Ein Ungetüm
Milan Kunderas Roman „Die Unsterblichkeit“ (1990)
Von Marcel Reich-Ranicki
Dieser Milan Kundera ist trotz allem ein ganzer Kerl: ein Autor mit Geist und Geschmack, ein Erzähler mit Talent und Temperament. Und er hat es faustdick hinter den Ohren: Vor allem beherrscht er die Kunst, sowohl dem Publikum entgegenzukommen und ihm zu gefallen als auch den Kritikern Respekt einzuflößen.
In seinen Büchern, zumal in dem amüsanten und intelligenten Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ (1984), einem veritablen Welterfolg, bietet er Erotisches und Sexuelles in Hülle und Fülle. Ja, da kennt er sich aus, da hat er mitunter Originelles zu sagen. Aber er spricht von der Liebe nicht nur direkt und deutlich, sondern auch auffallend dezent: Kundera nimmt kein Blatt vor den Mund, Unästhetisches indes mag er nicht. Viele Leser beiderlei Geschlechts wissen das zu schätzen. Meist spielen diese Romane in seiner Heimat, in der Tschechoslowakei der sechziger und siebziger Jahre. Nur wenig an der Politik interessiert, zeigt er doch, daß seine Figuren ihr nicht entgehen können und oft genug zu ihren Opfern gehören. Natürlich erwähnt er die zeitgeschichtlichen Krisen und Katastrophen, aber im Unterschied zu anderen Schriftstellern aus Osteuropa hat er offensichtlich keine Lust, auf sie näher einzugehen. Das internationale Publikum, das gar nicht so genau erfahren möchte, was sich damals in Prag ereignete, ist ihm für diese Zurückhaltung dankbar.
Sogar Kunderas oft ärgerliche Vorliebe für das Reflektieren und das Räsonieren hat bislang seinen Büchern nicht ernsthaft geschadet, vielmehr verleiht sie ihnen eine intellektuelle Note, die gern goutiert wird, zumal sie kaum jemanden überfordert. Letztlich kommt auch die Sinnlichkeit zu ihrem Recht: Seine Helden machen sich zwar trübe Gedanken über unser Dasein (und haben hierzu Anlaß genug), doch die stets schönen Busen ihrer Partnerinnen vernachlässigen sie niemals. So vermochte Kundera ohne große Umstände und nicht ohne Anmut zu vertreiben oder jedenfalls im Zaume zu halten, was seine Bücher gefährdet: das berüchtigte Gespenst der Abstraktion.
Und heute? Die Anhänger des tschechischen Meisters, gewohnt, mit dem Guten und Schönen in seiner Epik auch das Fragwürdige und das Billige hinzunehmen, lesen verblüfft den Roman, den er uns nach sechsjähriger Pause unter dem Titel „Unsterblichkeit“ beschert und zumutet. Es ist keine dankbare Aufgabe, hierüber zu schreiben, zumal der Kritiker unentwegt befürchten muß, man werde ihn der boshaften Übertreibung verdächtigen. Glücklicherweise kann er die Unterstützung eines Interpreten in Anspruch nehmen, der nicht zögert, gerade auf jene Eigenarten des unglückseligen Prosawerks zu verweisen, die seine entscheidenden Schwächen sind. Dieser hilfreiche, dieser höchst willkommene Interpret ist kein anderer als der Autor selbst.
In unserer Zeit – lesen wir in seiner „Unsterblichkeit“ – stürze man sich auf alles, was je geschrieben worden sei, um daraus einen Film, eine Fernsehsendung oder einen Comic zu verfertigen. Romane kämen dabei besonders schlecht weg, weil man nur das Unwesentliche übernehmen könne. Wer dennoch verrückt genug sei, sie zu schreiben, müsse dafür sorgen, ,,daß sie sich nicht adaptieren lassen, mit anderen Worten. daß man sie nicht erzählen kann“.
Das trifft auf das neue Buch zu: Es läßt sich beim besten Willen nicht nacherzählen. Wer mag, glaube Kundera, daß ihm daran wirklich gelegen war. Mir hingegen will es scheinen, daß ihm ein Roman mit einer Handlung, die sich wenigstens andeuten ließe, nicht mehr gelingen wollte. Hier wird aus der Not eine Tugend gemacht. Oder: eine Rechtfertigung soll als Programm an den Mann gebracht werden. Ferner entdeckt Kundera – freilich nicht zum ersten Mal –, daß „die wahre Verdammnis des Romans“ die dramatische Spannung sei, die, so behauptet er, die einzelnen Abschnitte in „bloße Stufen verwandelt, die zum Finale führen, in dem alles Vorangegangene seinen Sinn hat“. Das ist für mich nun doch ein harter Schlag. Denn von Spannung, gar dramatischer, kann in der „Unsterblichkeit“ tatsächlich keine Rede sein.
In der zweiten Hälfte dieses Romans wird eine neue Figur angekündigt, jedoch: „Sie ist die Ursache von nichts und hat keine Folgen.“ Das stimmt – und gilt leider auch für die anderen Personen. Mehr noch: die einzelnen Kapitel, Episoden oder Szenen führen nirgendwohin, und warum das Ganze auf Seite 416 aufhört, läßt sich nicht erklären, weil es ebenso, wenn auch vermutlich ohne nennenswerten Gewinn, hundert Seiten länger hätte sein können und ohne nennenswerte Einbuße hundert Seiten kürzer.
Als Ausgangspunkt dient eine Beobachtung: Der Erzähler – es ist nicht etwa ein vorgeschobener Statthalter des Autors, sondern Milan Kundera höchstpersönlich – sieht im Schwimmbad eine ältere und keineswegs reizvolle Dame, die dem Bademeister zulächelt und zuwinkt. Diese Geste von „bezaubernder Leichtigkeit“ passe nicht zu der eher komischen Matrone. Und so nimmt er sie ihr einfach weg: sie soll einer anderen, einer jungen und schönen Frau zugewiesen werden, die noch gar nicht existiert. Also entsteht sie aus diesem anmutigen Wink wie Eva aus einer Rippe Adams: „Ich sehe sie zum ersten Mal nackt, Agnes, die Heldin meines Romans.“
Vielleicht sollten wir den Erzähler beneiden. Denn wir Leser sehen sie weder nackt noch bekleidet. Und so ist es in dieser Prosa fortwährend: Es gibt Namen, denen allerlei Überlegungen und Äußerungen zugeschrieben werden, einigermaßen erkennbare Figuren gibt es indes nicht. Gewiß, sie haben verschiedene Berufe – einer ist Rechtsanwalt, ein anderer Rundfunkjournalist, ein dritter Professor –, doch lassen sie sich kaum unterscheiden. Warum hat sich Kundera bemüht, einen Roman zu verfassen, wenn er auf nahezu alles verzichtet oder neuerdings verzichten muß, was diese literarische Form ausmacht?
Allerdings: Was ein Roman ist, bestimmt nach wie vor der, der ihn schreibt. In der „Unsterblichkeit“ lesen wir: „Ein Roman soll kein Radrennen sein, sondern ein Festmahl mit vielen Gängen.“ Wer hat denn je einen Roman gewünscht, der einem Radrennen gliche? Ein Festmahl mit vielen Gängen, also etwas Kulinarisches, das sich mit Genuß konsumieren ließe? Nein, das kann Kundera nicht ernsthaft meinen.
Überdies wiederholt er hier, was er in seinen Aufsätzen und Interviews schon oft gesagt hat: Ein Roman habe zu vermitteln, was sich auf keine andere Weise vermitteln lasse. Sehr richtig, nur wer hätte dies je bezweifelt? Schlimm aber ist, daß Kundera diese Weisheit nie weniger beherzigt hat als in diesem neuen Buch.
Denn auch wenn sich in ihm gelegentlich Anschauliches und Süffiges finden, Impressionen, Momentbilder und Kurzszenen, so dominieren doch bare Mitteilungen und forsche Behauptungen: Was Kundera sagen will, offeriert er uns in Glossen, Berichten, Feuilletons oder Leitartikeln. Diese journalistischen und publizistischen, essayistischen und pseudophilosophischen Bruchstücke, die nachlässig miteinander verbunden sind oder einfach ineinander übergehen, füllen den weitaus größten Teil der „Unsterblichkeit“. Es sind Brosamen und Krümel, ein Laib wird daraus nicht.
So hat sich in Kunderas Prosa das Verhältnis der diskursiven Partien zu den epischen auffallend zuungunsten der letzteren verschoben. Das mag auch damit zusammenhängen, daß in seinen früheren Büchern Prag und andere tschechische Orte einen oft nur rasch angedeuteten, gleichwohl soliden und kräftigen Hintergrund bildeten, während seine Helden jetzt in einer Stadt leben und leiden, die Paris genannt wird, doch ebenso Rom oder Madrid oder München heißen könnte. Das gemeinsame Kennzeichen dieser Personen ist ihre manische Neigung, sich fortwährend zu artikulieren: Sie sprechen und schwatzen, plaudern und plappern, reden und reflektieren. Sie äußern sich über alles –- und was sie zum besten geben, ist meist austauschbar. Nur von einem werden sie übertroffen: von Kundera selber, der sich wie unter einem Zwang über unzählige Themen verbreitet, ohne auch nur auf ein einziges näher einzugehen. Es wimmelt von apodiktischen und leichtfertigen Urteilen über Gott und die Welt.
Er parliert über die Werbung, den Rundfunk und das Fernsehen, über die Rockmusik, die Massenkultur und die Meinungsumfragen, über Cervantes, Beethoven, Musil, Tycho Brahe und Jimmy Carter, über Rimbaud, Stalin, Mitterrand und Salvador Dali, über Hemingways Journalistik, Schnitzlers „Fräulein Else“ und Dostojewskis „Idioten“. Er erzählt uns, was sich zwischen Goethe, seiner Christiane und Bettina von Arnim abgespielt oder nicht abgespielt hat, wobei wir über Bettina immerhin erfahren: „Wo immer sie ging, flatterte ihr Ich hinter ihr her wie eine Fahne.“
Wie ist es zum Treffen Goethes mit Napoleon in Erfurt gekommen? Der Kulturberater des Imperators habe wahrscheinlich gar nicht gewußt, daß Goethe und Schiller zwei verschiedene Personen seien, vielleicht aber wollte er für Napoleon „eine Synthese der deutschen Klassik in der Person von Friedrich Wolfgang Schilloethe schaffen“. Hält Kundera derartige Kindereien für Humor?
In einem anderen Kapitel unterhalten sich Goethe und Hemingway im Jenseits über die Unsterblichkeit. Von Goethe hören wir, daß die Unsterblichkeit ein ewiges Gericht sei, Hemingway gelangt zur Einsicht, man könne sich das Leben nehmen, nicht aber die Unsterblichkeit. Wer wollte da widersprechen?
Wichtiger als diese Ansichten Kunderas (wenn auch kaum ernster) mag seine Theorie über die „planetare Verwandlung der Ideologie in Imagologie“ sein. Was ist „Imagologie“? Dieser Begriff erlaube es uns, jene unter einen Hut zu bringen, die (angeblich) unser Bewußtsein, unsere ganze Existenz bestimmen: Designer, Friseure und Fotografen, Modeschöpfer und Werbeagenturen. Denn der Mensch sei nichts anderes als sein Bild, die „Imagologie“ sei stärker als die Wirklichkeit. Und: „Die Ideologien haben zur Geschichte gehört, während die Herrschaft der Imagologie dort beginnt, wo die Geschichte aufhört.“
Besonders viel Unsinn läßt Kundera den Rechtsanwalt mit Namen Paul reden, so etwa: „Die Tatsache, daß in Europa schon fünfzig Jahre lang keine Kriege mehr stattfinden, hängt auf mysteriöse Weise damit zusammen, daß hier schon fünfzig Jahre lang kein Picasso mehr aufgetaucht ist.“ Agatha Christie, die übrigens als „die größte Zauberin aller Zeiten“ bezeichnet wird, verübe in den „Vernichtungslagern ihrer Romane“ Morde am Fließband: „Auschwitz ist vergessen, aber aus den Krematorien von Agathas Romanen steigt ewig Rauch zum Himmel empor.“ Häufig läßt Kundera seinen Paul über die Musik schwadronieren. Hier ein besonders abstoßendes Beispiel: „Ich wünsche mir, Mahlers Vater hätte sein Söhnchen beim Onanieren erwischt und ihm eine solche Ohrfeige verpaßt, daß der kleine Gustav für den Rest seines Lebens taub geblieben wäre und eine Trommel nicht von einer Geige hätte unterscheiden können.“
Und die Erotik? „Die Liebe ist, was sie ist, mehr kann man darüber nicht sagen. Die Liebe hat man entweder erlebt, oder man hat sie nicht erlebt.“ In dieser simplen und trotzigen Verlautbarung seiner Figur verbirgt sich ein unfreiwilliges Eingeständnis des Autors Kundera: Die Darstellung der Liebe, einst seine stärkste Seite, wird uns jetzt vorenthalten, wir müssen uns mit der eher hilflosen Feststellung begnügen. Wir sollen ihm also aufs Wort glauben. Daran eben leidet das ganze Buch: an den fortwährenden Feststellungen statt der Darstellung. Ungeachtet der zuweilen effektvollen Einfälle, trotz der vielen und oft flotten Aperçus und der gelegentlich amüsanten Anekdoten wirkt es statisch und steril. Es ist ein lebloses Ungetüm.
Es fragt sich, ob jener, der hier so vehement gegen unsere Zivilisation und viele ihrer Erscheinungen wettert und der die Massenmedien für alles Unheil auf dieser Erde verantwortlich macht, nicht mittlerweile ein typisches Produkt gerade dessen geworden ist, was er so leidenschaftlich zu bekämpfen vorgibt. Schließlich ist es kein Zufall, daß er seinen Weltruhm nicht dem Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ verdankt, sondern dessen Verfilmung.
Jedenfalls hat Kundera mit seiner auftrumpfend gebotenen „Imagologie“ eine handliche, wenn auch wenig seriöse kulturkritische Interpretation geliefert und mit der These, der Wunsch nach Unsterblichkeit sei der wahre Motor der menschlichen Existenz und der Weltgeschichte, eine zeitgemäße, eine raunende Pseudophilosophie, eine Art moderne Metaphysik. Oder sollten wir sagen: eine postmoderne Metaphysik?
Karl Kraus meinte, „daß der Roman das Versteck jener ist, die nichts zu sagen haben, und darum die Ausflucht jener, die alles sagen müssen“.
Hinweise: Die am 8.12.1990 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienene Rezension bezieht sich auf Milan Kundera: Die Unsterblichkeit. Roman. Aus dem Tschechischen übersetzt von Susanna Roth. Carl Hanser Verlag, München 1990. 416 S. Seit 1992 ist der Roman in hohen Auflagen als Fischer Taschenbuch verbreitet.
Die erneute Veröffentlichung der Rezension in literaturkritik.de erfolgt mit Genehmigung von Marcel Reich-Ranickis Erbin Carla Ranicki und seines Nachlassverwalters.
Thomas Anz