Sehend zum Schauenden werden

Rüdiger Görner beschreibt Oskar Kokoschka als modernen Intellektuellen

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn Leute sehr alt geworden sind, werden sie gern als Repräsentanten ihrer Zeit apostrophiert. Und oft stimmt es sogar, wenn es da etwa heißt: „Ernst Jünger – ein Jahrhundertleben“ oder, wie hier, „Oskar Kokoschka – ein Jahrhundertkünstler“.

Verfasser der Monographie ist Rüdiger Görner, Professor für Neuere Deutsche und Vergleichende Literatur an der Queen Mary University (London). Görner hat sich auf Autoren des österreichisch-ungarischen Kulturraums spezialisiert, darunter Ingeborg Bachmann und Georg Trakl, und er hat bei Zsolnay ein Buch über Rilke herausgebracht („Im Herzwerk der Sprache“, 2004).

Kokoschka ist als Universalkünstler – Maler ebenso wie Schriftsteller – mit langer Lebenszeit (1886–1980) auch ein Kristallisationspunkt für das Jahrhundert. Seine Begegnungen mit ihrerseits prägenden Persönlichkeiten, darunter Alma Mahler-Werfel (beziehungsweise Mahler-Gropius) und tutti quanti der Wiener Moderne, sowie seine „Radikalismen“ haben den Zeitgeist mitgeprägt, sich aber auch oft gegen ihn gestellt. Mit hoher Könnerschaft beispielsweise hat er der grassierenden abstrakten Kunst Paroli geboten: „unablässig warf Kokoschka die Frage auf, ob das Abstrakte human sein könne oder nur ein neuerlicher Verrat“ sei „am humanistischen und damit sichtbar am Menschen ausgerichteten Erbe.“ Es spricht für Kokoschkas Humanität, dass diese Frage für ihn offenblieb – nichts lag ihm ferner als die denunziatorische Manier und Kleingeisterei, die oft jenen entgegenschlägt, die einen intellektualistischen Weg des Selbstausdrucks suchen. Carl Einstein rühmte zwiespältig an Kokoschka die „epigonische“ Meisterschaft, die bemüht sei, „alten Reichtum des Darstellens durch neuartige Empfindsamkeit zu verjüngen.“

Kokoschka, ein Epigone? Zurecht hebt Görner die Intellektualität Kokoschkas hervor, sein Interesse an Sozialwissenschaft, Philosophie und politischer Theorie, an „Physiognomien der Macht“ und an gesellschaftlichem Engagement. Sein sprachliches Bild für Kokoschka ist die „Puppe“, die Stellvertreterin als Projektionsfigur, aber auch die „verpuppte“ Existenz des verfolgten Künstlers (mit Exilstationen in Prag und England sowie dem Schweizer Refugium ab 1953) und schließlich der Matrijoschka, der russischen Schachtelpuppe, die sich, einer Zwiebel nicht unähnlich, nach innen verjüngt. Wir sehen Rüdiger Görner „beim Häuten“ dieser „Zwiebel“, und mit dem „jungen Bildkünstler“ Günter Graß wird Kokoschka einmal auch direkt verglichen. Ich freilich kann Graß als bildenden Künstler so hoch nicht schätzen, als dass ich diesen Vergleich gutheißen würde, aber es geht hier zentral um den nagenden Zweifel am Sinn der Abstraktion, der beide Schriftstellerkünstler umgetrieben hat.

Die skandalisierende Wirkung des frühen Kokoschka kann man sich heute kaum mehr erklären. Und man tut gut daran, sich die Exponate vor Augen zu führen, die im Wien der Frühen Moderne Skandal gemacht haben, die damals „frivol“ wirkten, aber von heute aus als „schlicht wahr“ und wahrhaftig wahrgenommen werden. Kokoschka war mit seiner Kunst, seinem literarischen und essayistischen Werk sowie mit seiner Autobiographie ein gewissermaßen „synthetischer“ Künstler in dem Sinne, dass ihm Verknüpfungen von Alt und Neu, expressiv und surreal, von Konkretion und Abstraktion, von absoluter und engagierter Kunst gelangen. Dies macht der Verfasser etwa dort deutlich, wo Kokoschka sein Publikum brüskierte – mit „absurdem Theater“ (bevor sich das als Genre etablierte) und „furchterregender“ Plakatkunst etwa.

Im ‚Dritten Reich‘ als „Kulturbolschewist“ verfemt, zog der Mann von funfzig Jahren Zwischenbilanz: Seine Kunst galt fortan als „entartet“, wie das Schlagwort Max Nordaus lautete, das unter Hitlers Schreckensherrschaft zum Totschlagwort wurde. Kokoschka geißelte 1937 die Infamie der Münchener Ausstellung „Entartete Kunst“, in der auch er vertreten war: Sein Gemälde „Die Auswanderer“ (aus der Hallenser Moritzburg-Sammlung 1937 beschlagnahmt) fand 1939 ein Asyl in der Sammlung Fohn; es zählt zu Kokoschkas Meisterwerken seiner Dresdener Zeit. Bange Jahre sollten ihn fortan von seinen künstlerischen Wurzeln abschneiden: „überall ist es gleich unsicher, unangenehm und gleich einladend zum Selbstmord.“

Wenn Görner Kokoschkas Bilder wortmalend beschreibt, lohnt es sich, die Objekte „barocker Augenlust“ hervorzusuchen (Peter Sager), denn ein Bildteil fehlt hier (ebenso wie ein Namensregister). Es sind raumgreifende Würdigungen, die des Augenscheins bedürfen.

Hat Kokoschka sich überlebt? Fast könnte man eine Kapitelüberschrift dieser Darstellung so deuten; „In Comenius’ Namen: Ein Nachleben zu Lebzeiten“. Aber das wäre irreführend und kunsthistorisch falsch: Kokoschka, in umfassenden Retrospektiven der Nachkriegszeit vielfach gewürdigt, blieb „bis weit in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts ein Magnet […] des weltweiten Kunstbetriebes.“ Und der junge Thomas Bernhard bewunderte einst ein Porträt von Pablo Casals, das im Sommer 1955 in einer Salzburger Ausstellung von Kokoschkas „neuesten Werken“ gezeigt worden ist: „Hier ist die Farbe zur Philosophie und die Philosophie zur Frage des Menschen geworden.“

Titelbild

Rüdiger Görner: Oskar Kokoschka. Jahrhundertkünstler.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2018.
336 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783552059054

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch