Vom Sprachspieler zum spazierenden Aufmerker und Privatmythenfabulierer

Rolf G. Renners Werkmonographie kommentiert Handkes Gesamtwerk mit theoretisch fein geschliffener Brille

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Welcher andere deutschsprachige Autor hat in den letzten 50 Jahren ein solch breites, vielseitiges Oeuvre als sprachspielender Lyriker und formdehnender (Post-)Dramatiker, als Erzähler und Drehbuchautor, als Essayist und Journalschreiber publiziert wie Peter Handke? Zweifellos gilt der Kärntner als schreibbesessener Autor. Doch ist er gewiss kein Viel- oder Drauflosschreiber im Sinne eifrig verfasster, immer gleicher Texte. Obgleich man, nach Handkes ersten zehn Publikationsjahren, in denen er sich als experimentierfreudiger Provokateur am Nachkriegsrealismus abarbeitete, später insistente Leitmotive und einen erkennbaren Sound in Handkes Oeuvre vernehmen kann. Rolf G. Renners souveräne Werkübersicht und sein theoretisch (an kritischer Theorie und Poststrukturalismus) geschultes Auge kommentieren Handkes Erzählwelten- und Bildentwürfe, zudem seine damit einhergehenden Reflexionen auf die Welt und auf die Medien ihrer Aneignung so tiefschürfend wie erhellend.

Ernst Wilhelm Händler hat 2019 die Wiedererkennbarkeit von Handkes Texten in seinem FAZ- Essay „Sieben Thesen zur Autorschaft. Die Literatur stirbt am Algorithmus“ auf folgende Formel gebracht:

Die stilbetonten Autoren und Autorinnen der deutschsprachigen Literatur waren erfolgreicher als etwa ihre amerikanischen Kolleginnen und Kollegen. Drei Sätze aus Romanen von Uwe Johnson, Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek, Brigitte Kronauer oder Peter Handke, und man weiß, wer die Sätze geschrieben hat. In Amerika gibt es vergleichbares nur von Thomas Pynchon. Die Handke-Formel etwa lautet: (Religion + Naturbeschreibung + naturnahe Beschreibung von Menschen und Ereignissen + Selbstreferenz in Bezug auf das Erzählen) x Pathos = Roman. Es sei betont, dass der Verfasser Handke schätzt. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass das Handke’sche Erzählen – genau wie dasjenige der anderen aufgeführten Autorinnen und Autoren – bestimmten Gesetzen folgt, die es unverwechselbar machen.

Was Ernst Wilhelm Händler hier als Handkes Stil bezeichnete, nämlich gewisse thematische Vorlieben, eine Pathos evozierende Intonation sowie regelmäßige Referenzen auf Erzählverfahren, das lässt sich tatsächlich an Handkes so facetten- wie umfangreichen Oeuvre en detail nachvollziehen. Allerdings geht es Handke nicht nur um die Gesetze, Gründe und Probleme des Erzählens beim Erzählen, sondern auch um die Möglichkeiten von Bildern (im Kino, auf Gemälden, aber auch in Texten), um die Gattungsgesetze des Theaterspielens, des Tagebuch- oder Essayschreibens oder des Gedichte- Machens. Handke publiziert seit den 60er Jahren in allen vier Dichtungssparten, auch wenn sein als Lyrik begreifbares Werk eher schmal blieb und zur Gegenwart hin ausdünnte (oder in seine Erzählwerke einwanderte?).

Dabei hat der vielreisende Österreicher, der lange schon bei Paris lebt, freilich trotz dieser Verwurzelung einen umherstreifend nomadenhaften Alltag zu leben scheint, die klassischen Literaturgattungen, die er aufgriff, meist auch transformiert. Dazu erfand er mit seinen Versuchen (über die Müdigkeit, über die Jukebox, über den geglückten Tag oder über den Pilznarren usw.) noch sein ganz eigenes Genre: ein passgenaues Refugium seines sinnierenden, aufmerkenden Beobachtens und Beschreibens.

Seit den 1960er Jahren hat der studierte Jurist in seinen Theatertexten über das Theaterspielen nachgedacht und seine Grenzen und Kontexte befragt; sowie er in seinen Erzähltexten gründlich über das Erzählen reflektierte und in seinen frühen Texten demonstrativ auf die Ordnung der Worte verwies (und nicht die Ordnung oder Kritik der Welt) als Gegenstand der Literatur. Auch wenn es in den manchmal scheinbar so drauflos und daher plaudernden Texten nicht immer gleich ins Auge springen mag, ist Handke ein sprach- wie formbewusster Autor, der das Potenzial der Gattungen ausprobiert, ihre Formgesetze mal mehr mal weniger merklich, doch stets höchst reflektiert durch- und ausspielt.

Lange schon befasst sich der emeritierte Freiburger Germanistikprofessor Rolf G. Renner mit Handke. Ihm gelang es nun, Handkes Grundimpulse, die Kontinuitäten wie auch markante Fortentwicklungen, Kehren und Wiederaufnahmen seiner Lebens- und Lieblingsthemen thesenfreudig und relativ anschaulich darzulegen. In dieser auf umfassender Werkkenntnis basierenden Zusammenschau wird – weit mehr als bei der Einzellektüre eines Handke-Textes – deutlich, wie sehr der politisch so umstrittene Nobelpreisträger einerseits in Traditionen verankert ist. Und wie er andererseits poetologische und intermediale Leitfragen verbindet mit seinem stetigen doch immer wieder neu ansetzenden schreibenden Suchen nach dem eigenen Ich sowie seiner familiären und kulturräumlichen Herkunft.

Diese Monografie verdeutlicht, dass Handke ein großer autofiktionaler Selbst- und Sinnsucher ist. Und sie erklärt stets nah an den Werken, wie er dabei (zumindest anfangs) auf der Höhe der Zeit reflektiert, über seine Verfahren des Sehens, des Denkens, des fabulierenden Erzählens und über sein aufmerksames (Be)-Schreiben. Renner weist mithin nach, wie sehr Handke ein poetologisch ungemein versierter Autor ist. Eine Leerstelle in Handkes Medienreflexion, die auch bei Renner weitgehend unerwähnt bleibt, scheinen die heutigen spätmodernen Schreib- und Medienverhältnisse im Zeichen von Computern und des Internets mit seinen (A-)Sozialen Medien zu sein. Handke schreibt wohl eher mit dem Bleistift. Er geht ins Kino, versenkt sich in Gemälde und setzt sich mit der Seh- und Sinnlogik des Fernsehens auseinander. Und dies tut er auf unvergleichlich insistente Art und auf poetisch mannigfaltige, genreübergreifende Weise.

Bei der Lektüre dieser dicken Werkmonografie lernt man bei Renner, wie Handke seine intertextuellen Bezugnahmen auf Genres und Schreibverfahren der literarischen Traditionen gleichsam historisch im Krebsgang, rückwärts schreitend erweitert. Nach Anfängen im Kontext von Österreichs sprachspielerisch experimentellen, auf Überraschung und Provokation zielenden ästhetischen Neo-Avantgarden nimmt er im Verlauf der 70er Jahre erst auf Goethes Erzählen und aufs Märchengenre Bezug, später dann auf mittelalterliche Märchen sowie auf die Geschichts- und Erzählreflexionen des antiken Feldherrn und Historikers Thukydides.

Renner hatte schon 1985 im Metzler Verlag eine kleine Monografie über Handkes bis dato vorliegendes Werk publiziert. Diese Studie bildet nun, deutlich ergänzt und grundlegend überarbeitet, das Fundament (nämlich Kapitel 2-7) der vorliegenden monumentalen Werkmonografie. Da Handkes Werk sich seit den 80er Jahren etwa verdreifachte, ist auch Renners neue Monographie mindestens drei Mal so umfangreich wie sein frühes Büchlein: ein dickes, großformatiges Kompendium, das auf fast alle Texte des Poeten im einzelnen eingeht, sie zugleich umsichtig in sechs Werkphasen und zwölf Werkgruppen bündelt. Ob sich dabei gerade die vielen einzelnen mal sehr langen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) mal eher kurzen Erzähltexte seit Handkes Erzähl-Tetralogie um 1980 grundsätzlich im Erzählstil oder auch im Hinblick auf die von Renner immer wieder aufgerufene existenzialontologische Grundhaltung kategorial unterscheiden oder nicht doch einem großen Erzählkosmos gleichen, der kontinuierlich und sich stetig auf Vorheriges rückbeziehend weiter erzählt, das kann man anhand von Renners vorgenommener Gruppierung am Detail produktiv diskutieren. Unstrittig ist, dass sein Kapitel „Die Konkurrenz von Wort und Bild“ über Handke als Kinogänger, Drehbuchautor und Regisseur gerade auch mit seinen Verhandlungen der Bild-Reflexionen und visuellen Einschreibungen in Texten wie Die Abwesenheit oder Die schönen Tage von Aranjuez wichtige ästhetische wie (werk-) biografische Leitmotive Handkes umsichtig analysiert.

Ein umfangreiches Kapitel verhandelt auch die Kontexte und zahlreichen Beiträge, die Handke über nahezu 20 Jahre hin zum Serbienkrieg und zu den Mediendebatten über diesen publizierte. Renner bringt hier – dem hermeneutischen principle of charity im besten Sinne folgend – viel Verständnis für Handkes oft idiosynkratisch wirkende Medien- und Kriegstexte auf, indem er sie mit bild- und zivilisationskritischen, aber auch mit biografischen Motiven literarischer Texte des Autors in Bezug setzt.

Den Schluss dieser großen, manchmal ein wenig repetitiven, doch stets sorgfältig und nah an den Texten argumentierenden Kommentar-Revue bildet Renners Kapitel zur Handke-Rezeption von den Anfängen bis zu den 2010er Jahren. Neben einem Überblick zu den polemischen, oft verkürzt journalistischen, literaturkritisch wertenden Debatten über politisch-ästhetische Aspekte von Handkes Schreiben bietet Renner hier einen knappen Abriss wichtiger Bücher über Handke. Diese kreisen um Handkes (auto-)biografische Leitmotive, seine am langsamen Gehen und Sehen orientierten Stadt- und Landschaftsdarstellungen und um seine weltliterarisch weit ausgreifenden intertextuellen Bezüge auf ältere Texte und Autoren.

Man mag sich wundern und ärgern über Handkes Parteinahmen, seine einseitigen und gelegentlich wütenden Einlassungen zu den jugoslawischen Zerfallskriegen. Doch ist es bedauerlich, dass diese politischen und medienkritischen Aspekte die Rezeption seines Werks bei einem breiten Publikum wohl allzu sehr dominierten und seine dichterischen (für manche womöglich auch: seherischen) Fähigkeiten und Werke überschatteten. Renners Verdienst ist es nicht nur, die Nachwirkungen dieser in die Irre gehenden politischen Positionierungen, zudem Handkes Wiederaufnahmen des Geschriebenen, seine Selbstzweifel, partiellen Selbstkritiken und Rücknahmen durch die erzählerischen und theatralischen Texte Handkes hindurch minutiös nachzuzeichnen. Renners Hermeneutik bietet mit seinen Leitaspekten der Bildkritik, der Traditionsbezüge, der autofiktionalen Selbstvergewisserung nachvollziehbare Herleitungen für Handkes politische Einsprüche. Seine Monographie rekonstruiert die komplexe Vorgeschichte zu diesen fragwürdigen Selbstpositionierungen des Schriftstellers.

Renners Anliegen ist es, den nicht wenigen Handke-Studien ein weit ausgreifendes, viele Fäden aufnehmendes Überblickswerk an die Seite zu stellen, das einem Handke-Handbuch schon nahekommt. Seine Monographie erschließt die Einzeltexte auf hohem, theoretisch geschultem Niveau.  Er präsentiert und kommentiert die Texte in historischer Abfolge, geordnet nach thematisch-theoretischen Leitmotiven, und konturiert so die Poetik des Autors sowie die kontinuierliche Entwicklung seines Oeuvres weithin überzeugend. Als umfassende Werkmonographie, die das vielfältige, gelegentlich unübersichtlich mäandernde Handke- Oeuvre klug gruppierend strukturiert, mit seinen konzisen Lektüren aller bisherigen Texte, wird das Buch so schnell nicht zu überholen sein. Es darf wohl jetzt schon als Standardwerk für die künftige Handke-Philologie gelten.

Titelbild

Rolf G. Renner: Peter Handke. Erzählwelten – Bilderordnungen.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2020.
XII, 542 Seiten , 74,99 EUR.
ISBN-13: 9783476049063

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