Was bleibt ist die Erinnerung?

In ihrem Debütroman „Bei den großen Vögeln“ beschreibt Annina Haab den Abschied einer Enkelin von ihrer Großmama

Von Miriam SeidlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Seidler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Umzug ins Pflegeheim leitet unwiderruflich die letzte Station im Leben eines Menschen ein. Meist ist die Entscheidung für ein Leben in einer Einrichtung für Senioren durch äußere Umstände wie eine Erkrankung bestimmt, die das Leben in der eigenen Wohnung nicht mehr erlauben. Der Beginn des letzten Lebensabschnittes macht zugleich den Angehörigen bewusst, dass der Abschied für immer in nicht allzu ferner Zukunft bevorsteht. Die Schweizer Autorin Annina Haab konfrontiert in ihrem Debüt ihre Ich-Erzählerin mit dieser Situation: Die Großmama – von der Erzählerin nur liebevoll Ali genannt – möchte nach einer Leberzirrhose ihrer Familie nicht zur Last fallen und entscheidet, nicht mehr in ihre Wohnung zurückzukehren, sondern direkt in ein Pflegeheim überzusiedeln. 

Der nun scheinbar schneller fortschreitende Altersprozess der 90-Jährigen, die ungewohnte Umgebung und die verschiedenen Anzeichen von Ver-rücktheit der anderen Bewohnerinnen lassen die junge Frau mit dem neuen Alltag von Ali hadern. Sie wehrt sich gegen das Schicksal, stellt sich und der Familie die Frage, ob man es nicht hätte wagen sollen, Ali selbst zu pflegen. Die Zweifel, ob die professionelle Pflege den Bedürfnissen der Angehörigen tatsächlich gerecht werden kann, kennen viele Familien. Doch nur von wenigen kann die Pflege Zuhause tatsächlich geleistet werden. Die alte Dame, die selbst ihren Mann und nach seinem Tod ihre Schwiegermutter jahrelang gepflegt hat, möchte der Familie diese Last nicht aufbürden. 

Der Plot, den Annina Haab für ihren Debütroman wählt, ist ein alltäglicher. Die Art und Weise, wie sie ihn erzählt, zeugt von einem großen Einfühlungsvermögen in ihre Figuren. Sie fängt den Versuch der Enkelin, die Nähe zu Ali aufrecht zu erhalten ebenso wie deren Angst vor dem Verlust der wichtigen Bezugsperson mit gefühlvoll geschilderten Szenen ein. Die Sätze sind recht einfach gehalten. Kurze Hauptsätze und lang aneinandergereihte Nebensätze wirken wie ein rhythmisch gegliederter Strom von Assoziationen. Die Suche nach den passenden Worten lässt erahnen, wie schwer es manchmal für die Generationen ist, eine gemeinsame Sprache zu finden. Kapitelüberschriften wie „wir sagen: Altsein ist keine Krankheit“ oder „kein Zimmer für sich allein“ wirken auf den ersten Blick wie Allgemeinplätze, bei näherem Hinsehen sind es oftmals kleine Bedeutungsverschiebungen, die den Blick für die Welt des Alterns neu öffnen, da die Enkelin sie mit einem unverstellten Blick erkundet. 

Haab verschweigt – gerade wenn es um den körperlichen Degenerationsprozess geht – nicht, wie schockierend für einen jungen Menschen die erste Konfrontation mit Altern und Sterben eines nahen Angehörigen ist. Der Versuch der Ich-Erzählerin, körperlich-emotionale Nähe herzustellen und so der Großmutter so lange wie möglich nahe zu sein, ist aber nicht Schreibanlass für die Enkelin. Sie möchte die Geschichte von Ali, ihre Erinnerungen an die Großmutter und deren bewegtes Leben bewahren.

Ali selbst weigert sich, ihre Erinnerungen aufzuschreiben und delegiert dies an die Enkelin. Diese merkt bald, dass Ali nicht bereit ist, chronologisch und wahrheitsgetreu zu berichten. Sie erzählt Anekdoten, teilt eine Erinnerung, die ihr spontan in den Sinn kommt, antwortet ab und an auch auf Fragen. Viele Leerstellen können aber nicht mehr gefüllt werden – auch weil die alte Frau oft müde ist, andere Familienmitglieder zu Besuch sind oder ganz einfach kein Raum für ungestörte Gespräche zur Verfügung steht. So muss sich die Enkelin selbst an die Biografie der Großmama annähern. Die Zeit als Dienstmädchen in England und das Kennenlernen des späteren Ehemanns werden als Binnenerzählungen in den Textfluss eingefügt. Immer wieder muss die Ich-Erzählerin aber feststellen, dass ihre Erinnerungen nur wage sind und sie die wirklichen Gefühle der jungen Frau nicht festhalten kann. Reflexionen über die Grenzen der narrativen Annäherung an das Leben eines nahen Angehörigen durchziehen den Roman. So zweifelt die Erzählerin beispielsweise, wie sie das Ende der ersten Anstellung in London bei einem Arzt beschreiben soll: 

Ali hat sich dem Arzt nicht weiter verpflichtet gefühlt, weil er sich distanzlos zeigte. Eigentlich, weil er sie abends in ihrem Schlafwartezimmer bedrängt hat. Ich bin nicht mehr sicher und möchte genau hier nichts Falsches sagen, aber ich glaube, mich an Alis Erzählung dieser Begebenheit zu erinnern, nicht aber an die genauen Worte, was mich misstrauisch macht, weil Erinnerungen im Kopf ja biegsam sind, und nachzufragen habe ich mich bisher nicht getraut, weil ich nicht weiß, wie.

Bereits in der Verwendung der Sprache zeigen sich die Bedenken der jungen Frau. „Sich jemandem verpflichtet fühlen“ – „sich distanzlos zeigen“ – die Redewendungen irritieren, handelt es sich doch nicht um Ausdrucksweisen, wie man sie von einer Frau Anfang 20 erwartet. Die Worte, die Ali für die Erzählung der Begebenheit wählen würde, schleichen sich in den Sprachgebrauch der Enkelin und lassen so auch auf lexikalischer Ebene die enge Verbundenheit der beiden Frauen erahnen. Dennoch ist die Erzählerin verunsichert: Wenn das, was wir erinnern, wesentlich mehr über uns und unsere Weltwahrnehmung aussagt, als über die Person, mit der die Erinnerung verbunden ist, dann kann der Versuch, eine Lebensgeschichte in Erzählungen festzuhalten, nicht gelingen.

Wie sehr das familiäre Gedächtnis durch die emotionale Bindung an die Großeltern beeinflusst wird, hat unter anderem Harald Welzer in seiner Untersuchung Opa war kein Nazi gezeigt. In dieser Schweizer Familiengeschichte spielt der Nationalsozialismus nur am Rande eine Rolle. Die Großmutter stellt für die Enkelin vielmehr eine bewundernswerte Persönlichkeit dar, die aus der Enge der Familie früh ausgebrochen ist, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Dass es der Enkelin dabei nicht gelingen kann, ein wahrhaftiges Bild zu zeichnen, wird ihr im Lauf der Erzählung immer mehr bewusst.

„was wir erinnern, erinnert an uns“, lautet folgerichtig eine Kapitelüberschrift. Und so ist Bei den großen Vögeln kein ungewöhnlicher Pflegeheimroman, sondern der Bericht vom Erwachsenwerden einer jungen Frau, die in der Begleitung der Großmutter auf ihrem letzten Lebensabschnitt nicht nur viel über das Leben und Ali erfährt, sondern die auch eine wichtige Selbsterfahrung macht: Das, was einen geliebten Menschen ausmacht, kann man nicht in Worte fassen, da die Sprache die Distanz vergrößert, die die Erzählung überwinden soll. Was bleibt, ist die Hoffnung, sich auf Gefühle und Erinnerungen verlassen zu können, die im Alltag allgegenwärtig sind, und auf die fremden Worte, die sich in unsere eigene Sprache verirren, wenn wir von geliebten Menschen erzählen. 

Titelbild

Annina Haab: Bei den großen Vögeln.
Berlin Verlag, Berlin/München 2021.
288 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783827014276

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