Gedichte über Dresden
Ein Lyrik-Band von Roland Müller setzt über hundert „DenkMale“ in die Stadt
Von Ingolf Brökel
DenkMale in Dresden ‒ „Gedichte“ von Roland Müller, verkündet der Umschlag ‒ ist ein für lyrische Arbeiten auf den ersten Blick eher ungewöhnlich dickes Buch. Schaut man rein, sieht man auf der einen Seite sachlich eine Fotografie eines „DenkMals“ und die Legende dazu, auf der anderen ein Gedicht. Über hundert „DenkMale“ sind hier versammelt. Schon im Vorwort erfährt man, dass es Müller in dem Buch nicht um die „Großen“ der Stadt geht, die er aufgenommen, beschrieben und poetisiert hat, sondern um menschliche Dimension, Dresden „auf Augenhöhe“, „abseits der touristischen Filetrouten“. Gut, da lass ich mich gern verführen, nicht zuletzt von Müllers Reim, den er sich auf Dresden macht.
Am Anfang des Buches, beim Anblick der Vasen im Blüherpark, steht dann auch „DenkMale sind kein Ruhekissen / und nur wer denkt, hat auch gespürt.“ Und an der Rähnitzer Meridiansäule, einem Werk des Geodäten und Urgroßvaters der TU Dresden, W. G. Lohrmann, wird Müller noch schärfer:
Man muss präzis den Ort bestimmen können,
denn dann gelingts, die Zeit zu definiern.
Dann kann man Teile von Sekunden trennen,
den Raum verstehen und das Land studiern.
Das klassische Versmaß in der Tasche und das Rauschen der Physik im Hintergrund, marschiert Müller schnurstracks an der Moderne vorbei. Und bitte, keine Könige, Heilsversprecher und ideologisch aufgepumpten Chimären. Ich folge ihm in sein Dresden.
Von dem wieder „auferstandenen“ Pusteblumenbrunnen in Prohlis (früher Prager Straße), dem schon über 60 Jahre lesenden Mädchen in der Dresdener Südvorstadt, diversen Brunnen, Fontänen und Wasserspielen, bisher wenig wahrgenommen, geht es auf den Heidefriedhof:
Trauerndes Mädchen am Tränenmeer
Ich stehe barfuß mit verschränkten Armen
fast wie ein Kreuz, das man auf Gräber schreibt.
Könnt ich was tun, ich flehte um Erbarmen.
Das ist zu spät. Und nur das Trauern bleibt.
Ich steh nicht hier, um irgendwas zu richten.
Wie viele starben hier ‒ von Menschenhand?
Ich schau hinab und habe andre Pflichten,
mein Becken ist gefüllt ‒ fast bis zum Rand.
Das ist das Meer von endlos vielen Tränen,
die tiefe Ruhe gibt mir Gleichgewicht.
Manch einer wirft auch Blumen in mein Sehnen,
doch ich bin anders, ihr versteht mich nicht.
Ich steh grazil, um auch für euch zu trauern.
Nur wer vergisst, dem bleibt die Zukunft leer.
Ich hoffe, meine Einsamkeit wird dauern,
ich steh am Rand, am dunklen Tränenmeer.
Hut ab! Meine Tante sah den Dresdner Himmel damals glühen, in einer Tanzpause im Wandelhof in Schwarzheide.
Und die Elbe ‒, o ja an die Elbe, zur bronzenen Elbe von Wieland Förster:
Die Elbe
Der Weg führt hin zum Flusse,
davor steht die Skulptur
aus schwerem Bronzegusse
mit weiblicher Figur.
Das Wasser ist die Elbe,
die wie Metall hier fließt,
es scheint einunddasselbe,
das sich zum Meer ergießt.
Dynamik, Kraft und Willen ‒
und alles ist verwandt:
der Torso mit dem Stillen,
der Strom dem grünen Land.
An der Augustusbrücke dann die Grenzlinie zwischen dem helleren unteren und dunkleren oberen Teil des Bogengewölbes der Brücke: 17.08.2002! Müller erinnert deutlich:
Die Flut
Das Wasser kommt. Wir sind betroffen,
und wenn es steigt, dann wächst die Angst.
Wir können fürchten oder hoffen.
Du liebst nur das, worum du bangst.
… Die Flut kommt braun und gurgelt leise,
sie schwabbert und sie gluckst im Wind.
Wir werden niemals klug und weise.
Das Wasser kommt. Doch wir sind blind.
Von Siegfrieds Tod (auf der Bürgerwiese), Studenten, die durch die Wand wollen/sollen, Hofnarr Fröhlich, Schiller wie angegossen auf dem Sachsenplatz, Putjatin mit seinen Möpsen in Kleinzschachwitz (gab′s da nicht mal einen Garten mit einem Dichter?) zu Erich Kästner als Junge auf der Mauer des Gartens vor seinem Haus. „… Am schönsten aber sind die vielen Frauen, / …. Ich frag mich nur, wie kann ich ihnen trauen?“ Ida Kästner schwingt da vorsichtig ihr Stöckchen.
Und Dostojewski wartet an der Elbterrasse,
… den Blick in sich gekehrt, in dunkle Tiefe.
Er weiß, das Glück erkauft man sich durch Leid,
…
Das Wissen von der Phantasie zu trennen ‒
es geht, das Leben ist ja fast vorbei.
Er weiß fast alles, kanns sogar benennen,
und weiß nun auch, kaum Gutes ist dabei.
Wie Dostojewski stellt Müller grundsätzlich Glauben Wissen gegenüber. Christus im Garten Gethsemane an der Kirche in Dresden-Strehlen:
… Doch einer blieb ihm noch, ihn anzuflehen:
„Ist möglich, Vater, nimm den Kelch mir ab!“
… Die Antwort hat man uns nicht aufgeschrieben,
sie hieß vielleicht: „Ach, deine Zeit ist um!“
Trotz Bomben ist die Kirche stehn geblieben.
Die Zeit der Fragen aber ist nicht rum.
Beachtlich ‒: Es kamen DIE Antworten auf welche Fragen und welche Antworten kamen auf DIE Fragen? Was bleibt? Erfinden wir IHN also, nach Voltaire!?
Es kommt der Eisenbahner Kunz, Zürner kommt, Struve, der Maskenkopf, Pomona und Flora, das Eichhörnchen und die Eule und der Elefant, die Elbtänzerin und der Tanz der Palucca an der Fassade, die Schluss-Steine auf dem Altmarkt und wieder Brunnen und so viele noch. Nun bietet es sich an, auf Müllers Reim seinen eigenen zu machen, es liegt auf der Zunge, obwohl, es ist nicht einfach, zu vollkommen erscheint er. Will er das, lässt er es zu, ihm etwas sokratisch zu folgen? Im Garten des Bilderberg Bellevue Hotels erscheint Hermann Glöckners Gebrochenes Band:
Gebrochenes Band
Die Welt ist seltsam, lebt in weiten Räumen
und schmiegt sich geometrisch an das Licht.
Diffuses schwingt nur blass in unsren Träumen,
und Flaches bleibt im Grau, bevor es bricht.
Was wir erschaun, ist schwer zu widerspiegeln,
wir abstrahiern aus Chaos und Natur,
dann schwingt der Raum, kein Fluch mit sieben Siegeln,
wird Dimension. Und es entsteht Struktur.
Ein flaches Band, gekantet und gebrochen,
von unten hoch, von hinten ganz nach vorn ‒
als hätt der Raum uns das schon längst versprochen.
Und jeder Winkel zeugt von starkem Zorn.
Die Konstruktion, durch die wir staunend blicken
ist schön, weil keiner das Prinzip erkennt.
Das Stahlband glänzt in kühnen, schrägen Stücken,
verschränkt, gebrochen ‒ etwas transzendent.
Ein gelungenes Gedicht, finde ich. Wie viel gute Gedichte schreibt man?
Müller folgt nicht nur dem Laster des Denkens, auch dem Anspruch des Gedichts, „schön zu sein“. Strenge und Einfachheit seines lyrischen Sprechens sind grundsätzlich im Reim verankert. Gerade diese Leichtigkeit des Reims, seine Wortkraft und Dichte helfen, den „DenkMalen“ die nötige Stimmung zu geben.
Dass Müller sein Handwerk versteht, ist ihm oft bescheinigt worden. In den letzten beiden Jahren öffnet er sich nun auch den Literaturzeitschriften (Am Erker, Abwärts, DrecksSack, Oda, Zeno u.a.). Auch in den Dresdner „DenkMalen“ ist Müller sich seiner Sprache bewusst und sicher: Es scheint, er ist hier zu Hause. Ich jedenfalls werde in seinem Werk weiter blättern, vor und zurück, etwas mehr begreifen durch poetische Reflexion.
Gehen wir am Ende zur Großen Liegenden auf dem Sachsenplatz.
Große Liegende
Sie liegt so ruhig, hält den Kopf in Händen,
der Körper wirkt gespannt und recht massiv.
Sie möchte weiter ruhn und sich nicht wenden,
ihr Schlaf scheint ewig, statisch weich und tief.
… Stein, Form und das Motiv sind fest verbunden,
das Schwere lebt im Runden und wird leicht.
Im Schlafe spürn wir kaum die alten Wunden,
weil stilles Ende einem Anfang gleicht.
Und wir verabschieden uns: zwei, die vor etlichen Jahrzehnten ca. 60 km nördlich von Dresden geboren wurden und die die Poesie zufällig zusammenbrachte.
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