftigen Wohnung – bis zu ihrem Tod im Jahre 1970. Die kleine, zarte und zierliche Dame hätte meine Mutter sein können. Sie begrüßte mich herzlich und natürlich, so herzlich, als würden wir uns schon seit vielen Jahren kennen.
Auf die Frage nach ihrer Gesundheit antwortete sie mir gleich und auch sehr ausführlich. Es wäre ja gar nicht so schlimm, nur werde sie in Stockholm von einer illegalen deutschen, nationalsozialistischen Organisation verfolgt und terrorisiert. Inzwischen seien die Nazis unter der Kontrolle der schwedischen Polizei, so dass ihr, Nelly Sachs, keine unmittelbare Gefahr mehr drohe. Allerdings werde von der Nazi-Organisation ihr Schlaf mit Hilfe von Radiowellen unentwegt gestört, zeitweise sogar unmöglich gemacht – dagegen könne die Polizei nichts unternehmen. An dieser Schlaflosigkeit, ihrer schrecklichsten Qual, werde sie bis zu ihrem letzten Tag leiden müssen, dessen sei sie sicher.
Sie erzählte mir dies alles ganz ruhig. Ich konnte nichts sagen, ich war ratlos. Ob man sie darüber unterrichtet hat, dass ich in Berlin aufgewachsen war und was ich später erlebt hatte, weiß ich nicht. Aber sie stellte mir keine einzige Frage, sie wollte nichts über mich wissen: Nelly Sachs war nur mit sich selbst beschäftigt, während dieses Besuchs war ausschließlich von ihr die Rede. Sobald sie vom Thema ihrer Verfolgung zu anderen Fragen überging, sprach sie einfach und vernünftig.
Als ich mich nach etwa einer Stunde verabschiedete, schenkte sie mir eines ihrer Bücher und versah es mit zwei Versen aus ihrem Werk, die ich während unseres Gesprächs zu ihrer Zufriedenheit zitiert hatte: „An Stelle von Heimat / halten wir die Verwandlungen der Welt.“ Ich hatte ursprünglich geplant, über den Besuch bei Nelly Sachs einen kleinen Bericht in der „Zeit“ zu schreiben. Aber ich war dazu nicht mehr imstande, ich kapitulierte.
Nelly Sachs wurde 1891 in Berlin geboren, sie wuchs in großbürgerlichem Milieu auf, lebte aber während des „Dritten Reichs“ in Stockholm in ärmlichen Verhältnissen. Die Lektüre von Selma Lagerlöfs „Gösta Berling“ hat ihre eigenen literarischen Versuche angeregt. 1960 reiste sie in die Schweiz, nach Frankreich und nach Deutschland; zurück in Schweden erlitt sie einen psychischen Zusammenbruch. Sie starb 1970.
Hinweis der Redaktion: Der Beitrag ist zuerst am 18.4.2011 erschienen in der von Volker Weidermann in der Frankurter Allgemeinen Sonntagszeitung betreuten Reihe „Fragen Sie Reich-Ranicki“.