Kein sicherer Ort. Nirgends

Ulrich Rüdenauers Roman „Abseits“ schafft es, tief in die Atmosphäre eines kleinen Dorfes in den 1950er Jahren einzudringen

Von Werner JungRSS-Newsfeed neuer Artikel von Werner Jung

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Bang saß er in der Bank und blickte hinauf zum Kreuz.“ So beginnt der bemerkenswerte kleine Erstlingsroman des Journalisten und Literaturredakteurs Ulrich Rüdenauer, und es drückt sich darin bereits das ganze Elend dieses verlorenen Jungen aus. Die Leserinnen und Leser werden in die erste Hälfte der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts in ein kleines Dorf irgendwo in der Nähe von Bad Mergentheim versetzt. Überall sind noch Spuren des 2. Weltkriegs vorhanden – meist unsichtbar und vor allem beredt verschwiegen. Der kleine Richard ist das ungeliebte Kind, das bei Onkel und Tante aufwächst, auf dem bäuerlichen Hof hart rangenommen wird und dabei selten wirklich etwas gut machen kann. Einzig noch der Großvater kümmert sich um den Kleinen, zeigt ihm die Natur und vermittelt ein wenig Geborgenheit. Und da ist noch der Werkzeugladenbesitzer Adler, dem Richard zuweilen zur Hand geht, daneben der stumme, debile Jakub, zu dem Richard sich hingezogen fühlt und in dem er gewisse Ähnlichkeiten zu sich selbst bemerkt, jedenfalls äußerliche. So spielt sich diese bedrückend-eingeschränkte Kindheit auf engstem Rayon und lieblos eintönig ab. Dann, 1954, der Gewinn der Fußballweltmeisterschaft, die hier auf dem Dorf – mit mutmaßlich kaum mehr als einem Fernseher – frenetisch gefeiert wird. Wir sind wieder wer! Für Richard hingegen, der unter den raunenden Andeutungen über seine Herkunft und dem Schicksal seiner Eltern immer stärker leidet und über eine Flucht nachdenkt, verdichten sich die Hinweise, dass er ein Bankert ist, ähnlich wie Jakub, über dessen Herkunft Ladenbesitzer Adler das Geheimnis verrät, dass dieser das Kind eines (am Ende dafür gehängten) Fremdarbeiters ist. 

Rüdenauers Erzählleistung besteht nicht zuletzt darin, dass er auf unaufgeregte Weise seinen Erzähler, dem Richard seine Lebensgeschichte Jahrzehnte später anvertraut, diese (soll man sagen: verlorene) Kindheit im klerikalen Dorfmief der 50er Jahre vermitteln lässt. Dabei schafft es Rüdenauer, ganz tief in die Atmosphäre der Zeit einzudringen und ohne erklärende oder interpretierende Erzählerstimme auszukommen, um sich stattdessen auf den begrenzten und beschränkten Horizont des kleinen Richard zu konzentrieren.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Ulrich Rüdenauer: Abseits. Roman.
Berenberg Verlag, Berlin 2024.
192 Seiten, 22 EUR.
ISBN-13: 9783949203947

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