Von Traumbuden, exotistischen Reisen und Autorennen

Erich Maria Remarques frühe Romane aus den 1920er Jahren sind nun in Einzelausgaben verfügbar

Von Rolf ParrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Parr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erich Maria Remarques Œuvre wird vielfach auch heute noch erst von Im Westen nichts Neues (1929) an wahrgenommen und ebenso oft auch nicht weit darüber hinaus. Ein Grund neben anderen mag darin gelegen haben, dass seine frühen Romane bisher nur versteckt verfügbar waren, nämlich als erster Band der von Thomas F. Schneider und Tilman Westphalen 1998 unternommenen fünfbändigen Ausgabe des unbekannten Werks von Remarque, darunter die frühe Prosa, die Werke aus dem Nachlass sowie die Briefe und Tagebücher. Jetzt liegen die drei frühen Romane, wiederum herausgegeben von Thomas F. Schneider, dem Leiter des Osnabrücker Remarque-Friedenszentrums, in kommentierten, mit Nachworten versehenen Einzelausgaben vor, dankenswerterweise um umfangreiches, zum Teil erstmals veröffentlichtes Kontextmaterial ergänzt: Die Traumbude. Ein Künstlerroman, zuerst veröffentlicht 1920 im Dresdener Verlag „Die Schönheit“; Gam, der zweite, 1923/24 entstandene und zu Lebzeiten des Verfassers nicht veröffentlichte Roman, zu dem es jedoch nahezu vollständige Typoskripte im Nachlass gibt, die als Textgrundlage herangezogen werden konnten; Station am Horizont, 1927/28 in Fortsetzungen in der Zeitschrift Sport im Bild. Das Blatt der guten Gesellschaft erschienen.

Mit diesen drei Bänden ist nun das gesamte Romanwerk Remarques in Taschenbuchausgaben bei Kiepenheuer & Witsch verfügbar und so eine nicht unbedingt von Beginn an intendierte Gesamtausgabe entstanden. Diese Bezeichnung wird zwar weder von den Herausgebern noch dem Verlag in Anspruch genommen, wäre aber nicht zuletzt aufgrund der editorischen Sorgfalt, der sinnvollen und nicht ausufernden Kommentierung, der kompetenten Nachworte und – im Falle der drei frühen Romane – der zusätzlich beigefügten Kontextmaterialien durchaus verdient.

Für Die Traumbude besteht dieses ‚Bonus-Material‘ in dem rund 85 Druckseiten umfassenden Tagebuch, das Remarque während eines Aufenthalts als kriegsverwundeter Soldat „vom 15. August bis zum 25. Oktober 1918 im Duisburger St. Vinzenz-Hospital führte“. Es wird hier „erstmals ohne Kürzungen veröffentlicht“ und zeigt sehr deutlich Remarques „Desorientierung“, die aus dem Tod der Mutter und wenig später seines „geistigen Mentors“ Fritz Hörstemeier resultierte, dessen ästhetizistischem Künstlerkreis Remarque angehörte und der für Die Traumbude mehr als nur Pate gestanden hat. Für Gam bestehen die Kontextmaterialien aus einer im Nachlass befindlichen Auflistung der männlichen Figuren mit Kurzcharakteristiken wie „Clerfayt gesammelte Energie, Jugendkonsequenz, Härte, im Elan unwiderstehlich“, einem im Nachlass befindlichen Strukturplan von 1924, der zeigt, wie sich Remarque zu diesem Zeitpunkt den Stand des Textes selbst vor Augen führte, und einer Reihe von Zeitschriftenartikeln Remarques, die als thematische Vor- bzw. Parallelarbeiten zu Gam angesehen werden müssen. An ihnen lässt sich (wie auch für andere Romane) aufzeigen, wie Remarque diese Texte aufgreift und im Roman weiterverarbeitet. Das zeigt zugleich, dass journalistische Texte und Romanwerk bei Remarque in engster Beziehung zueinander stehen und man keineswegs den Journalisten vom Romancier trennen darf. Solche journalistischen Arbeiten sind auch Station am Horizont beigegeben, ebenso wie ein im Rennfahrermilieu spielendes Filmskript mit dem Titel Monteur Hagen, das deutlich macht, dass Remarque schon früh im Filmgeschäft Fuß zu fassen suchte und nicht erst im amerikanischen Exil.

Insgesamt lassen die drei frühen Romane Remarques aus den 1920er Jahren zahlreiche Entwicklungslinien in seinem Schreiben erkennen, etwa mit Blick auf die Schauplätze und die soziale Spannbreite der Konfigurationen: Spielt Die Traumbude noch weitestgehend in einer – wie es einführend heißt – „kleinen Stadt“, die unschwer als das damalige Osnabrück zu erkennen ist, und stellt das ferne Berlin gegenüber dieser erstaunlich emphatisch beschworenen „Heimat“ den der Tendenz nach eher negativ gewerteten Gegenpol dar, so haben wir es in Station am Horizont mit einem Zwei-Pole-Modell von ländlicher deutscher Heimat und großer Welt der High Society in Südfrankreich und Italien zu tun. Dazwischen steht, auch was die zeitliche Abfolge der Romane angeht, die exotistische, teils an das Genre eines Spionageromans angelehnte Weltreise einer jungen Frau in Gam, die in der Idylle eines Bergklosters und seines Gartens endet, in dem die Protagonistin endlich ‚bei sich‘ anzukommen scheint. Eine ähnliche Entwicklung zeigt sich bei den Konfigurationen: Die Traumbude zeigt auch hier eine Dichotomie zwischen einer ersten, weitgehend homogenen Gruppe von im Künstlermilieu verorteten und sozial nicht gerade gut gestellten Figuren und einer zweiten von im Spektrum des Großbürgertums angesiedelten Frauenfiguren. Demgegenüber ist in Station am Horizont die Konfiguration insofern homogener, als die meisten Figuren dem reisenden Jet-Set finanziell gut betuchter Leute angehören, während nur einige Nebenfiguren aus diesem Spektrum herausfallen.

Eine andere an den drei frühen Romanen Remarques nachvollziehbare Entwicklung ist die Verbindung eines ästhetizistischen und lebensphilosophischen Grundtons, der bisweilen zu etwas befremdlich anmutenden Merksätzen vom Typ „‚Glauben Sie an das Wunder im Leben, gnädiges Fräulein?‘/ ‚Ja – ja!‘/ ‚Behalten Sie ihn!‘“ (Die Traumbude) führt, mit einem eher neu-sachlichen Ton, der mit Remarques Technik- und insbesondere Autobegeisterung einhergeht. In Die Traumbude dominiert noch ganz die erstere Ton- und Stil-Lage; Gam kennt schon ansatzweise neusachliche Elemente, allein schon in der Figur der modernen, um die Welt reisenden jungen Frau; Station am Horizont alterniert zwischen beiden Tonlagen, die gleiches Gewicht erhalten. Integriert werden sie jedoch nur punktuell, so beispielsweise dann, wenn die neusachlich aufgefasste Auto-Maschine anthropomorphisiert („die Hupe schrie lang und wild über die Felder […], die Scheinwerfer tasteten den Weg ab“) und umgekehrt der menschliche Körper technisiert wird („er wehrte sich dagegen, aber es ging doch ins Blut, dieses Motorengebrüll“; „Kai war kein Mensch mehr, er stöhnte mit dem tobenden Kompressor“). Eine tatsächliche Symbiose von Mensch und Maschine und auch eine von Ästhetizismus und Neuer Sachlichkeit findet sich erst später in Romanen wie Drei Kameraden (1936), so etwa, wenn es dort heißt: „Im Zeitalter der Sachlichkeit muß man romantisch sein, das ist der Trick. Gegensätze ziehen an.“ Was hier auf eine Annonce zum Verkauf eines Autos bezogen ist, ließe sich für Remarques Poetik so umformulieren: ‚Um eine distinkte Position in der Literaturlandschaft der 1930er Jahre einzunehmen, kann man beispielsweise Ästhetizismus mit Neuer Sachlichkeit koppeln.‘

Beobachtungen wie diese ließen sich mit Blick auf viele der späteren Romane Remarques weiterführen und sicherlich hier und da auch mit seinem eigenen Lebensweg korrelieren. All das ermöglicht die nun – man möchte fast sagen: endlich – erfolgte (Neu-)Herausgabe der drei frühen Romane Remarques, die in nuce schon sehr viele thematische und strukturelle Elemente enthalten, die auch sein Gesamtwerk charakterisieren. Allein schon die Wiederaufnahme der Namen von Figuren wäre einmal eine eigene Untersuchung wert. Wer die späteren Texte Remarques verstehen will, ist gut beraten, mit der Lektüre der drei frühen Romane zu beginnen. Dies ohne größeren Aufwand möglich gemacht zu haben, ist ein nicht geringes Verdienst des Herausgebers Thomas F. Schneider.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Erich Maria Remarque: Die Traumbude. Ein Künstlerroman.
In der Fassung der Erstausgabe mit Materialien und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020.
320 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783462054682

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Titelbild

Erich Maria Remarque: Gam. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020.
352 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783462054699

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Erich Maria Remarque: Station am Horizont. Roman.
In der Fassung der Erstausgabe mit Materialien und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020.
320 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783462054675

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