Jugendbild mit Triebtäter

Marieke Lucas Rijnevelds zweiter Roman „Mein kleines Prachttier“ schließt radikaler und poetischer an das Debüt an

Von Thomas MerklingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Merklinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Marieke Lucas Rijneveld ist völlig zu Recht der neue Shootingstar der niederländischen Literatur. In ihrem Debütroman De avond is ongemak (Was man sät) erzählt sie aus der kindlichen Perspektive der namenlos bleibenden, lediglich „Jas“ (Jacke) genannten Ich-Erzählerin, wie der Tod des Bruders beim Schlittschuhlaufen das familiäre Gefüge zum Einsturz bringt und eine Atmosphäre von Schuld, Trauer und Vernachlässigung schafft, die sich mit dem sexuellen Erwachen der verbliebenen Kinder verbindet. Zusammen mit ihrer englischen Übersetzerin Michele Hutchison gewinnt Rijneveld damit den International Booker Prize und erlangt innerhalb der Literaturszene weltweite Bekanntheit. Während in diesen Tagen ungarische, rumänische und norwegische Übersetzungen ihres Erstlings erscheinen, liegt die deutsche Ausgabe ihres zweiten Romans Mijn lieve gunsteling (2020) vor.

Mein kleines Prachttier bleibt in der Welt des nordbrabantischen Milchhofes, der ebenfalls vom Tod eines Kindes überschattet ist, verändert nur wenige Details der Figurenanlage und schließt ansonsten in Vielem an den Vorgängerroman an, ist dabei aber radikaler, poetischer und verstörender. Der Tod des Jungen liegt hier weiter in der Vergangenheit. Ein Auto hat den Dreijährigen erfasst und getötet. In der Folge zerbricht die Familie, der Vater zieht sich zurück und überlässt seinen anderen Sohn und die 14-jährige Tochter sich selbst. Die Mutter hat den Hof verlassen (über den genauen Hergang gibt es keine Informationen, möglicherweise ist sie auch gestorben) und lebt in der Fantasie der Tochter in Stavanger oder – hier steht der hoffnungsvolle Klang Pate – in Motherwell, vielleicht aber auch in London als Nachbarin von Kate Bush. „Der Verlorene“ und „die Verlassene“ sind in ihrer aufgeladenen Abwesenheit präsent und prägen das Leben der Zurückgebliebenen.

Aus der Welt des Debütromans entstammt neben dem Hof und seinen Bewohnern auch der Tierarzt, der in beiden Büchern die Nachricht vom Tod des Bruders überbringt. Ist ihm in Was man sät nur eine Nebenrolle beschieden, steigt er nun zum Erzähler auf. Der 12-jährigen Jas flüstert er zu, was für ein hübsches Mädchen sie doch sei, der 14-jährigen Teenagerin schließlich nähert er sich in eindeutiger Absicht. Der zweite Roman präsentiert eine retrospektive Niederschrift seines Verlangens in deutlicher Humbert-Humbert-Manier. Die Heranwachsende himmelt er in lyrischen Kapiteln an, er begehrt ihren „nymphenhaften Leib“ und adressiert sie als seine „Angebetete“, seinen „Putto“, sein „Prachttier“. Die Anlehnung an Vladimir Nabokovs Lolita ist deutlich und äußert sich nicht nur in direkten Textverweisen („du warst das Feuer meiner Lenden“), sondern auch in der strukturellen Anlage des Romans.

In langen, mäandernden, an seinen „Augenstern“ gerichteten Sätzen rekapituliert der 49-jährige Veterinär die Beziehung zu der jungen Bauerntochter im Sommer 2005, die zuletzt auch nicht verborgen bleibt. Es ist die Rede von einem Prozess, Zeitungsberichten und einer diffusen, als „Magistrate“ bezeichneten Rechtfertigungsinstanz, die sich immer wieder in den Text mischt, ohne genauer konturiert zu sein. Dennoch sind die Aufzeichnungen kein Versuch, in klebrig-süßen Worten das Geschehene zu rechtfertigen oder zu rationalisieren. Sie verhehlen nicht, wie er sich in triebhafter Obsession in das Leben des Mädchens wanzt und schrittweise daran arbeitet, sein Ziel zu erreichen: „Ich kroch langsam unter deine Haut, wie ein Leberegel in ein Rind“. Mit der Lektüre taucht man in die Psyche eines Triebtäters, der in drastischer Deutlichkeit alle Einzelheiten seines Missbrauchs schildert. Das geht auch beim Lesen unter die Haut.  

Auch wenn der Tierarzt als innerlich zerrissene, differenzierte Persönlichkeit erscheint, die zwischen echter Sehnsucht und selbstverachtender Begierde schwankt, ist das eigentliche Thema des Romans die namenlose Jugendliche und ihre Entwicklung innerhalb des toxisch-calvinistischen Mikrokosmos, der den elterlichen Hof nun stärker transzendiert und sich zu „The Village“ erweitert. Über die Mädchenfigur schließt der Roman an den Vorgänger an und bildet eine innere Einheit. Dass die Erzählperspektive dafür im Vergleich zum Vorgängerroman wechselt, ist ebenso radikal wie konsequent. Die Innensicht der Heranwachsenden wäre zur bloßen Wiederholung verkommen, und dennoch bedurfte es eines teilnahmsvollen Blicks von außen. Dass dafür offenbar nur ein pädosexueller Triebtäter in Frage kommt, verstärkt die abgründige Dysfunktionalität der Romanwelt, wie sie in der ambivalenten Gestalt des Tierarztes zusammengezogen ist. Er ist nicht nur selbst durch seine Mutter ein Opfer der erzählten Lebenswelt, sondern zugleich die reale Personifikation der prägenden Umstände des Mädchens, das er auf dem Hof und in seinen Aufzeichnungen umkreist und „vielleicht deswegen so liebte, weil du durch meine Schuld beschädigt seist“.

Für den Tierarzt ist die 14-Jährige „dieses weise Wesen, das zugleich in einer Fantasiewelt lebte, das wie ein Haubentaucher in eine Ölschicht geraten war“. Dahinein taucht auch der Arzt ein. Es scheint, als stehe ihm dafür nicht nur seine Erinnerung zur Verfügung, sondern auch das Tagebuch des Mädchens, das Teil des Prozesses gegen ihn ist. In jedem Fall ergibt sich aus den an sie gerichteten Kapiteln ein intimes Bild der Angebeteten. Während die Teenagerin den älteren Mann zu seinem Missfallen bis in ihre Diarieneinträge siezt und mit „Herr“ anredet – nur manchmal verwendet sie den Vornamen „Kurt“, mit dem sie ihn in Anlehnung an Kurt Cobain getauft hat –, weiß er um ihre Innenwelt, kennt ihre Träume, Ängste, Schuldgefühle und inneren Ambivalenzen. So erhält man tiefe Einblicke in den Kopf der zwischen Kind und Teenagerin schwankenden trauma- und komplexbeladenen Heranwachsenden. Gleichzeitig gibt es aber auch Bereiche, die entzogen bleiben. Trotz der detaillierten Darstellung der Gedanken- und Gefühlswelt seines „Augensterns“ ist sie doch stets durch den Erzähler gefiltert, scheint auch selbst in dieser Darstellung manchmal abwesend und es lassen sich immer wieder Versuche erkennen, sich zu entziehen.

Der Hof und das umliegende Dorf, „The Village“ genannt, weisen eine ungesunde, bigotte, seltsam moralfreie Atmosphäre auf, so dass das Mädchen sich selbst überlassen halb in einer weitgehend willkürlichen Welt ohne klare moralische Justierung, halb in ihrer Fantasie lebt. Von den Erwachsenen zeigt sich allein die Mutter einer Freundin schockiert, als sie von einem Kuss des Tierarztes erzählt, ansonsten fehlt jegliche erzieherische Führung: der Vater ist mit den eigenen Problemen beschäftigt und das Tierarztehepaar – die Frau ist zugleich ihre Lehrerin – sehen sie einerseits als Objekt der Begierde, andererseits als durchtrieben-verführerischen home-wrecker.

Diese dysfunktionale Welt voller Schuldgefühle strahlt dann auch auf die Gedanken der Heranwachsenden ab und äußert sich unter anderem in ambivalenten Fluchtfantasien. Sie imaginiert, ein Flugzeug zu sein und hat die schuldhafte Vorstellung, dabei am 11. September 2001 ins World Trade Center gestürzt zu sein. Andererseits träumt sie davon, mit Macaulay Culkin auf den Spuren von Kevin – Allein in New York durch die Stadt zu laufen. Aufgrund ihres Geburtstages – dem 20. April – fühlt sie sich geistig mit Hitler verbunden, der sie imaginär in ihrem Zimmer besucht. Um eine Balance zu schaffen, stellt sie ihm Freud zur Seite, die nun beide in ihren Gedanken Gespräche führen. Selbstverletzendes Verhalten wechselt sich mit Größenvorstellungen von Ruhm ab und es ist ihr immer klar, dass sie den Hof verlassen wird, um berühmt zu werden. Für die kleinen Fluchten hat sie ein stets gepacktes „Drohköfferchen“, das sie sich greift, wenn es ihr zu viel wird. Diese Ausreißversuche sind noch symbolisch und enden am Deich, wo sie der Vater abholt, nehmen aber bereits vorweg, dass sie nicht bleiben wird.

Mit der Pubertät schwankt oder „irrlichtert“ die Teenagerin aber nicht nur innerhalb der Welt und ihrer Entwicklung, sondern auch zwischen Mädchen und Junge. Bereits in Was man sät findet sich eine „Faszination für Pimmel“. In Mein kleines Prachttier wird dieser Nebenstrang weiter entfaltet und kleidet sich in die Metaphorik des ‚Jungsgeweihs‘, die der von „Kurt“ vorgeschlagenen Lektüre Lieve Jongens von Gerard Reve entstammt. Dabei steht jedoch nicht primär die erotische Auseinandersetzung mit dem anderen Geschlecht der „dear boys“ im Mittelpunkt, sondern vielmehr der Wunsch, selbst in den Besitz eines männlichen Geschlechtsteils zu gelangen. Man darf das möglicherweise als Ausdruck einer non-binären Geschlechtsidentität lesen, die sich langsam bemerkbar macht. So zumindest stellt es sich für „Kurt“ dar.

Auf der Gegenwartsebene des Romans zeugt zuletzt das Musikalbum Kurt12 (die Zwölf verweist auf das Aktenzeichen der Strafsache) der nun erwachsen Gewordenen vom gelungenen Absprung wie einer künstlerischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit – ein Faktum, das man für die Autorin des Romans mitlesen darf, die in vielen Aspekten auf ihre eigene Biografie zurückgreift und sie fiktionalisiert. Das gilt nicht nur für die eigene Zwischenstellung zwischen den Geschlechtern, die sie durch den selbstgewählten Namenszusatz „Lucas“ markiert – wobei sie im Niederländischen (und Deutschen) aufgrund fehlender Alternativen weibliche Formen verwendet –, sondern auch für andere Momente, wie aus einer Begegnung mit Ilka Piepgras hervorgeht.

Sprachlich artifizieller als in ihrem Debüt verbinden die langen, absatzlosen Satzkaskaden unter anderem Archaismen, biblische und literarische Kontexte sowie veterinärmedizinisches Fachvokabular und ziehen sie zu sprachlichen Bildern von spröde schillernder Schönheit zusammen, die in scharfem Kontrast zur inhaltlichen Abgründigkeit stehen. Dabei stellt sich die an der Originalfassung gerühmte Sogwirkung des Textes auch in der deutschen Übertragung von Helga van Beuningen ein, die in diesem Jahr – für Was man sät und ihr Gesamtwerk – mit dem Straelener Übersetzerpreis ausgezeichnet worden ist.

Mit Mein kleines Prachttier hat Rijneveld einen hochpoetischen Roman geschrieben, der mit schonungsloser Eleganz eine Jugend erzählt, die gleichermaßen die ihre ist und wiederum nicht. Damit schließt sie an ihr Debüt an und führt ihr Thema kunstvoller und radikaler fort.

Titelbild

Marieke Lucas Rijneveld: Mein kleines Prachttier.
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
364 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783518430255

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