Retromanie: Rekurs auf „1968“
Überall erinnert man sich gerade an „1968“ – aber warum eigentlich?
Von Martina Kopf
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIn Fear and Loathing in Las Vegas beschreibt Hunter S. Thompsons Alter Ego, Raoul Duke, „1968“ pathetisch rückblickend als Ritt auf einem Wellenkamm: „We had all the momentum; we were riding the crest of a high and beautiful wave…“
Dieser nostalgisch beschriebene Ritt auf der Welle macht vor allem das deutlich, was Herbert Marcuse als das „Ende der Utopie“ bezeichnet hat, nämlich die neuen Möglichkeiten in einer Gesellschaft, in der alle materiellen und intellektuellen Kräfte zur Realisierung einer freien Gesellschaft gegeben seien. Voraussetzung für diese neuen Möglichkeiten ist ein Bruch mit dem geschichtlichen Kontinuum, so Marcuse. Diese für die 1968er Jahre charakteristische Hoffnung muss in der Tat berauschend gewesen sein – wie eben ein Ritt auf einem Wellenkamm. Doch rückblickend muss man wohl auch von einer „Utopie vom Ende der Utopie“ sprechen, denn auf den Wellenritt folgt, was folgen muss, die Welle bricht, wie auch Raoul Duke festhält: „So now, less than five years later, you can go up on a steep hill in Las Vegas and look West, and with the right kind of eyes you can almost see the high-water mark – that place where the wave finally broke and rolled back.”
Auf das Vorwärtsgerichtetsein folgt ein Rückwärtsgerichtetsein: Der Traum vom endlosen Wellenritt, vom ewigen Ende der Utopie, ist wohl ein zentrales Charakteristikum von „1968“, ebenso wie auch die später einsetzende Desillusion am Ende der 1968er Jahre. Und kurz zur Erläuterung vorab: Wenn von 1968 die Rede ist, ist damit schlicht die Jahreszahl gemeint. Wenn dagegen die Jahreszahl in Anführungszeichen steht, ist eher der symbolische Gehalt gemeint, also das, was mit der Jahreszahl assoziiert wird (vgl. Nassehi) und das lässt sich selbstverständlich nicht auf ein Jahr reduzieren. Somit ist es also passender, wenn man 1968 in den Plural setzt („die 1968er Jahre“), wie es im französischen Begriff „les années 68“ geschieht (vgl. Siegfried).
Wie die Nostalgie-Forscherin Swetlana Boym feststellt, war es genau in den 1960er Jahren, dass es zu dem von Hunter S. Thompson angedeuteten Paradigmenwechsel kam, nämlich von einem optimistischen Glauben in die Zukunft zur Desillusionierung und damit einhergehender Nostalgie: „By the twenty-first century, the passing ailment turned into the incurable modern condition. The twentieth century began with a futuristic utopia and ended with nostalgia. Optimistic belief in the future was discarded like an outmoded spaceship sometime in the 1960s. Nostalgia itself has a utopian dimension, only it is no longer directed toward the future.“ Nostalgie ist für Boym auch eine Konsequenz revolutionärer Umbrüche: Es ist die Sehnsucht nach einer Vergangenheit, die unwiederbringlich vorüber und verloren ist, die Sehnsucht nach Kontinuität in einer fragmentierten Welt. Nostalgie wäre damit ein post-„1968“er Phänomen.
Wenn es in den 1960er Jahren also tatsächlich zu der von Boym beschriebenen Umbruchphase kommt, ist es umso interessanter, dass auf „1968“ bereits kurz nach den 1968er Jahren selbst Rekurs genommen wird, dass „1968“ also zum Gegenstand von Nostalgie wird, wie in Hunter S. Thompsons 1971 erschienenem Roman. Die 1968er Jahre scheinen einmalig zu sein, denn „kein Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute ist stärker durch Dynamik, Gestaltungswillen und die ‚Utopie der Machbarkeit‘ geprägt als die 60er“ (Hattstein; Marx) und auf kaum ein Jahrzehnt wird vermutlich vergleichsweise so häufig rekurriert, so dass man buchstäblich von einer regelrechten Retromanie sprechen kann. Wirft man einen Blick auf die neue Forschungsliteratur zu „1968“, wie dies im Folgenden getan werden soll, so zeigt sich, dass der Rekurs auf „1968“ nicht nur Thema ist, sondern dass versucht wird, diesen Rekurs zu begründen.
Bestes Beispiel für einen bewussten Rekurs ist vermutlich die Popkultur, deren Wiederaufnahme in eine geradezu allgegenwärtig gewordene ästhetische Form unmittelbar damit zusammenhängt, dass die Rezeption entscheidender werde als die Produktion, so Armin Nassehi. Schon in den 1970er Jahren etablierte sich das Genre der sogenannten Neo-Psychedelia. Und „neo-psychedelisch“ scheint bis heute ein beliebtes Attribut für rückwärtsgewandte Bands wie zum Beispiel „Allah-Las“ oder „Mystic Braves“. Laut des Musikjournalisten Simon Reynolds leben wir in einem „pop age gone loco for retro“. Statt Pionieren produziere unsere Zeit Retromanen und diese orientieren sich an der popkulturellen Gegenkultur der 1968er Jahren. So recycelt die australische Band „Tame Impala“ nicht nur musikalisch den Zeitgeist der 1968er Jahre, sondern thematisiert – vielleicht mit einer gewissen Selbstironie – den von Boym beschriebenen zentralen Paradigmenwechsel der 1968er Jahre – weg von der futuristischen Utopie, hin zur Rückwärtsgewandtheit, zur Nostalgie, zu der man buchstäblich verdammt scheint, wie auf dem Album „Lonerism“ (2012) zu hören ist: „It feels like I only go backwards, baby / Every part of me says go ahead / I’ve got my hopes up again oh no, not again / Feels like we only go backwards“.
Zu dieser Thematisierung der Rückwärtsgewandtheit und dem expliziten Bezug auf die 1968er Jahre, nicht immer musikalisch, kommt es schon bereits bei Bands der frühen 1970er Jahre wie Devo, deren Name (abgeleitet von Devolution) sich auf die historische Situation der USA Ende der 60er Jahre bezieht. Laut Devo entwickelt sich der Mensch zurück, wird wieder zum Einzeller. Auslöser für diese Theorie einer Devolution war die Gewalt während einer Demonstration gegen den Vietnamkrieg am 4. Mai 1970, als vier Studenten von der Nationalgarde erschossen wurden – Neil Young hat dieses Ereignis in seinem Song „Ohio“ verewigt. Der Co-Gründer von Devo, Gerald Casale, soll wohl gesagt haben: „Ich hörte unmittelbar danach auf, ein Hippie zu sein. Ich meine: Die Polizei ballerte in eine fliehende Menschenmenge. Ich fühlte mich wirklich angepisst und entwickelte die Theorie der Devolution.“ Die Gründung der Band in Ohio 1972 kann also als expliziter Rekurs auf das Ende der 1968er Jahre betrachtet werden. Das Ende der 1968er Jahre wird hier zur thematischen Referenz, jedoch mit der Konsequenz musikalischer Innovation – New Wave als Abkehr von etablierten Rock-Ausprägungen.
Armin Nassehi: Pop, Dauerreflexion, Dauermoralisierung und die Neue Rechte
Wenn man von Nostalgie und Retromanie spricht, ist man schnell bei einer unmittelbar daran anschließenden Frage angelangt, die in der Fülle der Forschungsliteratur zu „1968“ immer wieder gestellt wird, nämlich die Frage nach dem Erbe von „1968“, konkret: „Was bleibt von 1968?“. Armin Nassehi hat darauf ein paar erhellende Antworten gefunden. Der Münchner Soziologe und neue Herausgeber des Kursbuchs stellt in seiner Untersuchung Gab es 1968? Eine Spurensuche fest, dass der Rekurs auf die Chiffre oder das „Mythologem 68“ oder die „Adressierbarkeit als ‚1968‘“ eine gegenwartsbezogene Funktion habe. „1968“ sei ein „Erinnerungsgenerator“, doch welches Problem soll überhaupt mit dem Rekurs auf „1968“ gelöst werden? Wichtig ist es, „1968“ tatsächlich als Mythos oder Chiffre zu betrachten, als eine Art Assoziationsgebilde und eben nicht nur als historisches Ereignis. „1968“ ist keine „klar definierbare Kategorie, sondern eher eine Unschärfeformel zur Vereinheitlichung eines schwer fassbaren Ganzen“ (Siegfried). Mit der Chiffre „1968“ verbinden wir laut Nassehi vor allem eine Generalinklusion und Chancengleichheit, Demokratisierungserfahrungen, Individualisierung, eine Pluralisierung von Möglichkeiten und Emanzipation des Neuen.
Auch das Verständnis der ‚Neuen Rechten‘, insbesondere ihres aktionistischen Zweiges, komme kaum mehr ohne den Rekurs auf „1968“ aus. Man denke an die Äußerung Jörg Meuthens, der erklärte, man wolle „weg vom links-rot-grün verseuchten 68er-Deutschland, von dem wir die Nase voll haben“ oder auch an den Richtungswechsel von zentralen 68er Protagonisten wie Bernd Rabehl oder Horst Mahler von links nach rechts. Wie Thomas Wagner erklärt – auf den sich Nassehi bezieht –, werden die 68er zu „Lehrmeistern der Neuen Rechten“, auf deren Sprüche, Aktionsformen und Provokationen mit dem Ziel zurückgegriffen wird, dass ein verunsicherter Staat überreagiere und sich damit als repressives Regime entlarve.
Als Bleibendes betrachtet Nassehi neben Dauerreflexion und Dauermoralisierung außerdem Pop. Popkultur erweise sich als eine „höchst inklusive“ Veranstaltung, da die gesamte Gesellschaft mit einem „Klangteppich“ überzogen werde, den es vorher in dieser Form nicht gab. Pop versöhne Kapitalismuskritik und Konsumbereitschaft und habe eine Entlastungsfunktion: „Pop, so die These, war gewissermaßen der Ausweg aus dem Theoriehabitus in einen Pophabitus, der nach anderen Regeln funktioniert. Pop hatte das Potenzial, die Dauerreflexion zu unterbrechen und doch subversiv zu sein, die Dauermoralisierung zu unterbrechen und doch gegenkulturell zu sein, das Argumentieren zu unterbrechen und doch Entscheidungen zu generieren.“
Und nicht zuletzt ist 1968 „das Ergebnis einer impliziten linken gesellschaftlichen Evolution, die erst die konsequenzfreie Rede von der explizit linken Revolution möglich gemacht hat.“
Bini Adamczak: Revolution, Neue Linke, Geschlechterverhältnisse und Solidarität
Über Revolutionen lernt man vielleicht besonders viel, wenn man sie miteinander in Beziehung setzt. Auch Bini Adamczak verbindet 1968 vor allem mit der Neuen Linken, die zu einer Art Prisma wird, durch das wir auf 1917 blicken. In Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende setzt sie 1917 und 1968 vor dem Hintergrund der Französischen Revolution in Beziehung und untersucht den revolutionären Konstruktionsprozess unter dem Aspekt der Geschlechterverhältnisse. 1968 setze keine generelle Feminisierung ein, sondern eine differentielle Feminisierung: Die Weiblichkeit werde dominanter als sie es vorher gewesen sei und aus den Bereichen des Konsums und der Reproduktion, wie Hausarbeit, wo sie vorher eingeschlossen war, gelange sie in die Bereiche der Öffentlichkeit.
Wie Adamczak in einem Interview mit dem „Freitag“ erklärt, gelang es zwar bei den weltweiten Revolutionen um 1968 in keinem Land die Regierung zu stürzen, da sie Konterrevolution oder den Kräften des bestehenden unterliege, doch trotzdem sei sie sehr erfolgreich gewesen, da sie Gesellschaft transformiert habe. Adamczak schlägt vor, „die emanzipatorische Revolution nicht als Machterringung, sondern als sozialen Transformationsprozess zu konzipieren, in dessen Zentrum nicht die Destruktion der herrschenden Gesellschaft steht, sondern die Konstruktion einer herrschaftsfreien.“. Der Rekurs auf 1968 bringt aber vor allem eines zum Ausdruck: Das Begehren nach Solidarität. Um in einer postrevolutionären Gesellschaft wirken zu können, darf die Erfahrung der Solidarität nicht auf den Kampf beschränkt bleiben.
Wolfgang Kraushaar: Massenmedien und Protest
Auch Wolfgang Kraushaar legt zum 68er Jubiläum ein neues Buch vor, das sich jedoch auf ältere Publikationen stützt und wie im Titel bereits angedeutet, auf die „blinden Flecken der 68er Bewegung“ fokussiert. Die 68er-Revolte war selbstverständlich auch eine Medienrevolte. Kraushaar betont, dass die Beziehung zwischen der 1968er-Bewegung und den Massenmedien für beide Seiten bedeutend war. Als eine wesentliche Folge der 68er- Bewegung betrachtet er den Umgang der Massenmedien mit Protestereignissen: „Der Protest als ein vitales Element des Politischen hat sich mit den 1968 ausgelösten Turbulenzen durchsetzen und seitdem dauerhaft etablieren können. Indem der Protest vieles von seiner ursprünglichen Anstößigkeit verlor, ist er zugleich zu einem integrativen Faktor der parlamentarischen Demokratie geworden.“
Proteste gab es wie Revolutionen selbstverständlich schon lange vor 1968, doch die mediale Platzierung, die Funktionalisierung der Rebellen durch die Medien und die Funktionalisierung der Medien durch die Rebellen – das war neu: „Eine der wesentlichsten Folgen der 68er-Bewegung für die Massenmedien besteht allerdings darin, dass Protestereignisse sehr viel selbstverständlicher Gegenstand öffentlicher Berichterstattung geworden sind.“ Wenn wir heute also wie selbstverständlich die mediale Berichterstattung über Proteste auf der ganzen Welt verfolgen, ist das auch ein Erbe von „1968“.
Bestimmt ließen sich noch mehr Aspekte aufzählen, die einen bewussten oder unbewussten Rekurs auf „1968“ veranschaulichen und auch die Frage nach dem „warum“ scheint nicht wirklich geklärt. Doch nicht umsonst handelt es sich bei „1968“ um eine Chiffre und um einen Mythos – und an diesem wird man auch noch nach den 50 Jahren nach 1968 arbeiten.
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz
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