Ein Deutscher transponiert Max Weber in die englischsprachige Welt
Ein Sammelband von Texten des Max Weber-Forschers Guenther Roth ist posthum erschienen
Von Dirk Kaesler
Dieser Sammelband, zusammengestellt vom Akademischen Direktor am Max Weber-Institut in Heidelberg, Steffen Sigmund, ist ein wichtiger Beitrag für die Max Weber-Forschung. Der im Mai 2019 verstorbene Guenther Roth hat die meisten seiner Forschungsergebnisse in Form zahlreicher Aufsätze publiziert. Das Schriftenverzeichnis, das dem hier anzuzeigenden Band beigegeben ist, listet sechs Bücher auf – von denen einige selbst wiederum keine durchgeschriebenen Bücher, sondern Aufsatzsammlungen sind –, zahlreiche Herausgeberschaften und 87 Artikel und Essays, wobei die über 100 Rezensionen aus der Feder von Roth nicht aufgeführt werden. Umso verdienstvoller ist diese Zusammenstellung von insgesamt fünfzehn Beiträgen, die den Publikationszeitraum 1959 bis 2004 umfassen.
Ergänzt wird die nachvollziehbare Auswahl durch eine „Einführung“ aus der Feder des Weber-Forschers und jahrzehntelangen Weggefährten von Guenther Roth, Hubert Treiber, und ein überaus einfühlsames „Nachwort“ des Weber-Forschers Wolfgang Schluchter, mit dem Guenther Roth zahlreiche Publikationen gemeinsam verfasste. Schon dieser beiden Beiträge wegen kann man zu Recht konstatieren, dass wir es mit dieser Sammlung mit einem der vermutlich letzten Dokumente jener Weber-Forschung zu tun haben, die den Versuch unternahm, biographische Rekonstruktionen von Leben, Werk und Wirkung des Universalgelehrten Max Weber mit der Propagierung eines sogenannten „Weber-Paradigmas“ in der internationalen Soziologie durch vielfältige Publikationen zu etablieren. (Albert et al., Hrsg. 2003) Guenther Roths damaliger programmatischer und autobiographischer Beitrag zu diesem Unternehmen – unter dem Titel „Heidelberger kosmopolitische Soziologie“ – wurde erstaunlicherweise nicht in die hier anzuzeigende Sammlung aufgenommen. (Roth 2003)
Insgesamt lässt sich resümieren, dass Guenther Roths unermüdliche Forschungsarbeit mit dem Werk Max Webers untrennbar verknüpft war, auch wenn er diesen deutschen Universalgelehrten erst in seiner US-amerikanischen Zeit näher kennenlernte. Roths wirkmächtigste Leistung auf diesem Gebiet wird für immer bleiben die Erstellung der homogenen Übersetzung von Wirtschaft und Gesellschaft in die englische Sprache, die er – zusammen mit seinem langjährigen Freund und Darmstädter Schulkameraden Claus Wittich – leistete. (Roth/Wittich 1968) Wobei immer darauf hinzuweisen ist, dass die beiden sich auf vorhergehende Übersetzungen stützten, unter anderen von Ephraim Fischoff, Hans H. Gerth, C. Wright Mills, Talcott Parsons, Max Rheinstein und Edward Shils. Die beiden Bände der Roth/Wittich-Übersetzung, zusammen mit der fast 80-seitigen „Introduction“ von Roth, ist bis heute und wird auch in Zukunft die maßgebliche Quelle nicht nur der englischsprachigen Weber-Rezeption bleiben. Erst dieser monumentale Versuch einer möglichst textgenauen Übersetzung des angeblichen „Hauptwerks“ von Weber ins Englische eröffnete neue Chancen zu einer systematischen Auseinandersetzung mit Weber in der angelsächsischen Welt, insbesondere durch Roths detaillierte und historisch genaue Untersuchungen der Kontexte und der familiären Konstellationen, in die Weber eingebunden war. Erst diese Übersetzung ermöglichte ein zeit- und milieusensibles Verständnis der Weberschen Biographie und dessen differenzierten makrosoziologischen Untersuchungen zu Herrschaft, Politik und Kapitalismus.
Insbesondere die frühe Übersetzung durch Talcott Parsons, zusammen mit A. M. Henderson, der ersten vier Kapitel von Wirtschaft und Gesellschaft unter dem Titel Theory of social and economic organization aus dem Jahr 1947 war und ist für viele Missinterpretationen der Weberschen Grundpositionen verantwortlich, so dass ein „De-Parsonizing“ gefordert werden musste. (Cohen, Hazelrigg, Pope 1975). Vor allem Parsons ausführliche Einleitung, in der er Weber als Vorläufer seiner eigenen Theorie des sozialen Handelns präsentierte, erschwerte und erschwert die sachgerechte Rezeption Max Webers im englischsprachigen Raum. So machte erst die Roth/Wittich-Übersetzung eine textgenaue und begrifflich einschlägige Auseinandersetzung mit Max Weber möglich, ungeachtet der Tatsache, dass sehr viele der Begriffe aus den Weberschen Originalfassungen als unübersetzbar gelten müssen, man denke nur an Begriffe wie „Herrschaft“, „Anstalt“, „Berufung“, „Verband“, „Verein“ und viele Webersche Formulierungen. Vor allem die Weiterübersetzungen dieser englischen Roth/Wittich-Fassung in viele andere Sprachen bewirkte dennoch bis heute den weltweiten Siegeszug der Weberschen Vorstellungen von Soziologie, Wissenschaftslehre und Politik. Die Weberschen Schriften und die damit verbundene internationale Weber-Interpretationsindustrie sind schon lange kein deutsches Privileg mehr.
Welche Rolle kann nun dieser Sammelband für die weitere Forschung spielen? Guenther Roth war ein großer und großartiger Vermittler zwischen amerikanischer und deutscher Soziologie. Insofern ist es folgerichtig und angebracht, dass sieben der aufgenommenen Texte in englischer Sprache wiederabgedruckt werden. Ob das allerdings einer deutschen Leserschaft von besonderer Hilfe sein kann, muss bezweifelt werden. Vor allem bei den ausschließlich biographischen und historischen Ausführungen, wie den beiden wichtigen Texten „Weber the Would-Be Englishman: Anglophilia and Family History“ (1993) und „The Young Max Weber: Anglo-American Religious Influences and Protestant Social Reform in Germany“ (1997). Gerade sie wären jedoch für eine deutsche Leserschaft von hervorgehobener Bedeutung, hat Roth doch in diesen Texten – zusammen mit seiner bis heute unübertroffenen Arbeit „Max Webers deutsch-englische Familiengeschichte 1800-1950“ (2001) – Details der Biographie Max Webers herausgearbeitet, die vielen jener Menschen, die heute Webersche Begriffe ständig im Munde führen, von großer Hilfe beim verbesserten Verständnis sein würden.
Wie Roth durch seine Übersetzungen und Aufsätze Weber in die englischsprachige Welt transportiert hat, so hätte ein solcher Sammelband die zusätzliche Chance geboten, einem deutschsprachigen Publikum Details aus der Weberschen Familien- und Milieuwelt durch eine deutsche Übersetzung dieser englischen Texte näher zu bringen.
Wenn man bedenkt, dass der im hessischen Wolfskehlen geborene und in Darmstadt aufgewachsene Soziologe diese enorm bedeutsame Transferleistung erbracht hat, wäre dieser Rücktransport angebracht gewesen. In Erinnerung gebracht und als Nach-Ruf sei notiert, dass Roth sein Soziologiestudium am Frankfurter Institut für Sozialforschung begonnen hatte, wo er den Karl Mannheim-Forscher Kurt Wolff kennenlernte, der ihn für eine Studie über die Entnazifizierung Deutschlands 1953 an die Ohio State University holte. Nach seiner Forschungszeit an der New School for Social Research, wo er die deutschen Emigranten Albert Salomon, Alfred Schütz, Otto Kirchheimer und Frieda Wunderlich kennenlernte, bot ihm Reinhard Bendix 1955 eine Mitarbeiterstelle an der University of California in Berkeley an, die den Beginn seiner Beschäftigung mit dem Werk Max Webers und zugleich seiner überaus erfolgreichen akademischen Karriere in den USA markierte: Professuren an der University of California in Davies, der Stony Brook University New York, der University of Washington in Seattle und bis zu seinem Lebensende an der Columbia University in New York schlossen sich an.
Obgleich kein Emigrant im eigentlichen Sinn, formte sich Guenther Roth – der sehr fuchtig werden konnte, wenn man seinen Namen „Günther“ schrieb – zu einem deutsch-amerikanischen Soziologen und Intellektuellen, dessen gelehrte Meinung im transatlantischen Austausch zwischen den USA und Deutschland vielleicht gerade heute von großem Wert wäre. Umso besser ist es, dass wir nun mit dem anzuzeigenden Band seine Stimme – und die von Max Weber – erneut hören können.
Befangenheitshinweis: Der Rezensent kannte den Autor persönlich gut. Guenther Roth erwies meiner Biographie über Max Weber den akademischen Liebesdienst des überaus gründlichen Lektorats und der unzähligen Verbesserungsvorschläge. Er war es gewesen, der mich aufforderte und ermutigte, keine Fußnoten zu schreiben. Ich war und bin ihm zutiefst dankbar für die vielen Gespräche in seiner Wohnung auf der Upper West Side im Haus mit der Nummer 410 Riverside Drive und für die zahllosen E-mail-Korrespondenzen mit „gr17@columbia.edu“.
Erwähnte Publikationen
Gert Albert, Agathe Bienfait, Steffen Sigmund, Claus Wendt, Hrsg.: Das Weber-Paradigma. Studien zur Weiterentwicklung von Max Webers Forschungsprogramm. Tübingen: Mohr-Siebeck 2003.
Jere Cohen, Lawrence E. Hazelrigg, Whitney Pope: De-Parsonizing Weber: A Critique of Parsons‘ Interpretation of Weber’s Sociology, American Sociological Review (ASR), Vol. 40, No. 2 (Apr., 1975), pp. 229-241.
Guenther Roth: Max Webers deutsch-englische Familiengeschichte 1800-1950, mit Briefen und Dokumenten. Tübingen: Mohr-Siebeck 2001.
Guenther Roth: Heidelberger kosmopolitische Soziologie. In: Albert et al. (Hrsg.), 2003, S. 23-31.
Max Weber: Economy and Society. An outline of interpretative sociology. Edited by Guenther Roth and Claus Wittich. New York: Bedminster Press Incorporated 1968. Seit 1978: University of California Press.
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