Romantitel und Buchanfang identisch – ein Scherz des Autors?
„Ich erinnere mich noch“ heißt der vielschichtige Debütroman des Philosophen und Politikwissenschaftlers Felix Heidenreich
Von Rainer Rönsch
Ist es ein Wagnis, wenn ein Autor für seinen Debütroman eine weibliche Ich-Erzählerin wählt? Felix Heidenreich hat das mit Erfolg getan – nie zweifelt man an der Identität seiner intelligenten und introvertierten Heldin Dorela. Der rätoromanische Name bedeutet „Schwarzkehlchen“ oder auch „schöne Stimme“.
Etwaige Bedenken, ein Philosoph schreibe trocken und abstrakt, werden umgehend ausgeräumt. Graubünden mit den schroffen Gipfeln wird so anschaulich geschildert wie Dorelas Innenleben. Auch gibt es taufrische Wortfindungen wie die „Duldsamkeit der Sitze“ in der Eisenbahn oder einen „Grenzstein zwischen zwei Sprachwelten“.
Wir begegnen Dorela im Abstand von insgesamt dreißig Jahren: in den 1980er-Jahren als Studentin für das Lehramt Französisch in Fribourg, gut fünfzehn Jahre später als Lehrerin und Mutter in Graubünden und nochmals fünfzehn Jahre später daheim und auf Reisen.
Statt auf diese drei Etappen sei hier auf drei Männer eingegangen, die für Dorela wichtig sind. Da wäre zunächst Dorelas Lieblingsonkel Durs, der Bruder ihrer Mutter. Er arbeitete für die Schweizer Vertretung in Westberlin, stand als Hausmeister und Kraftfahrer am unteren Ende der diplomatischen Hierarchie. Ob dieser Durs sich von einem nie aufgefundenen Urs als Spion für die DDR anwerben ließ, bleibt ebenso offen wie der letzte Grund für seine besessene Beschäftigung mit der indigenen Bevölkerung Kanadas. Diese wird offenbar, als Durs im Wald bei Bregenz tot aufgefunden wurde. In seiner Berliner Wohnung herrscht Chaos: zerstreute Papiere und umgestürzte Büchertürme. Dorela findet einen offenbar für sie bestimmten Gepäckfachschlüssel und gelangt so an die kostbare Erstausgabe der Reiseberichte von Samuel de Champlain von 1634. Der französische Entdecker hatte Québec gegründet und wollte in Gemeinschaft mit der dort lebenden Bevölkerung ein Neues Frankreich („Nouvelle France“) erschaffen. Zu diesen realen Fingerzeigen kommen rätselhafte Hilferufe und wirre Träume, wobei Dorela sich wahnhaft fragt, ob sie Durs hätte retten können.
Der andere Mann ist Dorelas undurchschaubarer Kommilitone Antoine. Die Formulierung auf dem Rücktitel, ihre Affäre mit ihm sei so unbeschwert wie das Studentendasein in Fribourg, geht an den Fakten vorbei. Wenn es der klugen und ehrlichen Studentin an etwas fehlt, dann an Unbeschwertheit. Selbstzweifel und Unsicherheit prägen ihr Verhältnis zu Antoine wie zu ihrer Freundin Marlène. Ihr schaudert, weil nach dem baldigen Uni-Abschluss der Ernst des Lebens beginnen wird. Mit Antoine erlebt sie in Lourmarin, dem Rückzugs- und Begräbnisort von Albert Camus, eine dezent angedeutete Liebesaffäre. Die ist zu Ende, als Antoine kurz darauf abschiedslos aus Fribourg verschwindet. Alles weitere Suchen nach ihm, ob in Paris oder New York, endet in einer sehr spät von Dorela eingesehenen Enttäuschung.
Wichtig ist für sie auch ihr jüngerer Bruder Mathis, der wohlgemut nach Basel gezogen war, dort aber gescheitert ist und nach Chur gehen wird. „Wo soll ich sonst hin?“ Mit ihm war Onkel Durs noch kurz vor seinem Tod auf Tour und Mathis fragt sich, ob er dessen Selbstmord hätte verhindern können.
Dorela wird auch dadurch charakterisiert, dass von ihrem treuen und zuverlässigen Mann Thomas seltener die Rede ist als von den drei anderen Männern. Ihr ehemaliger Schulkamerad fährt als Polizist täglich „an jenen Bergen vorbei, auf die er seit seiner Kindheit geblickt hatte“. In diesen Bergen ist er mit Dorela gewandert, und die Wanderungen sind der Grund, warum sie ihn geheiratet hat. Thomas machte, dazu wohl durch seinen Beruf als Polizist erzogen, „selbst in den unglaublichsten Situationen“ einfach weiter. Der knappe kitschfreie Schluss macht Hoffnung: Die beiden brechen zu einem gemeinsamen abendlichen Bergspaziergang auf.
Außer um Männer geht es, passend zu Dorelas Studienfach, auch um Sprache. Die geliebte rätoromanische Muttersprache spricht man am Ende „wie in einem Reservat“. Die Grenze des Sprachlichen zum Historischen wird überschritten, wenn der Satz „Je suis romain“ als nicht eindeutig übersetzbar gilt: „Ich bin römisch.“ „Ich bin romanisch.“ Oder für Dorela: „Jau sun rumantsch“. Von da ist es nicht weit bis zur Frage nach den Überresten des Römischen Reichs und der Erkenntnis, dass auch die von Durs verherrlichten Indigenen ein Imperium schufen. Dies mag für den Gelehrten Felix Heidenreich wichtiger sein als für die Lehrerin Dorela – ein Fremdkörper ist es in einem Roman über eine ständig grübelnde Romanistin nicht.
Dass am Ende manches in der Schwebe bleibt, fügt sich gut in die verhaltene Erzählweise über ein Leben, das von ungelösten Fragen und Konflikten geprägt wird. Dorela macht sich dunkle Gedanken über das Mittelmeer. War dieses Meer für Albert Camus noch ein Symbol für die Utopie vom freien Leben, so ist es, weil leergefischt, biologisch quasi tot und das Grab unzähliger ertrunkener Flüchtlinge, für Dorela „zum Symbol für die Schande Europas geworden.“
Warum aber könnte die Identität von Romantitel und Buchanfang ein Scherz des Autors sein? Weil Dorela es lächerlich findet, wenn Texte nach ihren ersten Worten benannt werden wie die Enzykliken des Papstes.
![]() | ||
|
||
![]() |