Gerechtigkeit für die „Eiserne Lerche“

Stephan Reinhardt hat eine neue Herwegh-Biografie vorgelegt

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als die „Gedichte eines Lebendigen“ 1841 anonym in der Schweiz erschienen, wurden sie auf geheimen Wegen nach Preußen geschleust. Trotz Verbot machten sie den 24-jährigen Georg Herwegh über Nacht zum berühmtesten deutschen Freiheitsdichter im Deutschen Bund. Aufrührerische Liedzeilen wie „Der Freiheit eine Gasse“ wurden als Fanal im Vormärz verstanden. Die Gedichte übten zwar scharfe Kritik an den politischen Zuständen, beschworen die deutsche Einheit und den Kampf gegen Unterdrückung, waren aber auch voller revolutionärer Schwärmerei. In ihnen war von „ewigem Völkerfrieden“ oder „Brausen des Jahrhunderts“ die Rede. Als er ein Jahr später nach Deutschland zurückkehrte, glich der Empfang einem Triumphzug. Später war Herweghs Leben nicht mehr von Begeisterungsstürmen geprägt. Nachdem er sich gegen die preußische „Blut und Eisen“-Kriegspolitik gewandt hatte, wurde die „eiserne Lerche“ (so hatte Heine seinen aufstrebenden jungen Dichterkollegen einmal genannt) als „Nestbeschmutzer“ persönlich diffamiert und weitgehend ausgegrenzt. Das Bürgertum hatte längst seinen revolutionären Anspruch aufgegeben.

Nach seinem Tod 1875 strafte die deutsche Literaturgeschichte Herwegh mit Geringschätzung ab. Diese Grabesstille dauerte auch im 20. Jahrhundert an – abgesehen von der DDR, wo Herweghs Gedichte selbst in den Schulbüchern zu finden waren. Erst in den letzten Jahren erschien im Bielefelder Aisthesis-Verlag eine textkritische und kommentierte Herwegh-Gesamtausgabe in sechs Bänden, mit der endlich eine angemessene und zugleich differenzierte Würdigung gelungen ist.

Nun hat der Literaturkritiker Stephan Reinhardt im Wallstein Verlag eine weit ausholende Herwegh-Biografie vorgelegt, die den Blick freigibt auf einen Autor in seiner Zeit, der neben Heinrich Heine und Ferdinand Freiligrath einer der populärsten deutschsprachigen Dichter in der Mitte des 19. Jahrhunderts war. In vier umfassenden Teilen und 24 Kapiteln geht der Autor den Lebensstationen Herweghs nach – von der Kindheit und Jugend in Württemberg über das Exil in der Schweiz, die Jahre in Paris bis zu seinen letzten Lebensjahren in Baden-Baden. Dabei wird der Dichter immer wieder in den politischen und gesellschaftlichen Kontext gestellt, dem historischen Spannungsfeld zwischen Restauration nach dem Wiener Kongress und der deutschen Reichsgründung. Da die einzelnen Kapitel in jeweils kleine Abschnitte (mitunter nur ein, zwei Seiten lang) unterteilt sind, erleichtert diese mosaikhafte Darstellung die Lektüre der gut 600 Seiten.

Die Biografie spart jedoch nicht die Kritikpunkte aus, die Herwegh von verschiedenen Seiten vorgeworfen wurden: ein Salonrevolutionär, „der ein Wohlleben führte vom Gelde seiner Frau, einer reichen Jüdin“. Meist waren es böswillige Bemerkungen zu seiner Person. Reinhardt versucht, wie er bereits im Vorwort betont, Herwegh Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Herwegh war ein kritischer Beobachter der politischen Zeitverhältnisse. Neben seinen Zeitgedichten schrieb er auch brillante Essays, in denen er sich auch mit der gesellschaftlichen Funktion der Literatur auseinandersetzte.

Die Wurzeln des politischen Werdeganges von Georg Herwegh liegen in der revolutionären Aufbruchsstimmung der 1840er Jahre. In seinem Drängen nach Freiheit und sozialer Umwälzung stand er jedoch nicht allein. Heine, Weerth, Lassalle, Marx, von Fallersleben oder Freiligrath, sie alle forderten, so unterschiedlich ihre Ansichten auch waren, freie Meinungsäußerung und eine Verfassung, die die Menschenrechte garantierte. Herwegh stand mit vielen Gleichgesinnten im engen Kontakt, doch seine konsequente Parteinahme nicht nur für die deutsche Arbeiterklasse, sondern auch für die sozialistische Internationale wurde nicht von allen geteilt. Reinhardt rekonstruiert dieses weit verzweigte Netzwerk, in dem Herwegh einer der wichtigsten Kommunikatoren war, obwohl er sich selbst häufig als Einzelkämpfer verstand. Die Versöhnung mit dem kaiserlichen Deutschland Bismarcks, die manche seiner ehemaligen Mitstreiter vollzogen, machte Herwegh nicht mit, er blieb seiner radikalen Opposition bis zum Lebensende treu. Noch in seinen letzten Gedichten wandte er sich gegen den preußisch-deutschen Militarismus und Chauvinismus.

Reinhardts Biografie ist als Quintessenz einer langjährigen Beschäftigung mit Herwegh zu verstehen, die die Augen öffnen will für einen deutschen revolutionären Dichter, der bereits im 19. Jahrhundert länderübergreifende europäische Ideen entwickelte. Gleichzeitig ist sie eine Auseinandersetzung mit den wenigen früheren Herwegh-Biografien, vor allem mit Ulrich Enzensberger, der in seiner Herwegh-Biografie Heldenleben (1999) den Dichter einen „Bürgerschreck und Selbstdarsteller“ nannte und zugleich die gesamte politische Dichtung verdammte. Wie tief diese Anschauungen noch heute in der bundesdeutschen Literaturkritik verwurzelt sind, zeigt die Tatsache, dass Reinhardts Herwegh-Biografie in den Feuilletons der großen Tageszeitungen bis heute weitgehend mit Nichtbeachtung.

Titelbild

Stephan Reinhardt: Georg Herwegh. Eine Biographie. Seine Zeit – unsere Geschichte.
Wallstein Verlag, Göttingen 2020.
636 Seiten , 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783835338074

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