Editorisches Löwengebrüll

Joseph Roths „Die weißen Städte“ und „Juden auf Wanderschaft“ in einer neuen Ausgabe

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Joseph Roth hat in den vergangenen Jahren anscheinend vor allem Herausgeber und Verlage in Atem gehalten, so engmaschig werden Texte Roths neu arrangiert und in Sammelbänden präsentiert. Und das, obwohl sie doch – so könnte man meinen – mit der Werkausgabe, die in sechs Bänden zwischen 1989 und 1991 von Klaus Westermann und Fritz Hackert bei Kiepenheuer & Witsch herausgegeben wurde, halbwegs vollständig vorliegen sollten. Nun hat sich auch die Andere Bibliothek an Roth-Texte gewagt und sie unter dem Titel Rot und Weiß vorgelegt, herausgegeben von Volker Breidecker.

Im Kern dieser Ausgabe stehen zwei Texte, an denen Joseph Roth in Frankreich arbeitete, wo er seit 1925 für die Frankfurter Zeitung, anfangs als Korrespondent, tätig war: Die weißen Städte und Juden auf Wanderschaft. Beide Texte bezeichnete Roth selbst gelegentlich als Reisebücher, wobei dies bestenfalls für die Texte über Südfrankreich gelten kann, denen er nicht nur eine hymnische Würdigung in den als Buch geplanten Weißen Städten widmete, sondern auch eine Artikelreihe aus dem mittäglichen Frankreich, die in der Frankfurter Zeitung erschien. Juden auf Wanderschaft hingegen konzentriert sich auf ein Porträt der aus Osteuropa vertriebenen jüdischen Bevölkerung, die allein schon durch ihr Auftreten, ihre Kleidung und die unerhörte Armut, unter der sie litt, in Westeuropa auffiel und auf wenig Wohlwollen selbst ihrer mittlerweile in großen Teilen assimilierten und aufgeklärten Glaubensgenossen stieß. Zu fremd, zu ärmlich waren sie, die da auf einmal nach Westeuropa kamen.

Der Herausgeber des Bandes, Volker Breidecker, versteht beide Texte aus der Kernerfahrung der persönlichen Vertreibung Joseph Roths aus seinem Herkunftsort Brody heraus, den Roth freilich, deutlich weniger spektakulär, für sein Studium in Lemberg verlassen hatte, um es in Wien fortzusetzen. In Wien begann Roth schließlich als Journalist tätig zu werden, was ihn zu einem der großen Feuilleton-Autoren seiner Zeit machte: „Mich liest man mit Interesse“, wie er in seinem Brief an Benno Reifenberg zugleich selbstbewusst und wütend schrieb. Reifenberg, der das Feuilleton der Frankfurter Zeitung leitete, hatte ihm nach nur einem Jahr seine Ersetzung als Frankreich-Korrespondent des renommierten Blattes durch Friedrich Sieburg mitzuteilen.

Das ukrainische Städtchen Brody bildet, wenn man dem umfänglichen Nachwort Breideckers folgen mag, eine unumgehbare Leerstelle in der Biografie und im Werk Roths, das zwar voller autobiografischer Bezüge sei, aber eben den Geburtsort nie beim Namen nenne. Anders gewendet, die biografische Prägung Roths geht nahtlos über in das Werk im Allgemeinen, das Werk verweist auf die ostjüdische Diaspora im Besonderen, wenn nicht die jüdische Unbehaustheit im Ganzen, wie spätestens über den abschließenden Text Roths, Das Autodafé des Geistes aus dem Jahr 1933 sichergestellt wird. Hier geht Roth freilich noch einen Schritt weiter und nimmt eine – im Vergleich etwa zu den Juden auf Wanderschaft – große konzeptionelle Volte, in der er die jüdischen Intellektuellen und die jüdischen Autoren insgesamt als entscheidend für die deutsche Literatur des frühen 20. Jahrhunderts beschreibt. Außerdem re-ethnisiert er das Judentum: Es tauchen auf einmal Halb- und Vierteljuden auf, die in der deutschen Literatur reüssiert hätten. „Blut“ und „Rasse“ werden werden in Roths Text zugleich wieder zu ernsthaft herangezogene Kategorien, was beim ansonsten doch oft so ironischen Roth merkwürdig aufstößt (Ironie lässt sich da nur schwer erkennen). Keine moderne deutsche Literatur also ohne Autoren wie ihn, was man mit Fug und Recht behaupten kann, auch wenn man dem Text Roths so weit nicht folgen mag, dass die moderne Literatur ausschließlich von Autoren jüdischer Konfession stammen soll. Zu offensichtlich ist dieser Text von der Machtübernahme der Nationalsozialisten Ende Januar 1933 geprägt.

Ob die Machtübernahme der Nazis Roths Exilierung erst vollendete, weil er eben seit 1925 in Frankreich lebte oder auf Reisen war, oder als Beginn seines Exils anzusehen ist, bleibt wohl Geschmacksache. Aber seine entschiedene Abwendung von Deutschland hin zur Aufwertung des jüdischen Beitrags zur deutschen Literatur ist irritierend. Wie ernst soll er das gemeint haben?

Breidecker selbst liefert im Übrigen einen Hinweis darauf, dass es schwierig ist, Roth auf ein einziges Paradigma festzulegen, schildert er ihn doch – knapp gefasst – als unzuverlässigen Erzähler, mithin als einen Autor, der weniger an der Faktizität seiner Texte, denn an deren Qualität, anders gewendet an deren „inneren Wahrheit“ interessiert war. Was dann Rollen- und Positionswechsel en masse ermöglicht und im übrigen auch Breidecker Anlass gibt, sämtliche Roth-Mythen gleich mit abzuweisen: Der rote Roth? Der Habsburger Roth? Der Melancholiker Roth? Der Alkoholiker Roth?

Aber das dahingestellt, bleibt mit den Weißen Städten ein hinreißender Text über die Städte des Midi zu lesen, die in ihrem Glanz den Leser/innen in einer Art vor Augen geführt werden, die weniger der Anschauung denn der Ausgestaltung ihres Autors zu verdanken ist. Diese Städte sind ausdrücklich als Sehnsuchtsorte der Kindheit ausgezeichnet, Traumorte, in die der Berichterstatter zurückkehren kann. In ein seliges Reich der Beständigkeit.

Was wundern kann, denn Roth hatte im einleitenden Text von der umfassenden Dynamisierung der Weltverhältnisse geschrieben, mit der alle gewohnten Strukturen zerstört wurden. Das widerspricht dem, was dann folgt. Aber gerade diese Texte sind unerhört beeindruckend. Verbunden ist diese anregende Beschreibung mit immer wiederkehrenden Verweisen auf die Kultur der Menschen, die diese Landschaft und diese Städte bewohnen. Die weißen Städte sind zweifelsohne Sehnsuchtsorte, auch weil sie unverwandelt erscheinen, eine Ursprünglichkeit demonstrieren, die dem haltlosen Modernen ungemein attraktiv erscheinen muss. Womit denn auch das Stichwort gefallen ist, das anzeigt, wo Breidecker eben nicht ohne weiteres zu folgen ist.

Denn das vorgebliche Reisebuch beginnt weniger mit einer Skizze der jüdischen Vertreibung, denn mit einer der Moderne, die eben spätestens mit dem Krieg alles angefasst und zertrümmert hat, was bis dahin als ewig und unveränderlich erschienen sein mag. Der Sturm, der den Zug, in den die bis dahin so selbstgewissen Vormodernen eingestiegen sind, mit einem Mal „in die Weite“ trieb, wohin man vorhatte vielleicht in zehn Jahren abzukommen, treibt eben nicht nur Juden vor sich her, sondern schlichtweg alle, worauf dann der Verweis auf die Generation des Sprechers dieses Buches schließen lässt. Ob hier nun Roth spricht oder nur eine fiktive Instanz mag dahingestellt bleiben. Jeder reiseliterarische Pakt, um die Wendung Philippe Lejeunes aufzunehmen, funktioniert bei diesem Text eh nicht, der sowieso mit den Konventionen des Reisebuchs, wenn nicht des Reiseberichts bricht. Daran vor allem, und eben nicht nur an der überaus frankreichfreundlichen Haltung dieses Textes mag es freilich auch gelegen haben, dass das schmale Buch eben erst mit dieser Edition der Anderen Bibliothek in der Fassung erscheint, die Roth 1932/33 für den Druck bei Kiepenheuer vorbereitet hatte. Zuvor waren die Bemühungen Roths um die Weißen Städte, etwa beim Buchverlag der Frankfurter Zeitung, gescheitert.

Als Vorlage hat Volker Breidecker ein satzfertiges Typoskript Roths zu Rate ziehen können, das im Nachlass zu finden war, der im Deutschen Literaturarchiv in Marbach aufbewahrt wird. Er kann deshalb mit Recht behaupten, die Weißen Städte in einer Fassung vorzulegen, wie sie vom Autor selbst gewünscht war. Breidecker bezieht das auf die Textgestalt insgesamt, die zwar dieselben Abschnitte wie die Ausgabe 1989/91 umfasst, aber vor allem am Anfang um drei Absätze gekürzt ist, denen Breidecker jede Authentizität abspricht. Allerdings widerspricht er auch nicht der Angabe der Werkausgabe, dass deren Textfassung einer nicht mehr bekannten Vorlage folge.

Breidecker nun kann mit gutem Recht das Versprechen geben, mit seiner Vorlage den spezifische Roth’schen Sound wiedergeben zu können, bis hin in die teilweise altertümelnde Wortwahl und eigenwilligen Schreibweisen und Zeichensetzung. Was dann mit einigen kräftigen Watschen für die Editionsphilologen verbunden ist, die eben nicht nur vermeintliche Fehler korrigiert, sondern eben auch mehrere Fassungen der normierten Rechtschreibung auf Roths Texte losgelassen und ihm dabei (beinahe zumindest) den besonderen Esprit ausgetrieben hätten. Außerdem hätten sie Austriazismen und Jiddismen getilgt, etwa das schöne Wort „giltig“ korrigiert.

Nun kann man der Normalisierung historischer Texte durchaus skeptisch gegenüberstehen, sind Rechtschreibung und Zeichensetzung doch für das Verständnis nicht nur trivial – im Übrigen hat die Andere Bibliothek an anderer Stelle, wenngleich aus durchaus nachvollziehbaren Gründen, nämlich bei der Bearbeitung der zeitgenössischen Übersetzung eines Reiseberichts über die Französischen Kolonien von Albert Londres auch selbst in die Textgestalt eingegriffen. Immerhin stammte die für den Band verwendete Übersetzung von Iwan Goll, der als Autor seinerseits einen Namen hat, aber – in diesem Fall – eben nur Zeitgenosse und Übersetzer war.

Anders aber im Fall Roth und bei der vorliegenden Ausgabe, bei der die Sprachgestalt, die er vorgesehen habe, peinlich beachtet worden sei. Beim „Nahen Osten“, den der Herausgeber als peinliche Verschreibung anführt, mag man folgen. Ob man das beim fehlenden Punkt im vorletzten Stück der Weißen Städte gleichfalls will, kann zwar bezweifelt werden. Aber bei Kommasetzung, Großschreibung und Wortwahl spricht vieles für den Vorrang der Vorlage, allein schon deshalb, weil keiner weiß wo aufhören, wenn man einmal mit dem Normalisieren begonnen hat, und sei es im Dienste der Leseausgabe, die es zu zweifelhafter Berühmtheit unter Editionsphilologen gebracht hat. Da seien Reuß und Staengle selig vor.

Allerdings bleibt zu fragen, ob der Schaden, den die Werkausgabe am Text verübt haben mag, am Ende so groß ist, ob also der spezifische Roth’sche Duktus mit den Ein- und Missgriffen wirklich so nachhaltig zerstört worden ist. Eine Stichprobe am Textanfang (nach den vermaledeiten ersten drei Absätzen, die Breideckers Fassung nicht kennt) weist zwar eine Reihe von Abweichungen auf, von denen einige sicherlich den editorischen Eingriffen der Werkausgabe zuzuschreiben sind, etwa die Verwendung des ß, soweit sie vom damala geltenden Duden vorgeschrieben wurde, die in der neuen Ausgabe durchgängig mit Doppel-s geschrieben wird (was ggf. auf die verwendete Schreibmaschine zurückzuführen ist, die dem Autorwillen im westeuropäischen Ausland gewohnte Grenzen setzt; allerdings sind Umlaute gesetzt). Die Kommasetzung, Zusammen- und Großschreibung weicht gleichfalls gelegentlich ab, etwa am Anfang des Lyon-Textes, in dem in der Werkausgabe der „Sonntagnachmittag“, in der Breideckerschen Ausgabe aber ein „Sonntag nachmittag“ erscheint. In einem Fall ist eine umgangssprachliche Kürzung (sehn für sehen) korrigiert worden, was aber in beiden Fassungen uneinheitlich gehandhabt wird. Eine sinnvolle Textergänzung findet sich bei Breidecker, womöglich ein Fehler der Werkausgabe. Die Zahl der Unterschiede ist auf den etwa zwei Seiten, die als Stichprobe genommen wurden, groß genug – aber dass die Eingriffe nicht tolerierbar seien oder der Text Roths durch die Eingriffe entstellt worden wäre, kann man zwar meinen, muss man aber nicht.

Breidecker setzt freilich nicht nur am Textkorpus an, für den er den Roth’schen Segen beansprucht, er liest ihn zudem strikt aus der Perspektive der jüdischen Diaspora heraus. Das führt dann dazu, dass er den Ortsnamen „Progrody“, der in der vorangestellten Erzählung Der Korallenhändler auftaucht und das nächste sei, was klanglich an Roths Geburtsort Brody herankomme, mit den „Pogromen“ in Osteuropa verknüpft sieht (was möglicherweise alle Begriffe, in denen die Buchstabenfolge „ogro“ oder zwei o auftauchen, was als gemeinsamer Nenner zu dienen hat, belasten würde).

Aber damit nicht genug, Breidecker stilisiert Roth zu kaum weniger als dem Urquell aller kreativen Überlegungen seines weiteren Umfelds, etwa auch Walter Benjamins. So lässt Breidecker es offen, ob das in der Einleitung der Weißen Städte verwendete Bild vom „Sturm“, der das „Gefährt“ „in die Weite“ geblasen habe, die eigentliche Quelle für Walter Benjamins neunte geschichtsphilosophische These aus dem Jahr 1940 gewesen sein könnte. Zum Vergleich die Passage bei Benjamin:

Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.

Abgesehen davon, dass man an Roths stilistischer Verschiebung vom Zug zum Gefährt zum möglichen Schiff (Breidecker liest im Gefährt ein Schiff) durchaus herummäkeln darf, fragen „wir“ in der Tat nicht, „ob Walter Benjamin, der mit Fragen des geistigen Eigentums einen ähnlich laxen Umgang wie Bertolt Brecht pflegte, hier eine Anleihe bei Roth gemacht“ hat. Dazu sind die beiden Texte nicht nur inhaltlich zu weit voneinander entfernt, sondern auch zeitlich. Eine mögliche frühe Lektüre des Roth-Textes durch Benjamins hin, gemeinsam durchsoffene oder durchkiffte Nächte her – an denen auch Ernst Bloch und Siegfried Kracauer beteiligt gewesen sein könnten, die sich wohl im Herbst 1926 in Marseille getroffen haben. Vermuten kann man viel, und munkeln erst recht. Soll mithin heißen, bei allem Dank für die Edition der Weißen Städte wäre ein bisschen mehr Understanding und ein weniger starker Selbstbehauptungswillen dem Gesamteindruck förderlich gewesen. So bleibt vom Nachwort Breideckers ein missmutiger Eindruck, was die schöne bis anregende Lektüre der Roth’schen Texte doch deutlich übertönt.

Titelbild

Joseph Roth: Rot und Weiß. Wanderer zwischen Städten.
(Extradruck der Anderen Bibliothek, Band 446).
Ediert und mit einem Nachwort versehen von Volker Breidecker.
AB - Die andere Bibliothek, Berlin 2022.
334 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783847720461

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