Das weibliche Begehren in der Bredouille

Caroline Rosales plädiert in ihrem autobiografischen Buch „Sexuell verfügbar“ für eine neue Weiblichkeit und verstrickt sich dabei in Widersprüche

Von Michelle HegmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michelle Hegmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man stelle sich folgendes Szenario vor: Eine von Erfolg gekrönte Schauspielerin mit einem Golden Globe und einer Oscar-Nominierung im Gepäck bewirbt sich für eine Hauptrolle, wird jedoch vom Produzenten abgelehnt – in Hollywood keine Seltenheit. Der Grund für die Entscheidung sorgte im folgenden Fall hingegen für Furore: Sie sei mit 37 Jahren zu alt, um die Geliebte eines 55-jährigen Mannes spielen zu können. Es sei unglaubwürdig, dass dieser eine „schon“ 37-Jährige als potenzielle Partnerin in Betracht ziehe, da sie nicht so attraktiv wie eine Mittzwanzigerin und damit automatisch aus dem Rennen wäre.

Schauspielerin Maggie Gyllenhaal musste dieses Szenario 2015 erleben und sprach daraufhin öffentlich über Sexismus in der Filmindustrie und forderte Kolleginnen auf, es ihr gleichzutun. Das ist durchaus kein Einzelfall, Kinobesucher*innen sind es gewohnt, auf der Leinwand Männer mit deutlich jüngeren Frauen an ihrer Seite zu sehen. Schauspieler wie Richard Gere oder Tom Cruise haben in Filmen prinzipiell 20 Jahre jüngere Partnerinnen und die Liebhaberin eines George Clooney würde niemand mit einer Gleichaltrigen besetzen. Die Voraussetzungen „jung und schön“ folgen einem Schema, das sich „fuckability factor“ nennt – ein Begriff, dem sich alle Schauspielerinnen früher oder später stellen müssen. Er setzt voraus, dass der „Wert einer Frau“ auf der Kinoleinwand proportional zur Lust des männlichen Zuschauers gemessen wird. Bedeutet: Je mehr er sie begehrt und mit ihr schlafen möchte, desto höher fällt auch ihr „fuckability factor“ aus, was die Wahrscheinlichkeit einer Besetzung und einer hohen Gage steigert. Ein Blick in die Statistiken bestätigt dieses Prinzip: Die meisten Rollen ergattern Frauen in ihren 20er- und 30er-Jahren, Männer hingegen befinden sich im Alter zwischen 42 und 65 auf dem Höhepunkt ihrer Schauspielkarriere. Während sich Letztere in ihren älteren Semestern demnach keine Sorgen um ausbleibende Angebote machen müssen, sieht es für die Frau ab 40 auf dem Hollywood-Markt schlecht aus. Trägt man nicht gerade den Namen Meryl Streep, sinken die Chancen auf eine Hauptrolle enorm.

Dass der „fuckability factor“ nicht nur in der Unterhaltungsbranche ein Kriterium darstellt, beweist Caroline Rosales in ihrem autobiografischen Buch Sexuell verfügbar. Als Autorin, Journalistin und Bloggerin schrieb und debattierte sie bereits viel über Gleichberechtigung der Geschlechter und auf welche Weise Mutterschaft das Frauenbild der Gesellschaft prägt. Sexuell verfügbar ist ihr viertes und wohl persönlichstes Buch: Darin spricht sie nicht über Vergewaltigung und andere Arten des Missbrauchs, sondern über Alltagssexismus und die Grauzonen, in die viele Frauen im Laufe ihres Lebens geraten können.

In 17 Kapiteln begleiten die Leser*innen Rosales auf ihrer Reise durch die von ihr treffend benannte „Durchsexualisierungskampagne“ von Frauen, die bereits in früher Kindheit beginnt. Vom Wettkleiden in der Klasse, Kalorienzähl-Apps, den Leiden von Heidi Klums „Mädchen“ bis hin zum Wettstreit, wer zuerst ihre Jungfräulichkeit verliert – die Autorin schildert diese Erlebnisse detailliert und kritisiert sie scharf. Sie nimmt sich das „Spannungsfeld zwischen Erziehung (brav sein) und Sozialisation (leistungsorientiert und sexuell offen)“ vor, in dem junge Frauen bis heute leben. Die Konditionierung von Mädchen nimmt bei Rosales daher besonders viel Raum ein: Jugendzeitschriften wie Bravo oder Bravo Girl bieten mit ihrer Doppelseite zur sexuellen Aufklärung zwar den richtigen Ansatz, doch erhalten Mädchen dort beispielsweise unzählige Tipps, wie sie ihrem Freund den „perfekten Blowjob“ bescheren, noch bevor sie die Strapazen ihrer ersten Periode überstanden haben. Die Antwort auf die entgegengesetzte Frage eines Jungen, wie er seine Freundin oral befriedigen könne, scheint für die Redaktion des Bauer Verlags bis heute keine hohe Priorität zu besitzen. Welche Auswirkungen Print- und andere Medien für das sexuelle Verhalten von Mädchen und Frauen haben, belegt die Autorin mit einer New Yorker Studie. Diese fand heraus, dass Highschool-Schülerinnen Oralverkehr wie Hausaufgaben verstehen, wie eine Fähigkeit, die es zu erlernen gilt, um seine „fuckability“ zu erhöhen – lediglich die gute Bewertung zähle am Ende.

Solche Beispiele der Konditionierung zeigen nach Rosales, wie tief verwurzelt der Irrglaube vieler Frauen sei, sie müssten sexuelle Verfügbarkeit suggerieren, um den Wünschen der Männer zu entsprechen. Nah an ihrer eigenen Geschichte schildert sie unzählige Situationen aus der Kinder- und Jugendzeit, anhand derer sie den zentralen Glaubenssatz ableitet: Es gibt kein weibliches Begehren. Kein eigenes weibliches Wollen – die Anziehung liege darin, „von Männern gewollt zu werden.“ Aus diesem Grund optimierten Frauen „je nach Situation, Nachfrage und anwesendem Gebieter ihr eigenes Ich zur maximalen Attraktivität und suggerieren damit dem Gegenüber ständige positive Bereitschaft.“ Es würde nicht darum gehen, „eine eigene sexuelle lustvolle Erfahrung zu machen, sondern den Mann sexuell zu versorgen.“

Es sei jedoch nur ein Ziel des Frauenlebens, das Objekt der Begierde zu werden – die wahre Kunst bestehe darin, gleichzeitig unabhängig zu sein und Etikette zu wahren. Schließlich wartet am Ende allen Leidens hoffentlich ernstzunehmendes „husband material“, und diese Männer „wollen keine Schlampen.“

Auch wenn Rosales beteuert, dass dieses nichtexistente weibliche Begehren nicht jede Frau betreffe, klingen diese Aussagen äußerst pauschalisierend und man möchte ihnen sofort widersprechen. Denn wer möchte schon gerne auf sich sitzen lassen, man lege keinen Wert auf die eigenen lustvollen Erfahrungen? Doch dann lesen Frauen auf den folgenden Seiten von jenen verpassten Momenten für ein Nein, die sie nur zu gut kennen. Der Moment nach einem vielversprechenden ersten Date, bei dem man es allerdings langsam angehen möchte und dennoch nicht vor einem Kuss zurückweicht – um sein Gegenüber nicht zu kränken und damit ein zweites Treffen schon im Vorhinein zu verhindern. Rosales spricht von dem weitverbreiteten Gefühl, „ein Date zu ernst genommen zu haben und plötzlich in einem privaten Wohn- oder Schlafzimmer zu stehen. Der Aufwand, den Typen jetzt wieder abzumoderieren, ist weitaus höher, als es einfach hinter sich zu bringen. Was ist das Wort dafür? Verlegenheitssex?“ Auch wenn (hoffentlich) nicht jede Frau bereits eine solche Erfahrung machten musste, so regt es das Nachdenken über eigene zurückliegende Erlebnisse an. Denn ein simples „Nein“ fällt in gewissen Situationen eben doch schwerer, als sich den Bedürfnissen des Anderen einfach anzupassen.

Die Autorin legt eine bemerkenswerte Ehrlichkeit an den Tag, indem sie von jenen tiefsitzenden Augenblicken erzählt, die die Meisten wohl nur ihrem Tagebuch anvertrauen und keinesfalls der Öffentlichkeit preisgeben würden. Mit 14 verliebte sie sich in ihre Schulfreundin Ethel, doch mussten die beiden ihre Beziehung jahrelang vor Familie und Freunden geheim halten. Ein katholisches Mädchengymnasium und streng religiöse Eltern waren keine gute Voraussetzungen für ihre Liebe – je länger sie zusammen waren, desto mehr schämten sie sich dafür, dass sie gegen die Regeln ihres sozialen Umfeldes verstießen. An anderer Stelle redet Rosales offen über ihren Tränenausbruch auf der Bürotoilette, weil sie durch die defekte Milchpumpe solche Schmerzen verspürte, dass sie sich nicht imstande sah, weiter zu arbeiten. Offen teilt sie ihre Gefühle, Gedanken und Erkenntnisse und möchte Frauen damit bestärken, ihre eigenen Erfahrungen zu hinterfragen und selbstbestimmt über ihre Wünsche – insbesondere sexuelle – zu sprechen, um ein Bewusstsein für eine neue Weiblichkeit zu schaffen.

Allerdings stößt man in Sexuell verfügbar immer wieder auf Widersprüche in der Argumentation, die irritieren. Einerseits kritisiert Rosales Frauen, die dem gesellschaftlichen Schönheitswahn verfallen sind und alles tun, um den erstrebenswerten Idealkörper zu erreichen, andererseits spricht sie stolz über ihre eigene Brust-OP. Sie hat Freude an Mode, aber eben „auf die gute Weise“ – soll heißen, sie drückt damit Kunst aus, wohingegen andere sich nur den aktuellen Trends anpassen. Einerseits ist von Solidarität unter Frauen die Rede, andererseits übt die Autorin einige Seiten später Kritik an ihren Schulfreundinnen, die sich für Heirat und Kinder und gegen eine Karriere entschieden. Zu ihrem sexuellen Begehren zu stehen, erachtet die Autorin als fundamental, sie nimmt jedoch Anstoß an One-Night-Stands oder Freundschaft Plus, sodass man sich irgendwann fragt: „Was denn nun?“ Und am Ende der Lektüre zweifeln die Leser*innen zu Recht, ob man als Frau in Rosalesʼ Weltbild überhaupt etwas richtig machen kann.

Nach und nach drängt sich der Gedanke auf, dass sie in ihrem Buch mit anderen Frauen äußerst hart ins Gericht geht (an einigen Stellen berichtet sie von „Bitchiness“, „Schmink-Tussis“ und „rosa Zopf-Mädchen“), sich selbst aber auffallend oft aus der Verantwortung zieht. Das wird an einem Kapitel besonders deutlich, das ihre Zeit während und nach dem Studium umfasst.

Mit 25 arbeitete sie in einer Berliner Redaktion, wo sie ihren knapp 15 Jahre älteren Vorgesetzten kennenlernte. Nach mehreren Monaten voller Pressetermine, abendlichen Besprechungen und privaten Telefonaten konnten sie die „eindeutige Anziehungskraft im Redaktionsraum“ nicht mehr leugnen und begannen ein Verhältnis: „ Er fraß mir aus der Hand. Mein Leben, mein junges Ich schienen aufregend für ihn.“ Obwohl er verheiratet und ihre Verbindung „nur für den Moment lebte und toxisch war“, hielt diese ein Jahr, bevor Rosales ein Jobangebot in Asien annahm. In diesem Kapitel spricht sie vom „Reiz, einer gewissen Erotik, mehr aber noch dem Spiel um Macht“, aber auch vom „Altersunterschied, der so etwas Schweres, Depressives hatte.“ Die Doppelmoral hinter dieser Affäre ist schwer zu leugnen, denn zwei Jahre zuvor wurde die Autorin selbst von ihrem langjährigen Freund betrogen. Sie verstand damals nicht, wie jemand seinen Partner betrügen und auf diese Weise verletzen könne und verurteilte ihn. Auch ihr Vater betrog ihre Mutter. Ist sie durch den Perspektivwechsel nun selbst „die andere Frau“, hinterfragt sie ihr Verhalten allerdings kaum, sondern flüchtet sich in Ausreden. Sie sei „dumm, naiv und jung“ gewesen und habe sich von ihrem Geliebten manipulieren lassen – man liest hier vielmehr eine Rechtfertigung als eine Selbstkritik.

Positiv zu bewerten ist jedoch Rosalesʼ ausführliche Recherche, um ihre Aussagen mit wissenschaftlichen Studien und journalistischen Beiträgen zu belegen. Dabei greift sie vor allem auf aktuelle Texte wie beispielsweise Svenja Faßpöhlers Die potente Frau (2017), Sandra Konrads Das beherrschte Geschlecht (2017) oder Moira Weigels Dating – Eine Kulturgeschichte (2018) zurück. Überflüssigerweise streut die Autorin dabei allerdings immer wieder Wörter und Formulierungen wie „as if, OMG“, „die fuckability boosten“, „reallife-Lesben“, „Thirtysomethings“ oder „emotional needy“ ein, die fehl am Platz sind. Der Jugendslang reißt einen schnell aus der Argumentation und der eigenen Reflexion heraus. Ferner wird man mit Großbuchstaben angeschrien, sobald Rosales eine ihrer Aussagen als besonders wichtig erachtet – sie nimmt wohl an, dass die Leser*innen sie nur durch ein Megafon verstehen könnten.

Die Wut der Autorin durchdringt den gesamten Text, doch ist diese auch angebracht. Jedes Mädchen und jede Frau sieht sich früher oder später mit Alltagssexismus konfrontiert und muss sich in Grenzbereichen zurechtfinden, die zwischen Erziehung, Missbrauch und Feminismus liegen. Rosales thematisiert den ständigen Widerspruch im Leben einer Frau: den eigenen „fuckability factor“ für den potenziellen oder tatsächlichen Partner durch Sport, Diäten und sexuelle Verfügbarkeit hoch zu halten und gleichzeitig den mahnenden Rufen von Feminist*innen zu folgen, sich von jeglichem gesellschaftlichen Druck zu befreien. Wir ahnen: Frauen stehen permanent auf Messers Schneide.

Trotz aller Widersprüche und fehlender Selbstreflexion in Sexuell verfügbar ist einigen ihrer Behauptungen definitiv zuzustimmen. Viel wird über sexuelle Belästigung, aber zu wenig über weibliche Selbstbestimmung gesprochen. Frauen sollten den Mut aufbringen, nicht nur darüber zu reden, was sie nicht wollen, sondern über das, was sie wollen. Denn das weibliche Begehren muss mehr ausmachen, als nur von Männern begehrt werden zu wollen.

Titelbild

Caroline Rosales: Sexuell verfügbar.
Ullstein Verlag, Berlin 2019.
286 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783961010202

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