Reine Phantasien als Weltdeutungssystem

Zur Einführung in die Thematik aus literatur- und emotionswissenschaftlicher Sicht

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Die erschreckende Aktualität und die gerade weltweit wieder umso greifbarer gewordene Bedrohung, die der Antisemitismus für seine Opfer und unsere Demokratien allgemein darstellt, liegen auf der Hand. Der Hass, der über die Jahrhunderte immer wieder zu Dämonisierungen, Drohungen, Diskriminierungen, Delegitimierungen, Deportationen, Pogromen und schließlich zum Zivilisationsbruch der Shoah führte, beruhte dabei immer schon auf frei erfundenen Geschichten, die sich Judenfeinde ausdachten. 

Die Linguistin Monika Schwarz-Friesel und der Historiker Jehuda Reinharz bemerken dazu: „Betrachtet man die Geschichte der Judenfeindschaft, so resultieren die Stereotype über Juden entweder aus dem diskriminierenden Verhalten von Nicht-Juden gegenüber Juden; oder es handelt sich (im weitaus häufigeren Fall) um Konstrukte, die mit der Realität gar nichts zu tun haben, also reine Phantasiekonstrukte sind.“[1] Antisemiten glauben u.a. an abstruse Visionen weltbedrohender Verschwörungen, die ‚die Juden‘ angeblich planen. Gerade deshalb spielte die fiktionale Evokation von Gefühlen wie Angst, Ekel, Wut oder Hass durch Texte in der Genese des modernen Antisemitismus stets eine besondere Rolle. In dieser spezifischen Emotionsgeschichte des Antisemitismus avancierte insbesondere die schöne Literatur zu einer zentralen Vermittlungs- und Kanalisierungsinstanz affektiver Bewertungen dessen, was jeweils als ,jüdisch‘ galt. Die wandelbaren Pathosformeln dieses poetischen Antisemitismus hinterließen in der deutschsprachigen Literaturgeschichte – und teils bis in unsere Gegenwart – dem heutigen Publikum nicht mehr notwendigerweise unmittelbar verständliche Spuren, deren genauere Betrachtung und aufklärerische Entzifferung die Literaturwissenschaft lange vermied.

Noch weniger wurde jedoch die Wirkung der Gefühle in dieser Geschichte untersucht. Dabei ist die genuine Rolle literarischer Emotionalisierungsstrategien in der Entstehungsgeschichte des modernen Antisemitismus kaum zu übersehen. In einer Zeit, in der eine deutsche Nation erst noch erfunden werden musste und sich deren ‚Kultur‘ durch kontrastierende Projektionen auf ein negatives Anderes bzw. durch offene Gewalt gegen konstruierte externe und interne Feindbilder zu ‚befreien‘ suchte, hinter denen sich schutzlose Menschen verbargen, konnten gerade auch patriotische Schriftsteller auf dem Feld der Phantastik oder im Genre der Schauerliteratur effektive Schlüsselszenarien und Stimulationsprogramme zur Erzeugung exkludierender, negativer Publikumsemotionen entwickeln. Solche politisch leicht instrumentalisierbaren und von ihren Urhebern teils sogar gezielt als subtile politische Agitation verfassten Texte adressierten je nach ästhetischer Form und Komplexität variable Publika aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten. Sie trugen auf ihre jeweilige Weise mit dazu bei, den Antisemitismus schließlich als kulturellen Code zu etablieren. Dieser antisemitische Diskurs wurde im Wilhelminischen Kaiserreich endgültig hegemonial, wie die Historikerin Shulamit Volkov herausgearbeitet hat.[2]

Volkov räumt allerdings ein, die „Verbindung zwischen Judenhaß und anderen sozialen oder politischen Ansichten“ lasse sich „ohne weiteres in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen“ und habe „vielleicht sogar schon viel früher existiert“.[3] Tatsächlich entstanden in der deutschsprachigen Literatur bereits seit dem Ende des 18. Jahrhunderts keineswegs nur Werke, in denen man im Sinne Gotthold Ephraim Lessings um Mitleid, Empathie, Toleranz und Verständnis für die seinerzeit in Europa bereits seit vielen Jahrhunderten ausgegrenzte, angefeindete und verfolgte Minderheit der Juden warb. Ganz im Gegenteil wurden bereits zu dieser Zeit literarische Standardszenarien zur Evokation negativer Gefühle gegenüber jenen rein phantasmatischen Fremden ersonnen, die sich als effektivstes Gegenbild zur werdenden deutschen Nation und ihrer halluzinierten homogenen Kultur herausstellen sollten – ,den Juden‘.

Gerade auf dem autonomen Spielfeld der Ästhetik vermochten sich dabei Hass-Szenarien freier zu entfalten als anderswo, da sie in teils filigranen Chiffrierungen und zweideutigen Konnotationen immer wieder neu in ihrer subtilen emotiven Wirkung erprobt und in ihrer Rezeption im Publikum weiter ausphantasiert werden konnten. Es ist an der Zeit, diese vielschichtige und weitverzweigte Geschichte des literarischen Antisemitismus systematisch auf deren spezifische Affektpoetiken hin zu analysieren.

Laut Schwarz-Friesel ist der Antisemitismus ein auf „judeophoben Stereotypen basierendes Glaubens- und Weltdeutungssystem, das im kollektiven Bewusstsein der abendländischen Denk- und Gefühlsstrukturen verankert und im kommunikativen Gedächtnis durch seit Jahrhunderten reproduzierte Sprachgebrauchsmuster gespeichert ist.“[4] Diese Definition ist für uns hier und heute vor allem auch deshalb hilfreich, weil sie nahelegt, darüber nachzudenken, welche Dynamik in dieser Geschichte des Judenhasses von der Literatur ausging, deren Ausdrucksmaterial schließlich die Sprache ist und die antisemitische ‚Weltdeutungssysteme‘ mittels erzählter Phantasmen mit erschaffen und reproduzieren – oder bekämpfen helfen kann.

Um hier eine erste einführende These für diesen Themenschwerpunkt bei literaturkritik.de zu formulieren: Die fiktionale Literatur spielte seit dem 18. Jahrhundert in ihrer Wechselwirkung mit der entstehenden politischen Publizistik der Epoche als ein eigenständiges und einflussreiches Medium der Verbreitung antisemitischer Projektionen eine wichtige Rolle. Der Schneeball-Effekt der Literatur als Stimulus für emotionale Kettenreaktionen in der Öffentlichkeit beruhte dabei im literarischen Antisemitismus auf der Weiterentwicklung teils uralter Affektszenarien, die auf den Wandel religiöser Formen des Judenhasses hin zum modernen, rassistisch, völkisch und national argumentierenden Antisemitismus reagierten bzw. dessen verzerrte Weltanschauung eigens mit gestalteten.

Wie sich in den hier publizierten Beiträgen von Andrea Geier und Zohar Shavit zeigt, konnten sogar Texte aus unserer Zeit an der aufwiegelnden Macht dieser stereotypen antisemitischen Tradierungen scheitern – literarische Werke, die an sich ‚gut gemeint‘ waren und die ursprünglich geschrieben wurden, um einen Beitrag zur Aufklärung über den Antisemitismus zu leisten. Selbst die kritisch gedachte Aufrufung antisemitischer Stereotype in literarischen oder dramatischen Texten bzw. in auch in Schulen oder Universitäten immer noch vielgelesenen Kinder- und Jugendbüchern gegen den Judenhass kann so Gefahr laufen, unter der Hand denselben alten Stereotypen erneut eine Bühne zu bieten.

[1] Vgl. Monika Schwarz-Friesel / Jehuda Reinharz: Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert. Berlin und Boston: De Gruyter 2013, S. 72 f.

[2] Shulamit Volkov: Antisemitismus als kultureller Code. In: Dies.: Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. Jahrhundert. München: C. H. Beck 1990, S. 13-36. Hier: S. 23.

[3] Ebd., S. 25.

[4] Monika Schwarz-Friesel: Antisemitische Hass-Metaphorik. Die emotionale Dimension aktueller Judenfeindschaft. In: Interventionen – Zeitschrift für Verantwortungspädagogik. Berlin: Violence Prevention Network e. V. 2015, S. 38-44. Hier: S. 38.