Französisches Deutsch
Die Rehabilitierung des syllabischen Versmaßes in Rimbauds „Korrespondenz“
Von Maximilian Huschke
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWenigen Dichtern mit schmalem Werk wurde posthum so viel Aufmerksamkeit zuteil wie Arthur Rimbaud. Der Einfluss, den sein Werk und seine Figur auf die moderne Literatur des 20. Jahrhunderts hatten, kann kaum überschätzt werden. Was mit ihm in Zusammenhang stand, wird heute zu horrenden Preisen verkauft. Zuletzt hat der Revolver Paul Verlaines, mit dem er 1873 auf Rimbaud schoss, gegen eine Summe von 434.000 Euro den Besitzer gewechselt. Das Geschäft mit dem Mythos Rimbaud floriert. Weit verbreitet ist es auch heute noch, in dem frühreifen Dichter zuvorderst dem exzessiven Lebemann und in seinen Gedichten vor allem der vermeintlich rückhaltlosen Hingabe ans Traumhafte und Unbewusste zu huldigen. Mit welcher Präzision und Belesenheit Rimbaud seine Gedichte aus seiner Zeit heraus (und das heißt vor allem: aus der der Pariser Kommune) entstehen und auf sie antworten ließ, geht dabei zumeist unter. In gleicher Weise wird man nicht müde, in Rimbauds Abkehr von der Literatur ein „erwachsenes“ Abschwören von den Flausen der Utopie zu gewahren. Gegen diese Mythisierung vorzugehen, ist nur eines der Anliegen der im Matthes und Seitz Verlag in Berlin erschienenen Ausgabe der Korrespondenz Arthur Rimbauds. Indem sie alle Briefe von, an und zahlreiche zu Lebzeiten verfasste Dokumente über Rimbaud veröffentlicht, ermöglicht sie es den Lesern, den Mythos an der historischen Person zu messen, wodurch sich ersterer als unhaltbar erweisen wird, darin sind sich die Herausgeber sicher.
Dass es sich jedoch bei der Edition nicht um eine bloße Briefausgabe handelt, die die Regale der Experten und des geneigten Publikums mit biographischem Material füllt, zeigt sich bereits an der Vielzahl der enthaltenen Gedichte. Die Texte, die Rimbaud in Briefen verschickte, stellen zusammen mit den zu Lebzeiten veröffentlichten, die vom Übersetzer und Herausgeber der deutschen Ausgabe Tim Trzaskalik ergänzt wurden, über 90 Prozent des literarischen Werkes dar. Der quantitative wie qualitative Umfang einer Ausgabe der Briefe wird so weit überschritten. In der vorliegenden Ausgabe befinden sich nicht nur die frühen Gedichte, die Rimbaud an Verleger, Dichter und seinen Lehrer Izambard schickte, sondern auch die später in die Sammlung Paul Verlaines Die verfemten Dichter aufgenommenen. Letztere stehen wegen der chronologischen Gliederung schroff neben der geschäftlichen Korrespondenz des Waffenhändlers Rimbaud; die „Gewalt des kalendarischen Zusammenhangs“ werde unmittelbar erkennbar, so Trzaskalik in seiner Einleitung. Könnte diese historische Gewalt noch den Mythos des jungen Dichters, der sich brachial von der Dichtung verabschiedet, bestärken, weil das harsche Nebeneinander beider Leben des Arthur Rimbaud als Verifikation der These vom Bruch mit der dichterischen Utopie gelesen werden könnte, wirken der Mythenbildung besonders die umfangreichen Anmerkungen im begleitenden Kommentarband entgegen. Immer wieder weisen Jean-Jacques Lefrère, der Herausgeber der französischen Ausgabe, und Trzaskalik entweder unmittelbar oder durch weiterführende Angaben auf Rimbauds Verhältnis zur Literatur seiner Zeit hin, z.B. zu den Werken Victor Hugos oder Théodore de Banvilles, und begleiten diese Hinweise oftmals mit ausführlichen Deutungen. Allein der Umfang des Anmerkungsbandes von knapp 600 Seiten mag einen Eindruck von der Arbeit geben, die sich dabei gemacht wurde. So findet sich in der Anmerkung zu dem frühen Gedicht Ophélie ein Verweis auf den Artikel des Übersetzers Die Mausefalle oder was Rimbaud über Banvilles Opheleien sagt in der Zeitschrift Kultur und Gespenster, in dem ausgiebig auf die Differenz von ‚Ophélie‘ und ‚Ophelia‘ eingegangen wird, die anders als in bisherigen Übersetzungen ins Deutsche übertragen wurde. Die Feststellung erübrigt sich, dass eine adäquate Lektüre des Gedichts ohne diese Unterscheidung unmöglich ist, da es – so viel kann wohl gesagt werden – gerade keine weitere Reproduktion des traditionellen Ophelia-Stoffes ist.
Doch nicht nur hinsichtlich der Treue zum Wort stellt sich wie bei jeder Übersetzung die Frage, worauf zu achten sei. Der Anspruch, alles bis ins Feinste hinein zu übertragen, ist so naheliegend wie illusionär. Doch auch das Wesentliche eines Gedichts auszuwählen, dürfte mindestens ein risikoreiches Unterfangen sein, ist diese Bestimmung doch äußerst folgenreich – immerhin präfiguriert sie die Lektüre aller Leser dieser Ausgabe. In der Einleitung wird auf die außergewöhnliche Bedeutung von Rimbauds Umgang mit der klassischen Metrik hingewiesen. Hält er sich in den frühen Gedichten noch an ihre Regeln, verstößt er dann immer öfter gegen sie, um sie schließlich beinahe völlig von innen heraus zu zerlegen. Der französische Alexandriner, in dem Rimbaud mehrheitlich schreibt, besteht aus zwölf Silben mit einer Zäsur in der Mitte, die zwei Sinneinheiten eines Verses voneinander teilt. Demnach darf sie nicht innerhalb eines Wortes liegen und es war verpönt, dass der vordere ‚Halbvers‘ auf eine Präposition, einen Artikel oder ein weibliches „e“ endete. In der deutschen Dichtung wiederum, die seit Martin Opitz auf einem qualitativen, d.h. akzentuierenden Versmaß beruht, das mit Hebungen und Senkungen arbeitet, sind rein syllabisch organisierte Gedichte seit Opitz‘ Buch von der Deutschen Poeterey (1624) unüblich. Indem in der vorliegenden Ausgabe die metrische Form als maßgebliche sinnstiftende Eigenschaft der Dichtung Rimbauds und die Sprengung der metrischen Enge in ihrer Chronologie sichtbar gemacht werden, ermöglicht die Edition zum ersten Mal eine angemessene Lektüre der Gedichte im Deutschen. So wird gleich in einem der ersten Gedichte des Bandes, Credo in Unam…, in dem Vers: „Große Götter-, Menschen-Mutter, o Kybele!“, die „Menschen-Mutter“ von der Zäsur in ihre Bestandteile zerschnitten und so die Rolle des Querstrichs als Verbindungselement in die eines Gedankenstrichs oder einer Trennung verwandelt. Würde hier rein inhaltlich übersetzt, ginge diese Bedeutung der Form völlig verloren. Noch gesteigert wird dieses Spiel mit Form und Zäsur in Was heißt uns das, MEIN HERZ, dessen zweiter Vers: „Und aus Glut, die Masse an Morden, das Schreien“ nach dem perfekten Alexandriner im ersten Vers: „Was heißt uns das, MEIN HERZ, die Teppiche aus Blut“ sich völlig gegen die klassische metrische Ordnung sträubt. Im zweiten sei „die Zerstörung des ersten Verses auf dem Fuße“ gefolgt, wie es in der Anmerkung heißt. In den folgenden Versen wiederholt sich dieser gewaltsame Umgang mit der klassischen Form des Alexandriners mehrfach. Ist in „Und auch alle Rache? Nichts!… – Doch, doch, sie heißt all“, dem ersten Vers der zweiten Strophe, der erste Halbvers auch keine Sinneinheit, sondern vielmehr zweigeteilt, fällt die Zäsur wenigstens nicht ins Wort wie im zweiten Vers: In diesem wird kurzerhand der Industrielle vom metrischen Messer der Zäsur entzwei geschnitten: „Unser Wille! Industrieller, Fürst, Senat, / Scheidet dahin!“ Auch wenn klar sein muss, dass die Übersetzung weit mehr fehlerhafte Verse hervorbringen muss als das Original birgt, will sie nicht Form gegen Inhalt ausspielen, verunmöglicht jede Übersetzung, die diese Eigenart der Dichtung nicht im Deutschen sichtbar zu machen versucht, die Lektüre der Gedichte Rimbauds. Es ist ein großes Verdienst der Korrespondenz, diesen Versuch der formal äquivalenten Übersetzung auf jede Gefahr hin unternommen zu haben.
Gleichzeitig ergibt sich mit dieser Übersetzung unter Beibehaltung des syllabischen Versmaßes eine bemerkenswerte Reibungsfläche für das gewöhnlich auf Hebung und Senkung hinhörende deutschsprachige Publikum. Während es für ein an Klopstock, Goethe und besonders Hölderlin geschultes Ohr zunächst merkwürdig unharmonisch klingen muss, zwängt das syllabische Versmaß einem Leser freier Rhythmen und Metren schon rein graphisch den Blick in immer gleiche Grenzen. Gerade die Lektüre der frühen Gedichte, die die Bildung eines angemessenen Gespürs für die sprachliche Gewalt der späteren erst ermöglicht, fordert so den Zweifel an dem immer noch vorherrschenden Diktum in der Literaturwissenschaft, die deutsche Sprache widerspreche in ihrer Natur dem syllabischen Versmaß. Vielleicht bietet die Ausgabe der Korrespondenz so nicht nur eine enorme Materialfülle zu Rimbaud und seinem Werk, den umfangreichsten bisher zu Rimbaud erschienenen Anmerkungsband und eine treffende Übersetzung der Gedichte, sondern kann auch noch Einfluss auf die Entwicklung der gegenwärtigen deutschen Dichtung nehmen. Denn:
Was wäre im Zusammenhang heutiger Dichtung, die sich gerne postpoetisch gibt, unerhörter als ein von Reim und Kadenz befreiter syllabistischer Vers, der zugleich das Verhältnis von Konkordanz und Diskordanz modifizierte und auf die gesamte Bandbreite diskordanter Modulation zurückgriffe, um Gestaltungsgrundsätze des Verses aus der fremden Sprache im deutschen Vers nachwirken zu lassen?
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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