Den Schweigenden eine Stimme

Jovana Reisingers „Still halten“ ist ein wundervoll unausstehlicher Debütroman

Von Julian IngelmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julian Ingelmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Depression ist eine Volkskrankheit. Nach aktuellen Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) leiden rund 320 Millionen Menschen weltweit unter der psychischen Störung. Allein in Deutschland trifft sie knapp jede fünfte Person einmal in ihrem Leben. Trotzdem gilt Depression noch immer als Tabuthema; nur wenige Betroffene sprechen offen über ihre Krankheit und bekommen professionelle Hilfe. Mit ihrem Roman Still halten gibt die österreichische Filmemacherin Jovana Reisinger den Schweigenden nun eine Stimme – und liefert damit ein literarisches Debüt ab, das in Erinnerung bleibt.

Auf 200 Seiten gewährt Reisinger ihren Leser*innen intime Einblicke in die Seele ihrer Protagonistin. Sie stellt die Angststörungen und die Antriebslosigkeit der Namenlosen ebenso dar wie deren Verfolgungswahn, präsentiert aber auch manischen Phasen und Lichtblicke. Dabei beweist sie ein großes Talent dafür, die Gedanken und Gefühle einer Depressiven in starken Bildern nachzuzeichnen. So gelingt es ihr, eine Krankheit nachvollziehbar zu machen, der Nichtbetroffene häufig mit Unverständnis begegnen:

Der Schmerz zieht langsam und leise ins Hirn, bis er schneidend und prägnant ist. Dann ist er richtig da! Der Schmerz hält einen dann fest und will einen gar nicht mehr loslassen. Da kann man an alles Mögliche denken, aber der lässt sich nicht austricksen. Selbst die extravagantesten Überlegungen sind nutzlos. Ich stütze mich auf dem Tisch ab, bevor ich mich auf dem Fußboden wälze. Meine Finger bohren sich in meinen Schädel, dass ich glaube, mir gerade sämtliche Haare vom Kopf reißen zu müssen. Schmerz mit Schmerz bekämpfen.

Es ist der traumatische Tod des Vaters, unter dem die Protagonistin am Anfang des Romans so sehr leidet – obwohl, oder gerade weil sie kein gutes Verhältnis zu ihm hatte. Und so nutzt sie den erinnernden Bericht über dessen Beerdigung auch lieber zur zynischen Abrechnung als zur Trauerbewältigung:

Selbst als nutzlos gewordenes Stück Fleisch hatte es der Vater nicht fertiggebracht, wenigstens im Wind anständig zu baumeln, als sie ihn fanden. Als der Sarg ins Grab gelassen wurde, stieß dieser immer wieder am Rand an, weil das Loch zu klein war. […] Als der Sarg endlich in die Erde passte, bellten die Hunde auf ein Kommando und verfielen dann in ein lautes, trauriges Jaulen. Die abzeichensüchtigen Männer waren sehr stolz, den Vati, einen von ihnen, so gut verabschiedet zu haben.

Die eigentliche Handlung beginnt mit einem Anruf aus dem Krankenhaus: Ein Pfleger erklärt der Protagonistin, dass ihre Mutter an einer Lungenentzündung erkrankt sei und im Sterben liege, was sie in einen Zustand der äußeren und inneren Bewegungslosigkeit stürzt. Nach einem zweiten Anruf des Pflegers entschließt sie sich zu einem absurden Kraftakt: Sie möchte eine viertägige Wanderung auf sich nehmen, um ihre Mutter zu besuchen. Allein – sie schafft es nicht, loszugehen und tritt ihre seltsame Pilgerreise, die auch ein Gang nach Canossa sein soll, nie an. Erst der Tod der Mutter motiviert sie dazu, ihren pathologischen Phlegmatismus zu überwinden und die Verstorbene am Totenbett zu besuchen.

Dieser Plot, der die Protagonistin schließlich in ihr idyllisches Elternhaus führt und auf eine Konfrontation mit ihrer Vergangenheit und der Natur hinausläuft, ist sehr dünn. Denn anstatt die Leiden ihrer Figur durch eine Handlung zu vermitteln, hat Reisinger einen Roman verfasst, der auf radikale Subjektivität setzt. Still halten präsentiert sich seinen Leser*innen als widerspenstiger, zuweilen kryptischer Text, der sich der einfachen Verstehbarkeit widersetzt. Im inneren Monolog der Protagonistin spielen andere Figuren kaum eine Rolle, stattdessen dominieren Selbstreflexion, Selbstaufgabe und Selbstmitleid. So entsteht ein seltsamer Kontrast zwischen Selbstentfremdung und radikaler Ichfixierung, weil die Depressive sich selbst verloren geht und in Gedanken doch fast ausschließlich um sich selber kreist. Wie gut es Reisinger gelingt, dieses Leidensparadox darzustellen, wird auch daran deutlich, dass der Text für seine Leser*innen häufig anstrengend ist.

Es ließe sich kritisch fragen, ob Still halten dem Diskurs um psychische Krankheiten etwas Neues hinzufügen kann. Denn viele Motive, Metaphern und Gedanken, mit denen das Buch arbeitet, wirken bekannt. Es ist vor allem der weiblichen Erzählstimme zu verdanken, dass das Buch trotzdem neue Perspektiven liefert. Der Roman verhandelt Depressionen auch als Genderproblem. Immer wieder setzt sich die Protagonistin mit der Erwartungshaltung einer patriarchalen Gesellschaft auseinander; sie kämpft mit Rollenbildern und Körperidealen, die ihr auf Plakaten, in Illustrierten oder der Fernsehwerbung präsentiert werden, und arbeitet sich an Geschlechtsgenossinnen ab, die es einfacher zu haben scheinen als sie selbst. In Still halten grassiert die Depression nicht als menschliches Grundproblem, sondern als weibliche Krankheit, welche die Betroffene immer wieder auf dieselbe Frage zurückführt: „Was für eine Frau bin ich?“

Jovana Reisinger ist mit Still halten ein Debüt gelungen, das aus handwerklicher Sicht kaum zu kritisieren ist. Reisinger behandelt ein wichtiges Thema auf eine eindrückliche Art und Weise, findet in ihren kurzen, mit Austriazismen durchzogenen Sätzen sogar eine eigene Stimme dafür. Und trotzdem ist der Text eine qualvolle und anstrengende Leseerfahrung – nicht, weil er sein Ziel verfehlt, sondern gerade weil er mit der Darstellung der Depression so häufig ins Schwarze trifft. Insofern fällt es schwer, die Lektüre dieses Buchs tatsächlich zu empfehlen, erst recht in der dunklen Jahreszeit. Wer es lesen möchte, muss sich bewusst machen, dass Still halten kein Roman zum Schmökern ist. Es ist schwere Kost – ein Text, der seine eigene Unausstehlichkeit zum poetischen Programm macht. Und dafür gebührt Jovana Reisinger großes Lob.

Titelbild

Jovana Reisinger: Still halten. Roman.
Verbrecher Verlag, Berlin 2017.
200 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783957322739

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch