Zwischen Weltmachtanspruch und Kriegshysterie
Literarische Sandkastenspiele zum Krieg der Zukunft zwischen 1871 und 1918
Von Wolfgang Bühling
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseLondon im Jahre 1914, Leitartikel der Juli-Ausgabe der Zeitschrift The Strand: Der Führer der U-Boot-Waffe eines fiktiven Staates greift mit einer Handvoll Booten die Handelsflotte Großbritanniens an und zwingt das Königreich per Seeblockade zur Kapitulation.
Die Story ist rückschauend und gerade für Kenner der U-Bootgeschichte beider Weltkriege nicht besonders neu. Erstaunlich ist jedoch, dass diese Novelle mit dem Titel Danger. Being the Log of Captain John Sirius achtzehn Monate vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs geschrieben wurde, wie vom Verfasser Arthur Conan Doyle, dem geistigen Vater der Romanfigur Sherlock Holmes, in seinem Vorwort zur englischen Buchausgabe von 1918 selbst angemerkt. Dabei verfügt der Autor dieser bemerkenswerten Publikation über fundierte Kenntnisse der damaligen U-Boot-Technologie inklusive Bewaffnung. Nahezu prophetisch nimmt er den Verlauf des U-Bootkrieges im Ersten Weltkrieg, insbesondere den 1915 von deutscher Seite deklarierten, bis 1917 allerdings ausgesetzten U-Bootkrieg, der neutrale Schiffe als Angriffsziele einschloss, vorweg. Im Gegensatz zu den tatsächlichen Ereignissen führt der U-Bootkrieg in Arthur Conan Doyles Novelle jedoch nicht zum Kriegseintritt der USA, sondern vielmehr zur Kapitulation des Königreichs.
Dieses und zahlreiche weitere Beispiele militärischer Zukunftsvisionen hat Franz Rottensteiner dem von ihm mitherausgegebenen vielbändigen Loseblattwerk Werkführer durch die utopisch-phantastische Literatur entnommen und in Zukunftskriege in der Science Fiction. Kommentierte Beispiele aus den Jahren 1871–1918 in leicht veränderter Form kompiliert. Man wird die vorliegende Publikation am ehesten als eine in mehrere Kapitel gegliederte, annotierte Bibliographie bezeichnen. Die Erscheinungsjahre der ausgewählten Zukunftsvisionen umfassen die Friedensperiode 1871 bis 1914 und den Ersten Weltkrieg. Die Beiträge, darunter Monographien sowie Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, stammen aus deutscher, britischer und französischer Feder.
Den Auftakt der Sammlung macht die Novelle The Battle of Dorking: Being an account of the German Invasion of England, welche George Tomkins Chesney 1871 unter dem Eindruck des deutschen Sieges gegen Frankreich veröffentlichte und die in Hamburg 1879 in deutscher Übersetzung erschien. Chesney verzichtet dabei – anders als zahlreiche deutsche Gegenstücke – auf geifernden Nationalismus und die Einbeziehung von möglichen oder phantastischen militärtechnischen Innovationen. Seine Zukunftsvision eines deutschen Sieges auf britischem Boden beschränkt sich somit im Gegensatz zu Arthur Conan Doyles technologisch orientiertem Tauchbootkrieg auf strategische und geopolitische Aspekte, die auf zeitgenössischer Kampftechnik basieren.
Das Marinekapitel England als Feind – um die Seemacht umfasst acht Rezensionen, die mit Ausnahme von Arthur Conan Doyles in der vielbeachteten Zeitschrift The Strand veröffentlichten Novelle Tauchbootkrieg von deutschen Autoren verfasst wurden. Sozusagen als deutsches Pendant zur Publikation Doyles versteht sich Gustav Adolf Erdmanns Monographie Wehrlos zur See. Führt Doyle Regierung und Admiralität ein Bedrohungsszenario vor, so fordert Erdmann vermehrte Anstrengungen auf dem Gebiet der Flottenrüstung. In Erdmanns Entwurf eines kommenden europäischen Krieges bleibt Großbritannien neutral, die deutschen Küsten werden von französischen und russischen Flotteneinheiten belagert, das Reich ausgehungert und zu astronomischen Reparationszahlungen gezwungen. Die Forderung nach vermehrter Flottenrüstung findet sich auch in der über 200 Seiten starken Monographie Deutschlands Flotte im Kampf aus der Feder des Marinefachmanns und Korvettenkapitäns Graf von Bernstorff, die im Gegensatz zu Erdmanns Wehrlos zur See realitätsbezogener ausfällt.
Es ist eine logische Konsequenz, dass zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts die „Luftwaffe“ an Bedeutung für Zukunftsvisionen gewinnt. Zunächst werden dem „Zeppelin“ geradezu unüberwindbare und kriegsentscheidende Fähigkeiten vorausgesagt, die sich in der Kriegsrealität 1914/18 als Seifenblasen entpuppen sollten. Nach einigen Erfolgen über England wurden die Zeppeline Opfer der aufkommenden und schließlich in großem Umfang eingesetzten Jagdfliegerei. Nur einer von sieben in Rottensteiners Zukunftsvisionen zitierten Autoren thematisiert das Flugzeug nach dem Entwurf der Gebrüder Wright, das als „Drachenflieger“ mit Lufttorpedos ausgerüstet werden sollte – ein zweifellos zukunftsweisender Ansatz.
Unter der Überschrift „Die weißen Raben in der Zukunftsliteratur“ werden drei Arbeiten vorgestellt, welche das Grauen eines zukünftigen, technisierten Krieges beschwören und als Anti-Kriegs-Literatur zu werten sind, darunter Der letzte Krieg von Arthur Zapp (Berlin 1907). Den Abschluss des Bandes bilden drei Rezensionen von themenbezogener Sekundärliteratur aus den Jahren 1966 bis 1987, darunter Voices Prophesying War: Future Wars 1783–1984 (2. Auflage 1992), das als einschlägiges Standardwerk anzusehen ist.
Im vorliegenden Band scheinen – in analytischer Betrachtung – zahlreiche Facetten der Literatur der Zunkunftskriege vor dem Ersten Weltkrieg und während desselben auf. Da ist einmal die zunehmende deutsche Hysterie unter dem Motto „Gott strafe England“, die sich in stereotyper Weise durch viele der vorgestellten Beiträge zieht, in denen sich die Autoren bezüglich der hasserfüllten Diktion gegenseitig zu übertrumpfen scheinen. Dies wird vor allem in den Beiträgen im bereits erwähnten Marinekapitel deutlich. Es verwundert nicht, dass derartige Publikationen entweder gänzlich anonym erschienen oder aber unter Verwendung von Pseudonymen, von denen Rottensteiner eine Anzahl auflösen konnte. Aus historischer Sicht bemerkenswert ist weiterhin, dass die Publikationen ab den ersten Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts nicht nur mehr von bilateralen Auseinandersetzungen etwa zwischen dem Deutschen Reich einerseits und England oder Frankreich andererseits sprechen, sondern dass nun der Begriff „Weltkrieg“ auftaucht, den August Niemann 1904 erstmals expressis verbis verwendet.
Rottensteiners kommentierte Bibliographie ist, schon für sich allein betrachtet, ein spannendes Kaleidoskop für jeden an der angesprochenen geschichtlichen Epoche Interessierten. Eine weitere Bedeutung gewinnt sie als Anregung und wertvoller Arbeitsbehelf für Militärhistoriker, Soziologen und nicht zuletzt für die Literaturwissenschaft.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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