An der Peripherie des Stalinismus
In seinem Roman „Der Anfang vom Ende“ porträtiert Mark Aldanow Europa vor dem Zweiten Weltkrieg
Von Günter Rinke
Die erstaunlichste Wiederentdeckung dieses Jahres in der Welt der Literatur ist vermutlich der russische Exilautor Mark Aldanow (1886-1957). Dessen Roman Der Anfang vom Ende ist nun erstmals auf Deutsch erschienen, glänzend übersetzt von Andreas Weihe. Erstaunlich an der Wiederentdeckung ist vor allem, dass ein Werk, das der Rowohlt-Verlag zu Recht als „Meisterwerk der Weltliteratur“ bewirbt, überhaupt wiederentdeckt werden musste, weil es, wie sein Autor, seit Jahrzehnten vergessen war.
Geschrieben wurde Der Anfang vom Ende Mitte der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Zuerst erschienen einzelne Kapitel in einer russischen Emigrantenzeitschrift in Paris. Der komplette Roman wurde dann 1943 in den USA unter dem Titel The Fifth Seal publiziert. Die erste russische Ausgabe kam erst 1995 auf den Markt.
Dem Übersetzer Andreas Weihe ist nicht nur der flüssig zu lesende deutsche Text zu verdanken, sondern auch ein sorgfältig erstellter Anmerkungsapparat. Ohne den wäre das umfangreiche Buch vermutlich selbst überdurchschnittlich gebildeten Lesern nur schwer zugänglich, denn der Text ist gespickt mit Anspielungen auf Geschichte, Politik und kulturelles Leben (Literatur, Theater, Oper). Es gibt längere Abschnitte in oft schwierigem Französisch, die allesamt in Fußnoten ins Deutsche übersetzt sind. Darüber hinaus sind dem Band ein aktualisierendes Vorwort des russischen Schriftstellers Sergej Lebedew – er sieht viele Parallelen zwischen dem damaligen und dem heutigen Russland – sowie ein erläuterndes Nachwort zur Person Aldanows und dessen Wirkungsgeschichte beigegeben.
Der in Kiew geborene Mark Aldanow, der einer jüdischen Industriellenfamilie entstammte und mit Nachnamen eigentlich Landau hieß, war von seiner Ausbildung her Chemiker. Zwar wandte er sich schon früh der Schriftstellerei zu, blieb aber sowohl in seiner Art zu beobachten und zu denken als auch was seine Publikationstätigkeit anging der Naturwissenschaft und insbesondere der Chemie ein Leben lang verbunden. Er glaubte, „wenn ein Schriftsteller sich wissenschaftlich betätige, so bereichere dies seine Intuition, schärfe seine Beobachtungsgabe und komme seinen analytischen Fähigkeiten zugute“. (Nachwort von Weihe)
Der Anfang vom Ende kann als experimenteller Roman über den Stalinismus gelesen werden. Seine Versuchsanordnung ist allerdings eine andere als in solchen Werken, die im Zentrum der bolschewistischen Herrschaft angesiedelt sind – etwa Koestlers Sonnenfinsternis (1940), Solschenizyns Der erste Kreis der Hölle (1968/78) oder Eugen Ruges Metropol (2019). Dieser Roman spielt an der Peripherie, nämlich überwiegend in Paris. Seine Leitfrage könnte lauten: Wie weit reicht das Kraftfeld von Stalins Herrschaft, welchen Einfluss übt die bolschewistische Diktatur auf Menschen aus, die sich jenseits der russischen Grenzen, weit entfernt von Moskau aufhalten? Des Weiteren: Welche tieferen Ursachen führen dazu, dass sich im Zeitalter der Weltkriege totalitäre Diktaturen, ob kommunistisch oder faschistisch, etablieren konnten?
Nach Paris sind Mitte der 1930er Jahre drei Abgesandte der Bolschewiki mit mehr oder weniger klaren Aufgaben gereist: der Botschafter Kangarow, der ehemals zaristische Armeegeneral Tamarin und der Komintern-Funktionär mit dem Decknamen Wislicenus. Alle drei sind bereits im fortgeschrittenen Alter um die sechzig und haben daher vorrevolutionäre Zeiten aktiv erlebt. Zuweilen, vor allem in Momenten der Erschöpfung, gestehen sie sich ein, dass sie den Glauben an die positive Kraft des Bolschewismus verloren haben. Aber nicht nur deshalb sind sie im Grunde froh, nicht in Moskau sein zu müssen. Denn sie sind beunruhigt angesichts der von dort kommenden Nachrichten über Schauprozesse, denen auch Genossen zum Opfer fallen, die sie als überzeugte Kommunisten, sogar als Weggefährten Lenins kennen. Zudem wissen sie, dass Stalins Geheimpolizei, die Tscheka, auch im Ausland unterwegs ist, sodass man sich selbst dort seines Lebens nicht sicher sein kann, wenn man in Moskau in Ungnade fällt.
Diese Konstellation reichert Aldanow mit einem Katalysator weiblichen Geschlechts an: Die junge Sekretärin des Botschafters, Nadeschda Iwanowna, genannt Nadja, verdreht den drei Herren gehörig den Kopf und bringt bis dahin uneingestandene Seiten ihres Wesens zum Vorschein. Bei Kangarow geht die Leidenschaft so weit, dass er sich von seiner Frau scheiden lassen und Nadja heiraten will, ganz gleich, ob die Moskauer Parteizentrale dieses Verhalten gutheißen wird oder nicht. Mit dem General Tamarin geht Nadja in ein von russischen Emigranten, also eigentlich ‚Weißgardisten‘, betriebenes Restaurant essen, wo er mit einer gewissen Wehmut an den Wänden Bilder alter Armeekameraden aus zaristischer Zeit hängen sieht. Wislicenus wird von Nadja zum Arzt geschickt und erfährt so von seiner wohl nicht nur physisch bedingten schweren Angina pectoris. Er fällt ausgerechnet in dem Moment einem Anschlag zum Opfer, als er Nadja auf dem Land besuchen will.
Eine weitere Hauptfigur ist der französische Schriftsteller Louis Étienne Vermandois, der noch von vergangenem Ruhm zehrt, jetzt aber Misserfolge verkraften muss. Mit ihm zieht Aldanow seinem Roman eine weitere Ebene ein, auf der die Epoche als eine des Werte- und Kulturverlusts reflektiert wird. Zu Empfängen wird Vermandois noch eingeladen und darf dort mit seiner immensen Bildung und seinem unerschöpflichen Schatz an Zitaten die besseren Kreise unterhalten. Er, dessen finanzielle Mittel begrenzt sind, hasst diese Menschen mit ihrem Reichtum und ihrer Blasiertheit und sympathisiert halbherzig mit dem Bolschewismus. Andererseits gesteht er sich ein, dass ihm die Armen ziemlich egal sind. Er fühlt sich als ein Mann des 19. Jahrhunderts, das unwiderruflich vorbei ist. Eine Ergebenheitsadresse an Stalin zu unterzeichnen, damit in Moskau eine Ausgabe seiner Werke erscheinen kann, weigert sich dieser alternde Geistesmensch strikt.
Damit erweist er sich als Kontrastfigur zu Nadja, die ihrem Sekretärinnendasein zu entkommen versucht, indem sie Schriftstellerin wird. Ihre erste Erzählung kann sie, auch dank guter Verbindungen in Moskau, in einer Zeitschrift unterbringen. Den Plot und die Figuren hat sie so konstruiert, dass der Text den Kulturfunktionären als ideologisch wertvoll erscheinen muss. Den Schritt in die Unabhängigkeit vom Dienst bei Kangarow und die Befreiung von dessen Zudringlichkeiten erkauft sie sich also mit der Unterwerfung unter ideologische Vorgaben. Die Annehmlichkeiten des Pariser Lebens hat sie durchaus genossen, allerdings nicht ohne pflichtgemäß zu betonen, in Moskau sei doch alles besser.
Die junge Generation kommt in dem Roman nicht gut weg. Der zweite Vertreter dieser Generation nach Nadja ist Vermandoisʼ Sekretär, der als Ausländer geltende Alvera, der nebenbei schlecht bezahlte Kopistenarbeit erledigt. Es ist aber nicht eigentlich materielle Not, die ihn dazu bringt, einen Mordplan zu schmieden. Minutiös bereitet er es vor, seinen zweiten Arbeitgeber zu erschießen. Diese sich verselbständigende Geschichte ist offensichtlich als Parallele zur Raskolnikoff-Handlung in Dostejewskis Roman Verbrechen und Strafe angelegt. Allerdings spielen Gewissensbisse, Reue und Sühne bei Aldanow absolut keine Rolle. Alvera plant einen „wissenschaftlichen Mord“, bei dem er alle Randbedingungen zu kalkulieren versucht. Durch Zufälle und momentane Kopflosigkeit des Täters geht der Plan aber schief. Vor Gericht erlebt die fassungslose Mitwelt den Mörder als abgestumpft und am Ausgang des Prozesses desinteressiert, obwohl ihm die Guillotine droht.
Was ist für die Zukunft noch zu erwarten, wenn solches in der Gegenwart geschieht und darüber hinaus ein weiterer Weltkrieg schon in Sicht ist? Ein Rezeptionshindernis für diesen Roman dürfte darin zu suchen sein, dass Aldanow ein Zeitalter des Bösen gekommen sieht, für das er Stalinismus und Faschismus gleichermaßen als prägend ansieht. An einer Stelle fühlt man sich gar an Ernst Nolte und den deutschen Historikerstreit erinnert, als Vermandois denkt: „Hitler ist nur ihr Schüler!“ (mit „ihr“ sind die Bolschewisten gemeint). An anderer Stelle ist von den Diktatoren die Rede, die sich nur durch die Größe ihrer Schnurrbärte unterscheiden würden. Die sogenannte „Totalitarismusthese“ war immer umstritten und wurde vor allem von linken Theoretikern vehement abgelehnt. Zu berücksichtigen ist aber Aldanows persönliche Betroffenheit, erst vom Stalinismus, dann vom deutschen Nationalsozialismus, vor dem er später in die USA fliehen musste. Im Roman fragt sich Wislicenus, ob er gerade von Tschekisten oder von Gestapo-Leuten beschattet wird.
Sah Aldanow irgendwelche Gegenkräfte gegen „das Böse“? Diese Frage muss verneint werden. Es ist beeindruckend, wie Wislicenus in seinen Reflexionen über sein Wirken als Revolutionär zu dem Schluss kommt, das moralische Kapital der Bolschewiki sei längst verbraucht:
Restlos verlogen war erst die Zeit nach Iljitschs Tod, als das persönliche, über Jahre angehäufte Kapital an Anständigkeit, Glauben und Überzeugungen nach den ersten blutigen Jahren schon fast vollständig aufgebraucht war, während wir weiter ständig von der Fackel sprachen, von der lichten Zukunft, vom revolutionären Aufbruch, von einer Welt in Flammen und Ähnlichem. Trotzki glaubt das bis zum heutigen Tag oder er versucht, mit Rücksicht auf seinen Biografen, den Anschein zu erwecken, dass er daran glaubt.
Und das alte Europa, die westlichen Demokratien England und Frankreich? Halbherzig und unzureichend unterstützen sie mit Waffenlieferungen die Volksfront in Spanien, die den Bürgerkrieg nicht gewinnen kann – davon überzeugt sich Tamarin vor Ort und kommt dabei ums Leben. Kulturell sind diese Demokratien traditionsvergessen und ausgehöhlt, pflegen anachronistische Rituale, was sich im Roman in bizarren Empfängen an einem seltsamen Königshof niederschlägt, die nur parabolisch zu lesen sind.
Aldanow fordert seine Leserschaft nicht nur durch häufige Perspektivwechsel, durch Reflexionen in Dialogen und langen inneren Monologen sowie durch einmontierte ästhetische Abhandlungen über Gogols Roman Die toten Seelen und Mozarts Requiem heraus, sondern er sorgt auch für Irritation, indem er den realistischen Zeitroman durch parabelhafte Kapitel anreichert, die satirische Züge haben. Andererseits versteht er es, spannend und unterhaltsam zu erzählen, indem er am Ende von Kapiteln Cliffhanger einbaut und den Handlungsfaden erst an späterer Stelle wieder aufnimmt. Nicht zuletzt die Vielfalt erzähltechnischer und kompositorischer Mittel, über die Aldanow virtuos verfügt, machen den Roman zu einem Meisterwerk.
Darüber hinaus beeindruckt er durch seine diagnostische Qualität hinsichtlich der Auswirkungen – und auch Fernwirkungen – totalitärer Herrschaft auf die Individuen. Der Roman hat teil an der großen russischen Erzähltradition des 19. und 20. Jahrhunderts. Er hilft uns heute dabei, Russland besser zu verstehen, aber er weist auch darüber hinaus. Hans Mayer hat einmal angemerkt, dass Goethe unter Weltliteratur „ein gegenseitiges Geben und Nehmen“ verstand. Auch in diesem Sinn ist Aldanows Roman Weltliteratur. Russische und westeuropäische Kulturtraditionen sind darin verwoben, allerdings ist es nach Aldanows Befund, den er Vermandois in den Mund legt, nicht gut um sie bestellt: Ihr „Anfang vom Ende“ ist eingeläutet – vielleicht aber auch der Anfang vom Ende des Stalinismus.
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