Das eigene Leben als Arbeitsfeld
In seiner Autobiographie „Ein Leben in Deutschland“ schildert Silvio Vietta seine Erfolge als Wissenschaftler und als Mann, ohne Niederlagen zu verschweigen
Von Günter Rinke
Für den Literaturwissenschaftler Silvio Vietta sind Bücher wie Schiffe, die ihre Ladung zum Leser bringen. Die Arbeit des Lesers bestehe dann darin, die Ladung zu löschen und mit ihr etwas anzufangen, für sich etwas daraus zu machen, das heißt, „die Ladung Gelesenes durch eigenes Denken [zu] erweitern“. Vorstellbar ist auch eine persönliche Begegnung zwischen Autor und Leser am Kai, die damit endet, dass der Leser den Autor ins Wasser wirft. Bestenfalls kommt dann „ein mitleidiger Mensch, [der ihn] mit einer freundlichen Rezension wieder herauszieht“.
Eines solchen mitleidigen Rezensenten bedarf es nicht, wenn es darum geht, Viettas Autobiographie zu besprechen. Vielmehr dürfte es dem Autor durch seine unprätentiöse, sympathische Art des Erzählens gelingen, auch notorische Nörgler für sich einzunehmen, zumal es viel zu erzählen gibt aus dem langen Leben eines angesehenen Wissenschaftlers:
von den Leistungen und Fehltritten der Eltern, von Begegnungen mit bekannten Persönlichkeiten, von wissenschaftlichen Erfolgen und auch Misserfolgen sowie von Freundschaften und intimen Beziehungen zu Frauen. Für Viettas Unbekümmertheit, die er auf dem Umschlagfoto seines Buches ausstrahlt, spricht, dass er keine Scheu hat, einen spät verfassten, vom Rowohlt-Verlag abgelehnten Roman in diesem Rahmen seiner Selbstdarstellung auszugsweise der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Bei der abgedruckten Szene handelt es sich um ein in drastischen Einzelheiten geschildertes erotisches Erlebnis des Protagonisten.
Vietta erzählt sein Leben in Grundzügen chronologisch, weicht aber zugunsten einer thematischen Gliederung immer wieder von der zeitlichen Reihenfolge ab, wobei er auch Wiederholungen in Kauf nimmt. An einer Stelle beschreibt er den Fortgang seiner Forschungen, die er als folgerichtiges Fortschreiten sieht. Sie ist an „Arbeitsfeldern“ orientiert, die aufeinander bezogen seien. Erst beschäftigte er sich mit dem literarischen Expressionismus. Das wichtigste Ergebnis war das zusammen mit seinem Schüler Dirk Kemper verfasste, immer wieder neu aufgelegte Buch Expressionismus. Das rote UTB-Taschenbuch gilt längst als Standardwerk und machte Vietta bekannt. Der Expressionismus brachte ihn zur Romantik, mit der für ihn die „moderne Kulturkritik“ begann. Er veröffentlichte seine Studie Die literarische Frühromantik und edierte die Werke des Romantikers Wackenroder. Um den Vorlauf der Moderne zu erkunden, erweiterte er den Blick auf die europäische Kulturgeschichte und schließlich auf die abendländische Rationalitätskultur, die aus seiner Sicht zur Voraussetzung für die Globalisierung wurde.
Indem er seine Autobiographie verfasste, machte Vietta nun sein eigenes Leben zum Arbeitsfeld. Leitmotive sind für den 1941 Geborenen „die Schwere Zeit“ und „der Gott des Gemetzels“, also die ihn prägende Notzeit vor und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sowie die Erfahrung von Gewalt zwischen Völkern und auch zwischen Einzelpersonen wie seinen Eltern, deren Ehe gegen Ende ihres nicht sehr langen Lebens mit „archaische]r] Wucht“ scheiterte. Ein wichtiger und repräsentativer, allerdings leider auch illusionärer Ausdruck der Friedenssehnsucht ist für ihn Leonhard Franks Novellensammlung Der Mensch ist gut (1917), auf die er ausführlich eingeht. Als großes Glück sieht Vietta es an, dass „der Gott des Gemetzels“ zumindest in Europa für Jahrzehnte pausierte, so dass in der langen Friedenszeit seine Karriere möglich wurde. Die Startbedingungen dafür waren, trotz einiger Widrigkeiten, gut.
Ein langes Kapitel widmet Vietta seinem Vater, Egon Vietta, der während der NS-Herrschaft mit der Widerstandsgruppe der ‚Weißen Rose‘ in Verbindung stand und sich nur durch die Flucht nach Italien retten konnte. Da es im Hamburger Kreis der ‚Weißen Rose‘ einen Spitzel gab, bekam die in Stade lebende Mutter Dorothea Besuch von der Gestapo, die sich Hinweise auf den Aufenthaltsort ihres Mannes erhoffte. Dem Kind, das nicht verstand, worum es ging, prägte sich ein solcher Besuch als bedrohliches Erlebnis ein, eine bleibende Erinnerung, mit der das Buch eröffnet wird.
Nach dem Krieg widmete sich Egon Vietta einer regen Publikationstätigkeit, verbunden mit langen Reisen, so dass er zu Hause oft abwesend war und der Sohn eine enge Bindung zur Mutter entwickelte. Egon Vietta pflegte Beziehungen zu vielen Künstlern, Literaten und Philosophen seiner Zeit, u. a. zu Hermann Broch, mit dem er im (später veröffentlichten) Briefwechsel stand, und Martin Heidegger. Letzterer sollte für das Haus Vietta und den Sohn Silvio besonders wichtig werden. Für Heidegger arbeitete die Mutter als Sekretärin und ging mit ihm eine intime Beziehung ein, an der die Ehe der Eltern (nicht aber die Ehe Heideggers) zerbrach. Heidegger wurde für Silvio Vietta zu einem Ersatzvater, der ihn in seinem Studium förderte und protegierte.
Das Heidegger-Kapitel nimmt in dem Buch breiten Raum ein. Vietta tendiert dazu, den Philosophen gegen Vorwürfe zu großer Nähe zum NS-Regime zu verteidigen, bescheinigt ihm aber, er sei „eine Art politischer Esel [gewesen], wenn er vermeinte, mit Hilfe der Nazis eine fundamentale Revision der Seinsgeschichte vornehmen zu können“. Auch ein Antisemit und „Anhänger oder Sympathisant einer Theorie der jüdischen Weltverschwörung“ sei Heidegger nicht gewesen. Vielmehr habe er an Juden zulässige Kritik geübt. Ist Vietta also ein ‚Apologet‘? Jedenfalls bleibt er sich treu, hatte er doch bereits 1989 ein Buch über Heideggers Kritik am Nationalsozialismus veröffentlich, dem er 2015 ein weiteres über Heideggers aus heutiger Sicht hellsichtige Globalisierungskritik folgen ließ. Anrührend ist, wie Vietta Heideggers Begegnung mit Paul Celan schildert, bei der er anwesend war. Er hält sie nicht für gescheitert, obwohl manches unausgesprochen blieb und die von außenstehenden Kommentatoren offenbar erwartete „Entschuldigung“ Heideggers ausblieb.
Angereichert sind die erzählenden Passagen durch zahlreiche Fotos sowie Briefe aus Viettas Privatarchiv, die für die Forschung interessant sein können, darunter ein Brief Heideggers an den „lieben Silvio“ zu dessen Dissertation über moderne Lyrik, den der Doktorand als „ziemliche Abfuhr für einen jungen Wissenschaftler“ empfand, und ein Brief Paul Celans. Das Fazit zu Heideggers Einfluss auf seine Schüler, zu denen Vietta sicherlich auch gehört, fällt gemischt, letztlich aber positiv aus. Heidegger werde zur Gefahr, wenn sein „Jargon“ (Adorno) unkritisch übernommen werde, jedoch sei sein eigentliches Vermächtnis ein anderes, denn „seine gute Schule aber bestand darin, das eigene Denken zu lehren und zu fördern“.
Dass Vietta sich diese Lehre zu eigen machte, zeigt sich in seinen Schilderungen von Erlebnissen mit den ‚Achtundsechzigern‘, seinen Gedanken zu geistigen Modeströmungen und seiner Skepsis gegenüber ‚zeitgeistigen‘ Urteilen, die er immer wieder aufgreift und kritisch würdigt, ohne sie vorschnell zu verwerfen. Dem kulturellen Umbruch von ‚68‘ kann er offenbar mehr abgewinnen als dem gleichzeitig sich entwickelnden politischen Linksradikalismus, obwohl er Proteste gegen den Vietnamkrieg während seiner Gastdozentur in den USA für berechtigt hielt. Dass aber auch die Vietkongkämpfer keine Friedensengel und Musterdemokraten waren, vergisst er nicht zu erwähnen.
Vietta nennt sein Buch „Ein Leben in Deutschland“ und verweist mit diesem Titel auf seine Zeitgenossenschaft, durch die sein individuelles Leben mit deutscher Geschichte nach 1945 verbunden ist. Stellenweise weicht er allerdings zu weit von der Individualgeschichte ab und berichtet von Ereignissen, die sich leicht in Geschichtsbüchern nachlesen lassen. Fesselnd ist hingegen seine Darstellung immer dann, wenn sie anekdotisch wird, vor allem wenn Begegnungen mit berühmten Zeitgenossen geschildert werden: ein Gespräch mit Adorno, während dieser balancierend einen Schnürsenkel neu zu knüpfen versucht; ein Zusammentreffen mit Allen Ginsberg in einem billigen New Yorker Hotelzimmer, bei dem sich Vietta eine Abfuhr dafür holt, dass er Platon zu kritisieren wagt; die Gespräche mit Hans Georg Gadamer in dessen Arbeitszimmer kurz vor dessen Tod, aus denen ein Gesprächsband werden sollte. Nicht zuletzt solche Erzählungen neben vielen Episoden aus dem (nicht nur deutschen) akademischen Leben, in denen zahlreiche Namen bekannter Fachkollegen fallen, machen das Buch lesenswert.
Schließlich vergisst der Autor auch nicht, seine drei Lebenspartnerinnen sowie seine Kinder und Enkel zu würdigen und das eine oder andere erotische Abenteuer einzustreuen, mit dem er sich als sinnenfreudiger Zeitgenosse zu erkennen gibt. So bleibt der Eindruck eines produktiven, erfüllten Lebens, das mit Weisheit, aber ohne aufdringliche Belehrungen erzählt wird. Es muss angefügt werden, dass ein Lektorat dem Buch gutgetan hätte. Ohne die Flüchtigkeitsfehler wäre die Lektüre ein noch größerer Genuss gewesen.
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