Das Aufhören als schwierigster Anfang

Die Schweizer Autorin Isolde Schaad enthüllt in „Das Schweigen der Agenda“ meisterlich, was ein Tagebuch verbirgt

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer mit der Autorin Isolde Schaad das vorgerückte Alter teilt und den als „Leitmotiv“ gekennzeichneten ersten Text liest, wird hoffentlich wegen der treffsicheren Bemerkungen über das Aufhören nicht die Lektüre des Buchs beenden. Die Aufzählung all dessen, was man im Alter nach und nach aufgibt, von High Heels über Reisepläne bis hin zu Widerworten gegen haarsträubende Ansichten, mündet in der Erkenntnis, dass das Aufhören der schwierigste Anfang ist und am Ende die Entsorgung steht. Der Untertitel des Buchs verspricht „Geschichten vom Innehalten und Aufhören“, doch dieser Text ist keine Geschichte, sondern ein eleganter Essay mit schwarzem Humor.

Auch in anderen Beiträgen geschieht nichts, und dennoch kommt Spannung auf. Es handelt sich um bizarre „Einträge“ in „Der Große Duden; Neudeutscheste Fassung“. Sie werden hier im Zusammenhang besprochen, obwohl sie im Buch nicht beieinanderstehen. Laut der in grotesker Übertreibung dem Zeitgeist huldigenden Definition des Begriffs „Frau“ war damit nur ursprünglich ein „erwachsenes weibliches Wesen“ gemeint. Die brandneue Bedeutung lese man unter Lachtränen. Für den „Mann“ als „Übergangsmodell“ (hochwissenschaftlich formuliert: „in psychosozialer Transformation befindliche Gattung“) werden als Gepflogenheiten das Anzetteln von Prügeleien und das Sitzen in Verwaltungsräten in einem Atemzug genannt. Ein „Kind“, heute besser: „Leibesfrucht diverser Herkunft“, sollte ohne Rücksicht auf Eignung und Begabung ein Gymnasium besuchen und dient der „menstruierenden Spezies“ als „Qualitätsausweis“. Der „Hund“ als „Zuchtprodukt“ stellt für Einzelpersonen eine „quasi familiäre Ersatzhierarchie“ her und fungiert als „kuscheliger Demutsproppen“. Schließlich wird die „Hypermama“ als „neue Frauenmarke“ und „blendender Wirtschaftserfolg“ charakterisiert, verbunden mit Rückschritten in der weiblichen Berufstätigkeit und Führungsrolle.

In sechs Texten geschieht etwas. Aus diesen Geschichten ragt die erste („Im inneren Ausland“) mit origineller Ausgangslage, scharfer Gesellschaftskritik und verblüffendem Schluss heraus. Das „innere Ausland“ ist die Imbissecke eines „Großverteilers“, wie in der Schweiz die Ketten von Einzelhandelsgeschäften heißen. In dieser „Oase der Globalisierung“ blüht die Schattenwirtschaft. Von kalter Bürokratie proletarisierte Migranten, einst „Hoffnungsträger ihrer Sippe“, müssen den Schein des Erfolgs wahren, was ins Verbrechen führen kann. Als „Sozialdetektivin“ spürt die Ich-Erzählerin in diesem Imbiss einer Frau nach, die womöglich zu Unrecht an den „Pfründen der Sozialhilfe“ teilhat. Detektivin ist kein Traumberuf, aber nach Abbruch des Soziologiestudiums besser als ein Job an der Supermarktkasse. Ein Crashkurs im Observieren und ein Spezialhörgerät mit Nanofernverstärker gehören zum Rüstzeug. Verdächtig ist „eine vergangene Schönheit“, eine blondierte mittelalte Übersetzerin, die sich hier regelmäßig mit einer Freundin trifft. Als sich die Detektivin der Verdächtigen nähert, hält man sie für eine Stalkerin. In einem erzählerischen Salto mortale wird die Detektivin dann tatsächlich auf frivole Art übergriffig. Die beiden Frauen wollen sich regelmäßig treffen, weil der Älteren die Jugend guttut. Dem Beginn einer wunderbaren Freundschaft steht freilich die Epidemie im Wege, die rasend schnell aus China herannaht.

„Eine Andere“ als die, für die ihre Freundin Anita sie jahrelang gehalten hat, war die an einem Melanom verstorbene Ulrike. Das stellt Anita bei einem zunächst tränenlosen Besuch auf dem Friedhof fest. Von einem Amerikaner, mit dem Ulrike eine Affäre hatte, und später von Ulrikes Partner Alex erfährt sie, das vieles, was sie von ihrer Freundin zu wissen meinte, das Gegenteil der Wahrheit war. Raffiniert macht die Autorin das an der Lieblingsblume und der Lieblingsfarbe fest und lässt offen, ob es auch die große Lebenslüge gab.

„Der letzte Kameltreiber“ kommt nur in dem Illustrierten-Motto vor, der letzte Kameltreiber im Atlasgebirge sei spannender als tausend Fließbandarbeiterinnen von Siemens. Erika erzählt den heutigen „lieben Nachkommen“ von der glorreichen Zeit des investigativen Journalismus in den „fetten Siebzigerjahren“. Die Geschichte von drei „Vollblutschreibfrauen“ nebst zwei Männern und einem rätselhaften Untermieter der Bürogemeinschaft, der sich mit erlogenen Interviews eine Redakteursstelle verschafft, spiegelt treffend den damaligen Zeitgeist wider. Das wiederholte „Erika, also ich“ der Erzählerin nutzt sich allerdings ab.

Die „Verfehlte Anklage“ betrifft den Tod der Künstlerin Sophie. Man geht von einer fiktiven Gestalt aus, bis man erfährt, dass die Betroffene am 13. Januar 1943 nicht zum Frühstück erschienen ist. Historisch verbürgt ist, dass die 1889 in Davos geborene Sophie Henriette Gertrud Taeuber-Arp, eine Malerin, Bildhauerin, Textilgestalterin, Architektin und Tänzerin der Avantgarde, am 13. Januar 1943 in Zürich verstorben ist. In Isolde Schaads Geschichte nimmt sich Jahrzehnte später eine Gruppe Frauen des Todesfalls an, bei dem es keine Hinweise auf ein Gewaltverbrechen gab. Erster Verdächtiger ist für sie der Ehemann Jean Arp, der sich „in Trauer gewälzt“ hat. Und Sophies Gastgeber, ein Architekt, hätte nach Meinung der anklägerischen Damen wissen müssen, wie gefährlich ein geheizter Kanonenofen in einem geschlossenen Raum ist. Von ihnen fließt viel Geld an eine Anwältin, deren Ratschläge sich als wertlos erweisen. Der beißende Spott der Autorin gilt nicht der MeToo-Bewegung, sondern der Manier, kritische Nachfragen mit Beschimpfungen zu beantworten.

„Der Tag danach“ ist für einen namenlos bleibenden amerikanischen Schriftsteller der Beginn des Goldenen Zeitalters ohne Termine, Lesungen und Signierstunden. Der Text ist so handlungsarm wie der alte Mann, der mit Mühe einen langsamen Spaziergang schafft. Doch aus seinem inneren Monolog entsteht das scharf belichtete Porträt eines Prominenten, der „im Alter ja nur ein paar“ Frauen brauchte: „eine für den Geist, eine fürs Bett und eine für den Haushalt“! Es sei denn, die Fußpflegerin erfüllte alle Funktionen. Eingeflochten sind kluge Beobachtungen über Buchmessen und die USA als „Binnenland der Literatur“, in dem es ausländische Schriftsteller schwer haben.

„Das Schweigen der Agenda“: Die Agenda ist weder Tagesordnung noch Arbeitsplan, sondern ein Terminkalender aus Leder mit Goldschnitt. Er gehörte Paulas Mutter Walpurga. Die kinderlose Paula leidet unter Schlafstörungen, auch wegen jener Nacht vor 17 Jahren, als die Mutter starb und sie hilflos daneben saß. Einige Monate zuvor hatte die Mutter regelmäßig einen Arzt aufgesucht, woraufhin in der Agenda ein eingekreistes K erschien. Paula dachte nicht an Krebs, sondern suchte vergeblich nach einem mit K beginnenden Namen. Die Schrift der Mutter blieb „aufrecht und gefasst und immer eine Spur zu streng“. Die lederne Agenda gibt nichts vom Leiden Walpurgas preis. Paula war von der Schönheit und Intelligenz ihrer Mutter angetan. Als sie ihrem Vater ein altes Foto zuspielt, das ihre Mutter mit einem unbekannten Mann zeigt, reagiert der wütend: Paula solle Mutters Andenken nicht mit Geschichten beschmutzen, die sie nichts angingen. Die Leserschaft gehen sie etwas an, doch preisgegeben sei hier nur, dass Themen wie Antisemitismus und Samenspende ebenso anklingen wie Aussprüche von Christa Wolf und Friedrich Nietzsche.

Isolde Schaad legt in diesem Buch sprachlich hervorragende und tief in die Psyche der Figuren eindringende Texte vor, die auf packende Weise so grundlegende Themen menschlicher Existenz wie Altwerden, Einsamkeit und Lebensgeheimnisse behandeln.

Titelbild

Isolde Schaad: Das Schweigen der Agenda. Geschichten vom Innehalten und Aufhören – im Auge des großen Duden.
Limmat Verlag, Zürich 2023.
160 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783039260591

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