Die Liebe und die Linken
Der Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ des im Exil lebenden Tschechen Milan Kundera (1984)
Von Marcel Reich-Ranicki
Der weltberühmte tschechische Schriftsteller Milan Kundera, der seit bald zehn Jahren im Pariser Exil lebt, wird auch in der Bundesrepublik geschätzt und gelobt. Aber offenbar nur wenig gelesen: Seinen Büchern, die alle in deutscher Übersetzung erschienen sind, blieb der außerordentliche Erfolg, den sie in anderen westlichen Ländern haben, zumal in Frankreich und in den Vereinigten Staaten, vorerst versagt.
Ob das mit ihrer Unterhaltsamkeit zu tun hat? Ich weiß, die Frage klingt einigermaßen absurd. Denn was immer ein Romancier im Sinne haben mag, erreichen kann er es nur, wenn es ihm gelingt, die Leser eben zu unterhalten, ja sogar zu amüsieren. Wer erkennen möchte, was die Welt im Innersten zusammenhält, der greift zu den Schriften der Philosophen oder der Historiker oder zu den Erinnerungen der großen Staatsmänner; und er mißtraut den wunderlichen Gesellen, denen es Spaß macht, dem Leben mit Phantasie, mit erfundener Wahrheit beizukommen, ein wenig unseriösen Schreibern also, die uns freilich bisweilen mehr zu sagen haben als alle Wissenschaftler und Sachbuchautoren.
So ist es zunächst und vor allem das Unterhaltungsbedürfnis, das uns zu jener Literatur treibt, die man früher, als alles besser war, die „schöne“ nannte, und die wir heute, wenn es um die Produkte unserer Zeitgenossen geht, die „schöne“ zu nennen zögern. Da kann es keinen Zweifel geben: Ein Roman, der nicht zu unterhalten vermag, ist wie Zucker, der nicht süßt, oder wie ein Fahrrad ohne Räder.
Aber im Deutschen findet sich die Vokabel „unterhaltsam“ in gefährlicher Nähe des Begriffs „Unterhaltungsliteratur“. Dieser wiederum wird von den meisten unserer Schriftsteller und auch von vielen Rezensenten als ehrenrührig, als geradezu beleidigend verstanden. Auch gehört es zur beklagenswerten Tradition der deutschen Kritik, unterhaltsame Romane, die man befürwortet, sogleich tiefsinnig zu deuten und den Lesern womöglich als philosophische Bücher zu empfehlen.
Dieses Schicksal ist Milan Kundera ebenfalls nicht erspart geblichen: Sein neuestes und wohl bedeutendstes Werk – ,,Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ – hat ein unglückseliger deutscher Wirrkopf prompt als „philosophischen Liebesroman“ begrüßt. Doch gerade davon kann hier keine Rede sein –·und wenn es in dem Buch einige Passagen gibt, die einem solchen Mißverständnis Vorschub leisten, dann sind es belanglose Marginalien.
Kundera selber hat bei verschiedenen Gelegenheiten darauf verwiesen, daß es nicht seine Absicht sei, die Gesellschaft zu beschreiben oder Historisches darzustellen, um, beispielsweise, den Stalinismus anzuprangern; von Philosophie will er, obwohl er gern temperamentvoll meditiert, nichts wissen. Zu allen derartigen Aufgaben brauche man die Romanform nicht, sie solle vielmehr etwas vermitteln, was sich auf keine andere Weise sagen und zeigen lasse. Und was wäre das? Er spricht von der „menschlichen Existenz in allen ihren Aspekten“. Eine so umfassende Formel kann man natürlich leicht akzeptieren, nur trifft sie auf seine eigene Epik nicht unbedingt zu –·und auf die „Unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ am allerwenigsten.
Den Autor dieses erstaunlichen Romans interessieren (hier wäre die häufig mißbrauchte Vokabel „faszinieren“ auch am Platze) bloß zwei, doch, wie er meint, sehr unterschiedliche Fragen: die Liebe und die Sexualität.
Erzählt wird von zwei Männern, die in zwei Welten leben und die sich auch nicht kennen: der eine, der Tscheche Tomas, ist Arzt in Prag, der andere, der Schweizer Franz, Universitätsdozent in Genf. Es sind tüchtige und erfolgreiche und überdies noch anständige und sympathische Menschen. Wer nicht genau aufpaßt, könnte sie hier und da verwechseln.
Indes sollen sie sich gar nicht ähneln, ja sie sind offensichtlich als Gegentypen konzipiert. Denn sie verkörpern zwei extreme Varianten des männlichen Verhaltens gegenüber dem anderen Geschlecht: Was oft genug in einer einzigen Person vereint ist, trennt Kundera säuberlich voneinander und verteilt es auf zwei Figuren. Beide sehnen sie sich nach Frauen, sie sind auf sie angewiesen, sie jagen ihnen fortwährend nach. Aber Tomas wird „vom Verlangen getrieben, sich der unendlichen Buntheit der objektiven weiblichen Welt zu bemächtigen“, Franz hingegen gehört zu jenen, die in den Partnerinnen „ihren eigenen, subjektiven und stets gleichen Traum von der Frau“ finden wollen.
Zwei besessene Männer also, die auf der Suche sind: der eine will das Leben begreifen, der andere sich selbst. Daher ist das Verhältnis zu den Frauen beim einen offensiv, beim anderen defensiv. Freilich müssen sie beide Niederlagen hinnehmen: Da es das Ideal, von dem Franz träumt, nicht gibt und nicht geben kann, ist er immer von neuem enttäuscht. Und da Tomas keinem Erlebnis größere Bedeutung beizumessen vermag, kennt er auch keine Ernüchterung – und muß rastlos weitersuchen.
Neu ist diese schroffe Gegenüberstellung nicht – als Motto des Ganzen könnte eine Zeile aus Schnitzlers vor bald einem Jahrhundert entstandenen „Anatol“ dienen: „Du und deinesgleichen … ihr sucht in jedem Weib die Kokotte … ich hab‘ in jeder Kokotte das Weib gesucht!“ Haben wir es etwa mit einem Roman zu tun, der lediglich bestimmte Anschauungen exemplifiziert oder gar illustriert, also mit jener höchst fragwürdigen Gattung, die man „Thesenroman“ zu nennen pflegt?
Damit wäre angedeutet, was Kunderas Prosa ernsthaft bedroht und sie gleichwohl keineswegs zugrunde richtet. Ja,er versteht es, diese Gefahr in großen Teilen des Buches „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ auf beinahe triumphale (nämlich den Leser überwältigende) Weise abzuwenden. Was immer er uns sagen möchte und wie groß die Verführung zur baren Mitteilung und zum publizistischen Kommentar auch sein mag, dieser Kundera ist wahrlich kein dünnblütiger Grübler, sondern ein urwüchsiger Erzähler von ungebrochener Vitalität.
Das aber heißt, daß wir es mit einem Mann des Konkreten zu tun haben, des Anschaulichen und des Greifbaren. Wenn es etwas gibt, das ihn beunruhigt und betört und schließlich verwirrt, etwas, dem er sich nahezu wehrlos ausgeliefert sieht und dem er doch und unbedingt auf die Schliche kommen möchte – dann ist es das Sinnliche. Eben deshalb hat er sich nach lyrischen und dramatischen Versuchen für die Prosa entschieden: Der grenzenlosen Vielfalt des Sinnlichen kann nur der Erzähler gerecht werden. Denn Epik ist Detailkunst.
Das Sinnliche bedeutet für Kundera stets und vor allem das Feminine: Die Wirkung des weiblichen Körpers auf den Mann, auf dieses denkende und gleichwohl zu animalischen Reaktionen fähige Individuum, ist für ihn ein Mysterium, Doch nichts liegt ihm ferner, als es zu verherrlichen oder zu verdammen. Er will es nur bewußt machen. Ist das wenig?
Der Frage, ob die körperliche Liebe nicht ewige Wiederholung des Gleichen sei, weicht Kundera keineswegs aus: Wenn sein Tomas eine Frau in Kleidern sah, so habe er sich zwar vorstellen können, wie sie nackt wäre, doch bleibe „zwischen dem Ungefähren der Vorstellung und der Präzision der Wirklichkeit“ eben jener kleine Spielraum, der ihm keine Ruhe ließ. Diese „Jagd nach dem Unvorstellbaren“ gehe noch weiter: „Wie wird sie sich verhalten, wenn er sie auszieht? Was wird sie sagen, wenn er sie liebt? Wie werden ihre Seufzer klingen?“ Die Einzigartigkeit des menschlichen Ich liege gerade in dem verborgen, „was man am anderen erst enthüllen, entdecken und erobern muß“.
Doch jede Episode, die in einem Roman Erotisches und Sexuelles betrifft, weist, sofern es sich um gute Prosa handelt, stets über sich hinaus, macht also ungleich mehr spürbar und sichtbar, als sie unmittelbar zeigt. Kundera hat programmatisch erklärt: „Wenn meine Figuren sich lieben, sehen sie ganz plötzlich die Wahrheit über ihr Leben.“ Mit anderen Worten: Das Sexuelle läßt seine Personen ihre Identität erkennen – und die Leser dürfen an diesem Prozeß teilnehmen.
Von den vielen Freundinnen, mit denen Tomas, der unverbesserliche Erotomane, Umgang hat, die er braucht und gewiß oft genug auch mißbraucht, werden zwei zärtlich und geistreich porträtiert; und wieder gefällt es Kundera, deutliche Gegenfiguren zu zeichnen: Sowohl die Malerin Sabina als auch die ehemalige Kellnerin Teresa sind auf der intensiven Suche nach der Selbstbestätigung und Selbstverwirklichung. Aber was für die eine die trotzige Unabhängigkeit ist, das findet die andere eher in ergebener Unterwerfung.
Sie, Teresa, das Mädchen aus dem Volk, verbindet Lebenskraft und Leidensfähigkeit mit der stillen Sehnsucht nach Geist und Bildung. Doch im Unterschied zu den meisten Frauen, mit denen Tomas sonst ins Bett geht, gelingt es ihr nicht zu sein, was er zunächst von ihr erwartet – bloß eine Sexualpartnerin. Sie hat eine Schwäche, die ihr immer wieder Kummer bereitet: Sie ist mit großen Gefühlen gesegnet und geschlagen – und diese machen es ihr schwer, die „kurzweilige Unverbindlichkeit“ erotischer Beziehungen zu ertragen. So empfindet sie sich als altmodisch und auf ärgerliche Weise provinziell. Mehr noch: Sie schämt sich. Weil sie liebt. Zu den Vorgängerinnen Teresas gehören einige der schönsten Frauengestalten der österreichischen Literatur – man denke an Horváth und, natürlich, an Schnitzler.
Nachdem Tomas Teresa geheiratet hat, denkt er nicht daran, das Verhältnis mit Sabina abzubrechen. In einer kurzen Szene stehen sich die beiden Frauen gegenüber. Sie wollen sich nackt sehen. Meint die Geliebte, der Anblick des Körpers der Ehefrau werde ihr erklären, warum sich der Freund für die andere entschieden hat? Hofft die Ehefrau, sie werde nun begreifen, warum ihr Mann seine Geliebte nicht aufgeben will? Es ist eine Szene von beinahe mythischem Zauber.
Wir haben es also mit einem Roman über die Sexualität des Intellektuellen in mitten der modernen Gesellschaft zu tun. Aber welcher Gesellschaft? Die Politik, sie interessiert den Autor Milan Kundera nicht sonderlich. Er verspürt, glaube ich, kein Bedürfnis, vom kommunistischen Regime in seiner Heimat zu erzählen und es zu entlarven. Doch ergeht es ihm ähnlich wie seinen Figuren: Die Politik dringt unaufhörlich in ihr Leben ein, sie bestimmt ihren Alltag, ihre ganze Existenz. Wie seine unheroischen Helden kann sich auch Kundera der Politik nicht entziehen,
Der Prager Frühling, die Invasion der sowjetischen Truppen, der Terror nach 1968 – nichts von alldem wird beschrieben. Und alles ist auf unmißverständliche und erschreckende Weise gegenwärtig. Woher rühren eigentlich die Plausibilität und die Plastizität dieser streckenweise nahezu beiläufigen Darstellung des Lebens in der kommunistischen Welt? Kundera erreicht dies scheinbar mühelos dank der doppelten Perspektive: Hier wird alles aus der Nähe beobachtet und doch aus der Distanz betrachtet. Das soll heißen: Dieser Kameramann ist ein Virtuose ebenso der Totalen wie der Großaufnahme.
Indes fällt es auf, daß Kundera den Zusammenhang von Privatem und Öffentlichem, die Abhängigkeit sogar des Intimen von der Politik am überzeugendsten nicht in biographischen Abläufen zeigt, sondern weit eher und besser am Beispiel von einzelnen Vorfällen. Nicht der umfassende und übergreifende epische Bogen ist die Stärke dieses Romanciers, sondern die Nuance: Sein Talent bewährt sich in unzähligen Kurzszenen und Momentbildern, in Impressionen und Reflexionen.
Die großen Entscheidungen seiner Helden leuchten aber nicht immer ein. Nachdem Tomas 1968 zusammen mit Teresa in die Schweiz emigriert ist, kehrt sie bald zurück, offenbar deshalb, weil sie sich im Exil mit dem permanenten Ehebruch noch weniger abfinden kann als zu Hause. Er folgt ihr wenig später und gibt in Prag, als man von ihm die Unterzeichnung einer Ergebenheitsadresse verlangt, seinen Beruf auf: Der berühmte Chirurg wird Fensterputzer und fühlt sich dabei gar nicht so unwohl. Denn er hat reichlich Gelegenheit, mit den Wohnungsinhaberinnen, deren Männer im Büro sind, zu schlafen.
Schließlich zieht er sich mit seiner Teresa aufs Land zurück, wo er als Lastwagenfahrer arbeitet und sie als Kuhhirtin. Gewiß ist es nur eine fragwürdige Idylle, doch läßt sich nicht übersehen, daß sie einer recht sentimentalen literarischen Konvention entspricht. Zu allem Unglück wird am Ende das Sterben eines Hundes geschildert – hier gerät die Sentimentalität in bedenkliche Nähe jenes Kitsches, gegen den Kundera an anderen Stellen seines Romans sehr aufgeregt und etwas oberflächlich wettert.
Aber so enttäuschend dieser Schlußteil, so vorzüglich ist eine in ihm enthaltene Satire. Der Genfer Dozent Franz, eine in das Romangeschehen bloß dürftig und nur insofern integrierte Figur, als er ein Verhältnis mit der ebenfalls in die Schweiz ausgewanderten Malerin Sabina hat, ist der Typ des westeuropäischen Linksintellektuellen, für den Kundera mehr Spott als Mitleid übrig hat. Er erweist sich rasch als ein weltfremder Mensch, ein Träumer, der seit seiner Studienzeit gern bei Demonstrationen mitmacht: ,,Es war so schön, etwas zu feiern oder zu fordern, gegen etwas zu protestieren, nicht allein zu sein, sondern unter freiem Himmel und mit anderen zusammen… Die marschierende, Parolen skandierende Menge war für ihn das Bild Europas und seiner Geschichte.“
Für Sabina freilich, die in der Tschechoslowakei soviel erlebt hat, ist der Anblick „marschierender Menschen, die ihre Arme hoben und unisono dieselben Silben schrien“, abstoßend und ekelhaft: In ihren Augen symbolisiert er den Kommunismus und den Faschismus sowie „alle Okkupationen und alle Invasionen“ zusammen.
Zur Zeit des Bürgerkriegs in Kambodscha beteiligt sich dieser Franz an einer ganz besonderen politischen Aktion: Namhafte westliche Intellektuelle wollen zu Fuß zur kambodschanischen Grenze marschieren und mit diesem „vor den Augen aller Welt aufgeführten Spektakel die Einreise der Ärzte in das besetzte Land erzwingen“. Die sarkastische Schilderung der vollkommen erfolglosen, doch von vielen Fotografen und Kameraleuten begleiteten Aktion – auch ein deutscher Poet und Popsänger, „der schon neunhundertdreißig Lieder gegen den Krieg und für den Frieden geschrieben hatte“, ist mit von der Partie – gehört zu den nicht wenigen Höhepunkten des Romans „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“.
Haben wir Milan Kundera ein Meisterwerk der modernen Epik zu verdanken? Nein, das wäre übertrieben. Aber ich frage so bescheiden wie ungeduldig: Wann werden wir endlich einen deutschen Roman erhalten, der sich so einfühlsam und nachdenklich mit Liebe und Sexualität befaßt und der das Individuum vor dem Hintergrund des Lebens hier und heute zeigt? Einen Roman, der überdies so intelligent und souverän, so lesbar und so unterhaltsam wäre?
Hinweise:
Die am 15.12.1984 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienene Rezension bezieht sich auf Milan Kundera: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins. Roman. Aus dem Tschechischen von Susanne Roth. Carl Hanser Verlag, München 1984. 304 S. Der Roman ist in hohen Auflagen als Fischer Taschenbuch verbreitet.
Die erneute Veröffentlichung der Rezension in literaturkritik.de (nach dem Tod von Milan Kundera am 11. Juli 2023 in Paris) erfolgt mit Genehmigung von Marcel Reich-Ranickis Erbin Carla Ranicki und seines Nachlassverwalters.
Thomas Anz