Korruption und Freiheit am Ochotskischen Meer

Viktor Remizov porträtiert in seinem Roman „Asche und Staub“ ein Russland fernab der Zentren

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rybatschi, eine kleine Siedlung im Fernen Osten Russlands, direkt am Ochotskischen Meer gelegen. Wir befinden uns in der unmittelbaren Gegenwart: im Monat Oktober, just zu Beginn der Jagdsaison. Die Sowjetunion ist schon längst abgewickelt, und die noch hier verbliebenen Menschen haben sich mit den neuen Gegebenheiten mittlerweile arrangiert. Die meisten von ihnen leben gar nicht einmal so schlecht, denn sie profitieren direkt oder indirekt vom Schwarzhandel: Neben ihrer eigentlichen Arbeit, etwa in der Fischfabrik, produzieren nämlich viele Einwohner noch illegal Kaviar. Selbst die örtliche Polizei verdient dabei mit: Sie zweigt 20 Prozent des Gewinns für sich ab, dafür drückt sie bei diesen Geschäften ein Auge zu. Es herrscht ein labiles Gleichgewicht in Rybatschi. Als der Jäger und Einzelgänger Stepan Kobjakow bei einer Fahrzeugkontrolle die Nerven verliert, probt er den Aufstand gegen das etablierte System. Damit fordert er, ob beabsichtigt oder ungewollt, alle heraus. Er flieht in die Taiga, während die Jagd auf ihn beginnt: Die einen wollen Kobjakow zur Rechenschaft ziehen, die anderen ihn vor der Rache beschützen.

Mit Viktor Remizov (geboren 1958) wird ein neuer russischer Autor im deutschsprachigen Raum eingeführt, von dem man noch einiges erwarten darf. Sein Roman Asche und Staub, im Original zunächst 2014 in der renommierten Literaturzeitschrift Nowy mir erschienen, ist jedenfalls ein Debüt, das zu überzeugen vermag. Dafür lassen sich mehrere Gründe anführen. Unter anderem der, dass er sich zunächst wie ein atemberaubender Krimi liest: als die Geschichte einer hektischen und gefährlichen Treibjagd mit zahlreichen Akteuren. Im Gleichzug nimmt Remizov aber auch eine scharfsinnige Zeitdiagnose der russischen Provinz vor. Außerdem ist sein Roman eine Meditation über die Landschaften Sibiriens und des russischen Fernen Ostens, über die Pflanzen und Tiere sowie die Jagd. Und nicht zuletzt bringt Asche und Staub auch eine philosophische Auseinandersetzung über das große Thema der Freiheit.

Dass sich Viktor Remizovs Buch wie ein Kriminalroman liest, liegt vor allem am Plot, den der Autor ihm zugrunde gelegt hat: Ein Mensch hat die Regeln übertreten; er setzt sich ab und wird nun von den anderen verfolgt. Damit wird eine Spannung aufgebaut, die den ganzen Roman durchzieht: Es bleibt lange Zeit völlig offen, ob Kobjakow gefasst werden wird und was mit ihm dann geschehen soll. Gleichzeitig wird damit aber auch der ewige Kreislauf in den Weiten der Taiga aufgebrochen: Während man sich ansonsten im Herbst auf die Jagd nach Zobeln und anderen Tieren macht – auch das im Übrigen nicht immer ganz legal –, wird nun mit einem Mal ein Mensch zur Zielscheibe.

Für Remizov bietet diese Grundkonstellation die Möglichkeit, eine ganze Galerie von Menschen aus der Siedlung zu porträtieren. Dass dies in einem Moment geschieht, in dem das Gleichgewicht durcheinandergeraten ist, macht es nur noch interessanter. Die Bewohner sind jetzt gefordert, sie müssen die Spuren ihrer illegalen Aktivitäten beseitigen, denn es ist eine Untersuchungskommission aus Moskau angekündigt. Und sie sehen sich gezwungen, Stellung für oder gegen Kobjakow zu beziehen. Remizov gelingt es dabei ausgezeichnet, die verschiedenen Charaktere der Einwohner von Rybatschi offenzulegen. Er tut dies freilich indirekt: Die Ansichten der Menschen, ihre Werte und Überzeugungen, ihre Hoffnungen und Pläne werden vornehmlich in Gesprächen mit anderen offenbar. Dies wiederum bringt es mit sich, dass manche Äußerung provisorisch bleibt. Denn nicht jedem Gegenüber öffnet man sich gleichermaßen, nicht allen erzählt man dasselbe. Auch wechselt die Erzählperspektive ständig zwischen den Figuren hin und her, sodass keine die Oberhand im Roman gewinnen kann. Das unterstreicht noch einmal, dass allesamt in dasselbe System von Abhängigkeiten und Loyalitäten verstrickt und daher unauflöslich miteinander verbunden sind. Gerade deshalb trägt die Treibjagd auf Kobjakow auch Züge eines dramatischen Psychothrillers. Im Hinblick auf die Perspektive fällt im Übrigen auf, dass die Frauen im Roman deutlich weniger zu Wort kommen. Das sollte man wohl am ehesten als einen Hinweis darauf verstehen, dass die Jagd in der Taiga vor allem eine Männerdomäne ist.

Remizov verzichtet in seinem Roman darauf, die Figuren eindeutig in Gut und Böse einzuteilen. Es findet sich dementsprechend auch kein klares Sprachrohr des Autors. Dies tut dem Roman sicherlich gut. Natürlich gibt es Personen, die etwas stärker in die eine oder die andere Richtung tendieren. So ist Oberstleutnant Anatoli Gnidjuk von der Miliz sicher die negativste Figur des Romans. Sein Name erinnert an „gnida“, „die Nisse“ oder auch das „Scheusal“. Er ist erst seit kurzem in Rybatschi, nimmt aber die Geschichte mit Kobjakow zum Anlass, um sich selbst zu profilieren. Er erhofft sich eine Beförderung und versucht das noch nicht einmal zu verbergen. Auf der anderen Seite der Skala ist Stepan Kobjakow angesiedelt, dem die Sympathie der Leser gilt. Man hofft bei der Lektüre als unbeteiligter Zeuge insgeheim, Kobjakows Aufstand gegen das System möge gelingen.

Andere Romanfiguren sind in ihrem Charakter deutlich widersprüchlicher angelegt: So ist der bisherige – zumindest auf dem Papier – starke Mann der Bezirksmiliz, Oberstleutnant Alexander Tichi, eine durchaus komplexe Figur. Er verhindert zwar den korrupten Schwarzhandel in seinem Revier nicht – mehr noch: Er profitiert sogar selbst davon –, doch hat er das korrupte System immerhin nicht selbst installiert und ist auch nicht dessen Strippenzieher. Außerdem hat er zumindest noch einen Hauch von schlechtem Gewissen, und vor allem verfügt er noch über die Erinnerung an einst geltende Werte. Er reflektiert über Gut und Böse und fühlt instinktiv, dass es wohl richtig wäre, den ehrlichen Stepan Kobjakow vor dem Schlimmsten zu bewahren. Auch rückt Remizov Tichis private Seiten in den Vordergrund: Tichi schickt sich nämlich an zu heiraten – seine künftige Frau erwartet bereits ein Kind. Man möchte ihm dieses Glück gönnen. Die Tatsache, dass Tichi allerdings bereits unauflösbar in die krummen Geschäfte verstrickt ist und nicht mehr aus ihnen herausfindet, bereitet den Boden für seine eigene, sehr persönliche Tragödie.

Ganz ähnlich steckt auch die Figur des Moskauers Ilja Schebrowski voller Widersprüche. Er hat in seiner Heimatstadt das große Geld gemacht und könnte nun das Leben genießen. Er ist jedoch seiner Frau und der Arbeit überdrüssig und sucht nun schon das zweite Jahr im Fernen Osten den großen Kick: Auf der Jagd fühlt er sich frei und findet immer mehr zu sich. Doch dieser sympathische Aussteiger kommt in der isolierten Jagdhütte dann doch nicht ohne seine Schallplattensammlung und seine Bücher (darunter Marcel Proust!) aus, und für die Jagd kann er sich – anders als die Einheimischen – solch nützliche Hilfsmittel wie etwa einen gemieteten Hubschrauber leisten. Schebrowski soll also im Roman auch ein wenig als „Ersatzprobe“ funktionieren: Falls die Menschen in Rybatschi etwa glauben, im fernen, glamourösen Moskau sei alles besser, so täuschen sie sich gewaltig. Und umgekehrt: Wenn der Moskauer Ilja Schebrowski meint, in der Taiga noch eine heile Welt vorzufinden, so wird er im Verlauf der Geschichte ebenfalls eines Besseren belehrt.

Die differenzierte Gestaltung der Figuren – es sind insgesamt über 20, wobei aber etwa zehn davon herausstechen – ist sicherlich mitverantwortlich dafür, dass Remizov auch beim großen philosophischen Thema der Freiheit keine eindeutigen Ansagen macht. Über sie wird zwar immer wieder nachgedacht, aber durch die Perspektive unterschiedlichster Personen, in zahlreichen Gesprächen und Konfigurationen. Es wird somit keine abschließende Definition von Freiheit formuliert. Der Roman kreist nur immer wieder um den Begriff, ohne dabei dessen problematischen Aspekte aus dem Auge zu verlieren. Die Freiheit wird nicht allein als existenzielle Dimension aufgefasst, sie ist auch ein politischer Begriff. Denn für manchen Bewohner Rybatschis bedeutet er zunächst einmal, dass man möglichst unbehelligt vom Staat und den Polizisten, dessen Vertreter vor Ort, leben möchte. Remizov schließt hier an ein altes Thema der russischen Kulturgeschichte an: Obwohl Sibirien und der Ferne Osten seit dem Zarenreich und der Sowjetunion mit Gefängnis, Lager und Verbannung in Verbindung gebracht werden, gibt es doch auf der anderen Seite eine zweite Traditionslinie: Sibirien und der Osten galten immer auch als ein Hort der Freiheit. Hier hat es keine Leibeigenschaft gegeben, hierher flohen Kosaken, Altgläubige und Freiheitsliebende, um für die Behörden möglichst nicht mehr erreichbar zu sein. Wer wollte, konnte sich im Osten Russlands also durchaus seinen kleinen Freiraum erobern.

Wenn Remizov nun zeigt, dass diese Freiheit gefährdet ist, dass auch (oder gerade) in der Provinz sich Korruption, Vetternwirtschaft und Staatswillkür ausgebreitet haben, dann wird spätestens an dieser Stelle aus Asche und Staub auch ein hochpolitisches Buch. Wenn an Remizovs Roman überhaupt etwas eindeutig ist, dann ist es die Klarheit dieser Diagnose der russischen Provinz. Es fällt in diesem Zusammenhang auf, dass in den letzten Jahren die russischen Schriftsteller den Blick vermehrt wieder auf die Regionen abseits der alles dominierenden Zentren richten. So hat beispielsweise Roman Sentschin in seinem Roman Eltyševy (Die Familie Jeltyschew) den Blick auf den Zerfall der sozialen Strukturen auf dem Land und den Niedergang des russischen Dorfes an und für sich gerichtet, während er in Zona zatoplenija (Überflutungszone) ein altbekanntes Thema, freilich in die Gegenwart übertragen, neu aufgreift: In Sibirien soll ein altes, aber jahrelang unterbrochenes Staudamm-Projekt wieder aufgenommen werden. Dafür jedoch wird eine Siedlung von der Landkarte verschwinden müssen; die Menschen sollen dabei nicht einmal entschädigt werden. Inwiefern hier eine neue Strömung in der zeitgenössischen russischen Literatur entsteht, muss vorerst offenbleiben. Vielleicht ist es aber kein Zufall, dass sich erstaunlich viele Autoren – wenn auch aus durchaus unterschiedlichen Gründen – von der Großstadtprosa abwenden. Wahrscheinlich wird man bei genauerem Hinsehen hier auch Anklänge an die frühere „Dorfprosa“ in der sowjetischen Literatur finden können. Diese literarische Richtung bewies seinerzeit im Übrigen durchaus auch ein regimekritisches Potenzial. Remizov ist es jedenfalls hoch anzurechnen, dass er die Probleme im Osten Russlands nicht ignoriert. Und mit der sowjetischen Dorfprosa hätte sein Roman überdies die Achtung vor der schützenswerten Natur gemein.

Damit wäre noch ein letztes Stichwort gegeben, warum sich die Lektüre von Asche und Staub unbedingt lohnt: Allein die Schilderungen der Landschaft sind bisweilen von einer überwältigenden sprachlichen Schönheit! Mit bemerkenswerter Präzision, aber auch mit einer zärtlichen Liebe für das von ihm Porträtierte zeichnet Remizow die Tier- und Pflanzenwelt, die Wetterverhältnisse in der Taiga, die Anzeichen für den nahenden Winter nach. Ein sprachlicher Höhepunkt ist das 19. Kapitel, wo geschildert wird, wie Ilja Schebrowski einen Bären erlegt. Aber auch das 13. Kapitel berührt – obwohl hier unter anderem von sterbenden Zobeln die Rede ist, wirkt die Atmosphäre beinahe idyllisch. Der Gegensatz zwischen den Gesetzen der Natur und dem traurigen Treiben der Menschen ist bisweilen gewaltig. In den Passagen über die Landschaft, die Fauna und die Flora steckt vielleicht doch noch eine Botschaft des Autors: Es scheint, dass es Viktor Remizov nur dann ganz wohl ist, wenn kein Mensch das Bild stört. Die hier zwangsläufig vorkommenden Fachbegriffe aus Tier- und Pflanzenwelt waren sicher eine besondere Herausforderung für die Übersetzerin Annelore Nitschke, die ihre Aufgabe jedoch bravourös bewältigt hat.

Ein kleiner Wehmutstropfen: Die offizielle Dudenumschrift für russische Namen ist seit einigen unter Druck geraten. Gemäß den Regeln wäre eigentlich die Form „Remisow“ korrekt. Es ist dem Rezensenten natürlich bewusst, dass manche russische Autoren aus Gründen der optimalen Vermarktung mit nur einer Namensversion im lateinischen Alphabet präsent sein möchten. Dann obsiegt offensichtlich die englische Version – im vorliegenden Fall eben „Remizov“. Wenn auch nachvollziehbar, so ist es trotzdem ein wenig ärgerlich. Jedenfalls wäre dieses Thema einmal eine ausführliche Debatte wert.

PS: Wer sich für die Taiga und den Fernen Osten Russlands begeistert, dem sei ebenfalls der neue Roman von Andreï Makine empfohlen. Der französische Schriftsteller mit russischen Wurzeln beschreibt in L’archipel d’une autre vie eine ganz ähnliche „Menschenjagd“ in genau derselben Region im Fernen Osten. Das ist zwar bloß ein schöner Zufall. Aber eine parallele Lektüre von Makine und Remizov erweist sich als überaus reizvoll: Denn auch bei Andreï Makine spielen die grandiose Landschaft sowie der Drang nach Freiheit die Hauptrollen.

Titelbild

Viktor Remizov: Asche und Staub. Roman.
Übersetzt aus dem Russischen von Annelore Nitschke.
dtv Verlag, München 2016.
359 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783423280952

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